Eigentlich hatte sich Darius gewünscht, dass Kristian sich längst aus dem Staub gemacht hätte, wenn er am nächsten Morgen verkatert und vollkommen orientierungslos aufgewacht wäre.
Sicherlich hätte er sich gefragt, ob er sich das alles eingebildet hatte und gehofft, dass es nur ein sehr, sehr skurriler Traum gewesen war.
Allerdings schien es nun unmöglich für ihn, überhaupt in den Schlaf zu finden.
Während er umgeben von wohliger Wärme auf dem gemütlichen Sofa lag und Kristians gleichmäßigen Atemzügen lauschte, starrte er an die Wohnzimmerdecke und stellte einmal mehr seine gesamte Existenz infrage.
Was hatte er getan? Wie hatte das passieren können?
Warum um alles in der Welt hatte er sich darauf eingelassen?
Kristian hatte ihn lediglich nach Hause bringen wollen. Doch irgendwie hatte Darius schon auf der Autofahrt geahnt, dass er sich damit nicht zufrieden geben würde. Sich von ihm noch die Treppen nach oben begleiten zu lassen, hatte sich mit der momentanen Kreislaufproblematik durchaus nach einer vernünftigen Idee angehört. Ihm noch etwas zu trinken anzubieten, war pure Höflichkeit gewesen.
Dass sie kurze Zeit später aber geradezu übereinander herfallen würden, als hätten sie einander ehrlich vermisst und die Trennung ganz spontan doch noch einmal überdacht, war nicht geplant gewesen und würde keine Zukunft haben.
Aber wem wollte er überhaupt etwas vormachen?
Es hatte sich in diesem Moment gut angefühlt. So bekannt, so gewohnt, so vertraut. Und doch so abgrundtief falsch, dass Darius es nach wenigen Augenblicken bereits bereut hatte und nun gegen die wieder aufkommende Übelkeit ankämpfte.
Was um alles in der Welt war in ihn gefahren?
Nichts konnte rechtfertigen, dass er das getan hatte. Es war wiederum nur gerechtfertigt, wie bescheuert und absolut widerlich er sich nun fühlte.
Egal wie sehr er die Gedanken zur Seite schieben wollte, er konnte nicht einmal beginnen, über all seine Fehler nachzugrübeln, denn das einzige, was ihm immer und immer wieder ins Bewusstsein kam, war Alfred.
Alfred, ausgerechnet Alfred, der mit dieser ganzen Sache absolut nichts zu tun hatte und dem sicherlich herzlich egal war, mit wem Darius das Bett oder in diesem Fall die ausgezogene Couch teilte.
Er fühlte sich, als hätte er diesen wunderbaren, warmherzigen Mann mit dieser törichten Aktion nach Strich und Faden verraten – und das ergab absolut keinen Sinn. Denn selbst wenn Darius sich eingestand, dass er womöglich wirklich ein bisschen oder gar ein bisschen mehr sogar für ihn schwärmte, war nicht nur die Sache mit Kristian nun wahnsinnig ernüchternd.
Es hatte auch absolut niemand behauptet, dass die geringste Chance bestand, dass Alfred ähnlich fühlte.
Vielleicht hatte diese Nacht das alles mitnichten komplizierter gemacht, sondern erstaunlich vereinfacht. Was auch immer da gewesen war, was auch immer ihn die letzten Tage beschäftigt und von der Arbeit abgelenkt hatte, es hatte nun einfach keine Bedeutung mehr.
Er hatte es kaputt gemacht, hatte beendet, was noch nicht einmal angefangen hatte. Er hatte Alfreds Vertrauen gebrochen, noch bevor er es erlangt hatte. Er hatte alles zerstört, noch bevor es überhaupt existiert hatte.
Vielleicht hatte er es ihnen beiden damit wirklich erstaunlich einfach gemacht.
Aber Darius hatte nicht vergessen, dass diese ach so komplizierte Sache genau der Grund gewesen war, warum er die Proben und das Konzert durchgezogen und am Ende gemeistert hatte. Wie könnte er auch vergessen, dass es genau Alfred gewesen war – und alles, was er sich zwischen ihnen erhofft oder eingebildet hatte – der ihn hatte weitermachen lassen, der ihn am Leben gehalten hatte.
Und was zuerst noch so vernünftig und angebracht geklungen hatte, fühlte sich so schrecklich falsch und niederschmetternd an, dass Darius nicht verhindern konnte, dass ihm verzweifelte Tränen in die Augen stiegen.
Jetzt im Nachhinein wurde es ihm bewusst. Er hatte die Wahl gehabt, hatte sich entscheiden können. Er hatte den einfachen Weg des geringeren Widerstandes gewählt, anstatt sich einer neuen Herausforderung zu stellen.
