Es gab Menschen, von denen konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es sie wirklich gab.
Menschen, die so in ihrer eigenen Welt lebten, dass sie auf ihre Umwelt allerhöchstens befremdlich und vollkommen rücksichtslos wirkten.
Blind für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen saßen sie mit einer Statur von geschätzt nicht einmal siebzig Kilo schlaksig verteilt auf gut einen Meter achtzig in der zum Bersten vollen Straßenbahn und belegten zwei Sitze.
Von dem vollgepackten Aktenkoffer neben ihm abgesehen, musste das nicht sein. In der Gepäckablage über ihm war genügend Platz. Jeder normale Mensch würde diese dafür nutzen.
Alfred hatte das Gefühl, in der nächsten Kurve gegen einen der anderen stehenden Menschen zu prallen und sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Etwa einhundert Kilo verteilt auf nur knapp einen Meter achtzig würden die anderen Fahrgäste vermutlich stören, wenn sie auf dem Boden lägen. Außerdem besaß Alfred Wunderlich bei solchen Kleinigkeiten einen fast schon übertrieben ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.
Der blutjunge Mann hätte ohne Probleme stehen und seinen Platz der gebrechlich wirkenden Dame neben Alfred anbieten können.
Als aber an der nächsten Haltestation jemand aufstand und sich durch die Stehenden zwängte, wandte sich eben diese ältere Frau besorgt an Alfred:
„Setzen Sie sich bitte, junger Mann! Sie sehen blass aus, ist Ihnen nicht wohl?“
Soweit kam es noch! Alfred raufte sich innerlich das Haar, lächelte die Frau an und deutete diskret auf den freien Sitz.
„Nicht doch. Das ist ausgesprochen freundlich, aber es geht mir gut. Ich bitte darum, dass Sie Platz nehmen!“
Sie sah ihn zweifelnd an, schenkte ihm ein dankbares Lächeln und ließ sich mit einem Aufatmen auf das Polster sinken.
Den rücksichtslosen Jungspund schien das nicht zu interessieren.
Alfred hatte längst mitbekommen, dass ihn vor allem ältere Damen als charmant erachteten. Ihn dabei als „jungen Mann“ zu bezeichnen, klang in seiner derzeitigen Verfassung mit den tiefen Furchen im Gesicht und den dunklen Ringen unter seinen Augen aber nach bloßer Höflichkeit.
In solchen Situationen fühlte er sich mit seinen vierzig Jahren erstaunlich alt.
Sein Blick lag wieder auf dem jungen Mann mit seinem Koffer. Unberührt von den jüngsten Ereignissen, vermutlich hatte er sie nicht einmal wahrgenommen, sah dieser aus dem Fenster, cremte sich fast schon demonstrativ gründlich die Hände ein und wippte beschwingt mit dem Bein.
Das Kabel von seinem neumodischen Telefon zu den Stöpseln in seinen Ohren schottete ihn komplett von der Außenwelt ab.
Alfred war machtlos gegen die Wut, die in ihm aufstieg.
Es war gar nicht einer dieser typischen Halbstarken, die noch nicht einmal die Güte besaßen, ihre furchtbare Musik leise und für sich zu hören.
Der Aktenkoffer sprach zumindest in Alfreds Augen von einem Mindestmaß an geistiger Reife. Das scheinbar ordentlich gebürstete Schuhwerk aus schwarzem Leder ließ beinahe darauf schließen, dass Alfred sich im Schätzen seines Alters vertan hatte.
Lediglich die jugendlichen Gesichtszüge passten nicht so ganz in das Erscheinungsbild mit dem hellen Hemd, der dunklen Stoffhose und dem kinnlangen, penibel gescheitelten Haar. Trotzdem, ein rücksichtsloser Jungspund, der eindeutig keine Erfahrungswerte im Leben vorzuweisen hatte. Wäre er nämlich nicht noch gänzlich grün hinter den Ohren, würde er sich mit Sicherheit nicht derartig egoistisch in der Öffentlichkeit verhalten.
Insgeheim tippte Alfred in einem Anflug von Wunschdenken auf einen Referendar des Gymnasiums, das von der übernächsten Haltestelle aus gut zu erreichen war. Dann würde er nämlich aussteigen und es wären gleich zwei Plätze frei. Nur ein bisschen schämte sich Alfred, die Dame angelogen zu haben. Es war eine Notlüge im Sinne der Höflichkeit gewesen, dennoch war ihm bei weitem nicht wohl gerade.
Ihm war schwindlig, vor seinen Augen tanzten kleine schwarze Punkte und er hatte das Gefühl, als würde sich ihm gleichzeitig der Magen umdrehen und die Schwerkraft dreimal stärker als sonst auf seine Schultern drücken.
„Entschuldigen Sie“, wandte er sich schließlich in einem Anflug von Mut und Verzweiflung gleichermaßen an den jungen Mann mit dem Koffer.
Alfred hatte wenig Einfluss darauf, wie zittrig und dünn seine eigene Stimme klang, ganz entgegengesetzt zu der fordernden Wut, die er empfand.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“
Er hatte geplant, dem jungen Mann einiges an den Kopf zu werfen, sollte er sich dafür entscheiden, ihn anzusprechen.
Ja, er hatte gar die Intention gehabt, ihn alles Mögliche und Unmögliche zu schimpfen, doch letzten Endes lief es auf diese Frage hinaus. Gut gemacht, Alfred. So vertritt man nicht gerade seinen durchaus gerechtfertigten Standpunkt. Die Höhe jedoch war, dass der Mann nicht einmal aufsah. Alfred klammerte sich an der Rückenlehne des Sitzes fest, nahm einen tiefen Atemzug und tippte ihm diskret auf die Schulter.