Er hatte Kristian in diesem Moment Alfred vorgezogen und sei es noch so unglücklich gelaufen, egal wie unfreiwillig es begonnen hatte, er hatte sich doch dafür entschieden, wenngleich er sich einreden wollte, dass es unbewusst geschehen war.
Aber man konnte nicht aus Versehen mit jemandem die Nacht verbringen.
Schon gar nicht, wenn es sich dabei um einen Verflossenen handelte, von dem er sich viel weniger getrennt hatte, als dass er mehr vor ihm geflohen war.
Er hatte einen Menschen, von dem er wusste, dass er ihm nicht gut tat, einem Menschen vorgezogen, dem er nicht nur alles zu verdanken hatte, was er hier in dieser kurzen Zeit bereits erreicht hatte, sondern der auch immer unterstützend und gut zu ihm gewesen war.
Natürlich war es einfacher gewesen, in Kristians Armen nach Trost zu suchen. Es war um einiges einfacher, auch nach all den vergangenen Ereignissen zu ihm zurückzukehren statt sich auf etwas Neues einzulassen, das entweder sowieso nie zustande kommen würde oder so viel Kraft kosten würde, um es aufzubauen.
Darius hätte kein Problem damit, sich einzugestehen, dass die Sache mit Kristian nie funktioniert hatte und auch nie funktionieren würde.
Mit diesem Schmerz konnte er umgehen, das hatte er jahrelang getan.
Doch Alfred zu verlieren tat zu diesem Zeitpunkt nach lediglich ein paar Tagen gemeinsamer Zeit sicher weniger weh, als wenn die Sache noch eine Weile lang weitergelaufen wäre und er sich hoffnungslos in seinen Gefühlen verloren hätte.
Darius wurde es so schmerzlich bewusst: Er war nicht nur ein Feigling, sondern einfach nicht stark genug. Und doch redete er sich ein, dass es so besser war, lieber früher als später alles hinschmeißen, bevor er noch mehr Schaden anrichten würde.
Er war Alfred Wunderlich auf privater Ebene weder Rechenschaft noch Treue schuldig, sie kannten sich noch keine ganze Woche lang und er war ein freier Mann, der verdammt nochmal schlafen konnte, mit wem auch immer er wollte.
Zumindest in der Theorie, denn beim bloßen Gedanken daran, wie unendlich er Alfred nun enttäuscht und verletzt hätte, wäre von seiner Seite aus nur das geringste Erwidern des Interesse vorhanden gewesen- Darius bekam keine Luft mehr, er rang panisch nach Atem und hielt sich verkrampft an der Zudecke fest.
Es war, als würde er aus einem wunderschönen Traum wieder in der bitteren Realität landen. Was machte er sich vor? Er konnte nicht davonlaufen.
In einer Nacht- und Nebelaktion seine Sachen packen und nach Wien fahren, um von diesem Mann endlich loszukommen, damit er sich kopfüber gleich wieder ins nächste Verderben stürzen konnte.
Es war nicht wie im Märchen, wo er in einer überfüllten Straßenbahn zufällig vom Mann seiner Träume angesprochen wurde, der sich trotz Aktenkoffer einfach neben ihn setzte und fortan alle Hürden und Hindernisse nahm, nur um sämtliche Probleme aus der Welt zu schaffen, die zwischen ihnen standen.
Vielleicht sollte Darius langsam mal erwachsen werden.
Ja, es war schön gewesen, sich einzubilden, dass es irgendwann einmal anders sein könnte. Es war eine traumhafte kleine Parallelwelt gewesen, in der er sich Alfred in winzigen Schritten schüchtern angenähert hatte. Vorsichtig und langsam, weil dieser Mann ihn von Anfang an so wahnsinnig fasziniert hatte und er es nicht sofort wieder hatte kaputt machen wollen.
Doch scheinbar war er darin einfach immer noch verdammt gut.
Darius schnappte verzweifelt nach Luft, es fühlte sich an, als würde er an den ungeweinten Tränen ersticken, die er nicht einfach fließen lassen konnte. Es schnürte ihm die Kehle zu, wie aussichtslos mit einem Mal wieder alles schien.
Erst als es draußen hell wurde, bemerkte er, dass er in seinem Kampf doch irgendwann in einen unruhigen Schlaf gefallen sein musste, denn er kam erst wieder benommen zu sich, als die Wohnungstür gerade ins Schloss fiel.
Noch immer vollkommen entblößt stolperte Darius ins Badezimmer und schaffte es gerade noch bis zur Toilette, bevor er heftig würgen musste und mehrere Male einfach nur pure Galle erbrach.
Er hielt sich an der Schüssel fest und der gesamte Raum schien sich um ihn zu drehen. Erst als sein Körper nicht mehr die Kraft hatte, ihn aufrecht zu halten, sank er erschöpft auf den Badvorleger und wusste nicht ganz, ob er bewusstlos wurde oder einfach nur wieder einschlief.
Den restlichen Tag verbrachte er dort, unfähig sich zu rühren.
Er fühlte sich nicht in der Lage, aufzustehen, geschweige denn auch nur einen Schritt zu tun. Mehrmals hörte er sein Telefon klingeln, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Teilweise hatte er das Gefühl, sein letztes Stündlein müsste längst geschlagen haben.
Sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment zerbersten. Auf sein Knie hatte er kaum mehr geachtet, nur beiläufig bemerkte er, dass es mittlerweile nicht mehr nur blau verfärbt, sondern auch stark angeschwollen war.
Darius wusste nicht, wie spät es war und wie oft er das Bewusstsein verloren und zwischenzeitlich wiedererlangt haben musste, als ihn wieder das Geräusch der Tür panisch hochschrecken ließ.
Kurze Zeit später spürte er sanfte Arme um sich, die seinen Körper in eine Decke hüllten und ihn fest an eine weiche Brust pressten.
Schmale Hände streichelten sein Haar, zarte Lippen küssten einige Male seine erhitzte Stirn und lange Zeit wiegte ihn Theresa einfach nur beruhigend in ihren Armen. Sie stellte keine Fragen, sie machte ihm keine Vorwürfe, sie flüsterte ihm nur liebevolle Nichtigkeiten ins Ohr, auf die er nicht einmal hätte reagieren können, wenn er sie überhaupt verstanden hätte.
Er war einfach nur froh, dass sie bei ihm war.
Sie hielt ihn und war da, selbst als er nochmals keuchend und hustend die Galle hochwürgte, bis ihm Tränen in die Augen traten. Sie säuberte ihn notdürftig und half ihm zurück aufs Sofa, blieb neben ihm sitzen und streichelte sein Gesicht, bis er wieder eingeschlafen war.
Darius wusste nicht, ob sie einschätzen konnte, was geschehen war. Er wusste nicht, ob sie auch nur die geringste Ahnung hatte, dass er ihre Hilfe nicht verdient hatte. Er hatte erwartet, dass sie ihm eine Szene machte, dass sie ihn anschreien würde, wenn sie erfahren hätte, was für eine bescheuerte Entscheidung er getroffen hatte. Und doch war sie einfach nur für ihn da.
Sie blieb. Er wurde mehrere Male wach, in denen sie ihm einfach nur einen Kuss auf die Wange gab und meinte, er solle weiterschlafen.
Es war draußen längst wieder dunkel und Darius war sich nicht ganz sicher, ob sie überhaupt noch dasselbe Jahr hatten, als er es schaffte, länger als einige Momente am Stück bei Bewusstsein zu bleiben.
Theresa war immer noch da. Ihre Augen waren komplett verquollen, als hätte sie stundenlang geweint. Zum ersten Mal seitdem er hier eingezogen war lief der einzige, für gewöhnlich sowieso ungenutzte Fernseher neben dem Sofa und aus der kleinen Küche duftete es nach Suppe.
„Du gehst morgen nicht zur Arbeit“, sagte Theresa bestimmend und Darius schaffte nicht einmal, ihr zu widersprechen.
Sie streichelte ihn noch eine ganze Weile, dann half sie ihm, sich etwas aufzurichten und versuchte vergeblich, ihn wenigstens zu ein paar Schlückchen von der warmen Suppe zu überreden. Sie einigten sich auf ein Glas Wasser und erst als er nicht einmal das bei sich behalten konnte, gab sie wohl auf.
Darius hatte nicht die Kraft, sich gegen ihre Fürsorge zur Wehr zu setzen und sie nach Hause zu schicken. Theresa bettete ihn wieder auf dem Kissen, dabei kämpfte sie wohl selbst um Fassung und wischte sich danach kurz energisch über die Augen, ehe sie ihn zudeckte.
„Schlaf, mein Schatz“, flüsterte sie erstickt und hauchte ihm noch einen Kuss auf die Stirn, „Schlaf noch ein bisschen, komm zur Ruhe. Morgen ist ein neuer Tag. Es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir.“
Dabei war er selbst verantwortlich für diese ganze Misere.
Würde sie darum wissen, sie würde wohl auch sicherlich nicht so handeln, doch er brachte kein Wort über die Lippen. Nun blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als einfach nur trotz des quälenden Schuldbewusstseins ihren liebevollen Anweisungen Folge zu leisten.