Sofort zuckte er zusammen, fuhr herum und starrte ihn entgeistert an.
Alfred blickte in große schwarze Augen, der verwunderte scheue Blick darin nahm ihm für einen Moment den Atem.
Erst mehrere Sekunden von Alfreds Leid später kam der Fremde auf die Idee, die Stöpsel aus den Ohren zu ziehen.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, fragte Alfred erneut, diesmal zwar atemlos, aber doch mit gewissem Nachdruck und er schaffte es beinahe, seine Stimme schneidend und streng klingen zu lassen.
„Selbstverständlich“, sagte der Mann und seine Mundwinkel zuckten kurz, als würde er sich zumindest bemühen, zu lächeln.
Alfred wartete einen Moment. Für einige Augenblicke sahen sich die beiden einfach nur an und das Fiepen in seinem linken Ohr wurde stärker.
Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Wie war es möglich, dass ein einzelner Mensch als eine derartig umfassende Katastrophe geraten war?
Er war ungewöhnlich schön für einen Mann mit seinen makellosen Zügen und der porzellanweißen Haut, aber in diesem adretten Köpfchen schien nicht viel los zu sein, denn der Fremde schien doch gar etwas verwundert, als Alfred schließlich schnaufte und ihn dann schließlich doch ins Bild seiner grenzenlosen Ignoranz rückte:
„Der Koffer!“
Tatsächlich fiel der Blick des Mannes sogleich auf seinen Aktenkoffer, als würde er gar nicht zu ihm gehören. Es dauerte einige weitere Momente, bis er erstaunt die Augenbrauen hob.
„Oh pardon! Natürlich.“
Dann sprang er abrupt auf, um das Gepäckstück vom Sitz zu nehmen und auf die Ablage zu hieven. Alfred konnte es nicht fassen, doch er wollte es mittlerweile auch gar nicht mehr fassen.
Er war lediglich erleichtert, als er endlich auf den freien Platz neben diesem absurden Mann sinken und wenigstens für ein paar Minuten erschöpft die Augen schließen konnte. Ihm war, als würde er trotz der deutlichen Entlastung für seinen Körper jeden Moment ohnmächtig werden.
Er schien sogar schon zu fantasieren; eine Nahtoderfahrung sicherlich, denn für einen Augenblick war er sich sicher, noch Brahms' Deutsches Requiem zu vernehmen, bevor sich der penetrante Duft von Lavendel über seine Sinne legte.
„Nächster Halt: Karlsplatz!“
Die Bandansage aus den Lautsprechern in der Bahn ließ Alfred hochschrecken und er hatte kaum Zeit, sich wieder zu besinnen, nachdem er offensichtlich entweder tatsächlich bewusstlos geworden oder kurz eingenickt war.
Er hatte mehrere Haltestelle verpasst und musste sich erst einmal sammeln. Das Schwindelgefühl war nun weitaus weniger bedrückend, doch noch bevor er wirklich wieder wach war, rührte sich der Mann neben ihm.
„Verzeihung, aber ich muss hier aussteigen.“
Er war schon im Begriff, sich hastig an Alfred vorbeidrängen zu wollen, als dieser sich dazu imstande sah, sich zu erheben.
„Das muss ich ebenso“, murmelte er mehr zu sich selbst und wusste dabei noch nicht einmal, was in ihn gefahren war, dass er sich ohne weiter darüber nachzudenken nach oben streckte, um den Aktenkoffer aus der Gepäckablage zu nehmen und ihn seinem Besitzer in die Hand zu drücken.
„Ich danke sehr“, sagte der Mann und wandte sich um.
„Gern geschehen“, sagte Alfred und folgte ihm.
Die beiden stiegen aus und die Straßenbahn fuhr kurze Zeit später wieder ab. Alfred nickte dem Mann kurz zu und machte sich auf den Weg zur Oper.
„Auf Wiedersehen!“, sagte Alfred und ging hastigen Schrittes seines Weges.
Das sagte man ja so, er persönlich legte keinen Wert darauf, diesem Mann irgendwann noch einmal zu begegnen.
„Einen angenehmen Tag noch!“, sagte der Mann und folgte ihm in einem ähnlich hektischen Tempo.
Ein paar Mal wandte Alfred sich unauffällig um, aber der junge Mann mit dem Koffer lief ihm eindeutig immer noch hinterher. Es dauerte einige Momente, bis Alfred dämmerte, dass der Fremde ihn womöglich gar nicht zum Narren halten wollte, sondern tatsächlich einen ähnlichen Weg hatte.
Schnell begutachtete er den schweren Koffer erneut, um sich zu vergewissern. Aber er war bestimmt nicht von Sinnen, es war in keinem Fall ein Instrumentenkoffer und nicht einmal einem derartig seltsamen Mann traute er zu, dass er darin ein solches verwahrte.
Er beschloss, sich keine weiteren Gedanken mehr über den Mann zu machen, als sich ihre Wege an der Pforte trennten, wo Alfred einen Blick darauf erhaschen konnte, dass sich der Mann lediglich an die Information wandte. Jetzt wurde er dank dieses seltsamen Mannes wohl auch noch paranoid? Nein, das konnte Alfred sich nicht leisten und würde es auch unter keinen Umständen zulassen.
Mit einem tiefen Seufzen schüttelte er den Kopf und besann sich darauf, nun vielleicht endlich zu seinem normalen Alltag zurückkehren zu können.
Es waren exakt diese Tage, an denen sich Alfred wünschte, in seiner Jugend doch die Führerscheinprüfung abgelegt und sich ein Auto angeschafft zu haben.
Manche Menschen waren einfach unmöglich.