Den restlichen Tag verbrachte Darius größtenteils auf dem Sofa liegend.
Er war vollkommen erschöpft, doch so entkräftet und ausgelaugt wie er sich auch fühlte, die hoffnungsvollen Gefühle überwogen dabei eindeutig.
Theresa blieb. Sie telefonierte im Musikzimmer, sie sah neben ihm auf dem Sofa fern und sie kochte Suppe. Ab und zu nickte er ein, ab und zu döste er nur vor sich hin, aber als sie den Fernseher ausschaltete und sich zu ihm setzte, um ihn zu wecken, tat er so, als wäre er urplötzlich in den Tiefschlaf gefallen.
Sie piekste ihn in die Wange und meinte tadelnd, „Du schläfst nicht!“
„Doch“, murrte er leise, „Tief und fest.“
„Nein“, sagte sie und er hörte geradezu das Grinsen in ihrer Stimme.
„Wenn du schläfst, siehst du anders aus“, erklärte sie vielsagend.
Darius musste grinsen, „So dämlich wie du, wenn du mit offenem Mund schnarchst und aufs Kissen sabberst?“
„Fast“, sagte sie sanft und küsste seine Stirn, „Nur noch ein bisschen blöder!“
Mit einem Schmunzeln zog Darius die Wolldecke fester um seine Schultern und vergrub den Kopf brummend im Kissen, aber Theresa kannte keine Gnade.
„Nun komm, jetzt aber raus aus den Federn. Du bist zwar wirklich zuckersüß, wenn du dich schlafend stellst, aber davon wird dein Teller auch nicht leer“, meinte sie zaghaft, „Danach darfst du wieder so tun als würdest du schlafen. Solange wie du möchtest, ohne dass ich dich stören werde.“
Darius grummelte, „Das ist ein schlechter Deal.“
„Ein besserer Deal: Du darfst hier bleiben und musst nicht zurück ins Krankenhaus, reicht das vielleicht?“, Theresa klang eisern, „Oder soll ich dich noch auf Knien anflehen, nachdem du es eigentlich explizit versprochen hast?“
„Nein“, sagte Darius und schälte sich missmutig aus der Decke, „Ich dachte lediglich, du könntest mir vielleicht morgen das Auto leihen, damit ich noch ein paar Kleinigkeiten erledigen kann. Außerdem betrifft die eigentliche Abmachung nur diese komischen Trinkpäckchen und nicht deine fragwürdige Hexenküche.“
Theresa schnaubte und stand auf, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.
„Du könntest dir jederzeit mein Auto leihen, wenn du einfach wie jeder normale Mensch danach fragen würdest“, meinte sie schnippisch, „Außerdem halte ich es für kontraproduktiv, wenn du für jeden Teller Suppe eine Gegenleistung erwartest.“
Darius sah sie einige Momente einfach nur an.
Natürlich hatte sie Recht. Letzten Endes hatte Theresa erstaunlich oft recht, wenn nicht sogar in den meisten Fällen, aber das konnte sie nicht ernst meinen.
„Du hast damit angefangen“, verteidigte er sich fast trotzig, „Die Idee, mich mit irgendwelchen Gegenleistungen zu erpressen kam sicher nicht von mir selbst!“
„Ja, Darius“, sagte sie bitter und ihr anklagender Blick traf ihn direkt ins Herz, „Aber das war vor fünfzehn Jahren, du warst noch ein Kind und ich hatte keine andere Chance, dich dazu zu bewegen, dass du überhaupt etwas zu dir nimmst.“
Er sagte nichts dazu, sondern setzte sich an den Tisch.
Was hatte er da auch noch entgegenzusetzen? Theresa meinte es gut, natürlich tat sie das. Dennoch hatte diese Dynamik zwischen ihnen keine Zukunft, das war ihm bewusst. Es hatte ihn damals schon in den Wahnsinn getrieben und sie selbst würde sicherlich auch nicht besser aus der Situation herauskommen.
„Es ist niemand gestorben, es gibt lediglich Mittagessen“, kommentierte sie schnippisch seinen wohl sehr missmutigen Gesichtsausdruck.
Er sah sie an. Sie sah ihn an.
Dann wandten beide die Blicke voneinander ab.
„Es tut mir leid“, sagte Darius leise.
Theresa seufzte leise und sie streichelte sanft seinen Rücken, ehe sie sich gegenüber von ihm setzte. Schweigend füllte sie beide Teller mit Suppe.
„Mir tut es leid“, sagte sie dann.
Darius gestikulierte vage mit dem Löffel in die Luft, „Ich hätte auch einfach fragen können, ob ich dein Auto leihen kann:“
Auf Theresas Lippen schlich sich ein schwaches Lächeln, „Und ich hätte einfach meine Klappe halten können.“
„Nein“, widerprach er zaghaft, „Ich kann nicht verlangen, dass du normal mit mir redest, wenn ich damit nicht klar komme. Mir ist lieber, ich weiß, woran ich bin, statt dass ich das Gefühl habe, dass niemand mir die Wahrheit anvertraut.“
Theresa schüttelte den Kopf, „Ach, Unsinn-“
„Ich denke immer, du stehst über allem und weißt immer, was zu tun ist“, fuhr Darius fort, „Aber wahrscheinlich verlange ich einfach zu viel, du bist nicht dafür zuständig und ich sollte wirklich langsam mal erwachsen werden.“
„Ach, Unsinn“, sagte sie wieder, „Ich meine, ich kann nicht leugnen, dass ich einfach überfordert bin. Ich wünschte, ich hätte für alles eine Lösung- aber es ist eben nicht so leicht wie wir es gern hätten.“
Darius lächelte schwach.
„Das war es doch nie“, meinte er leise, „Aber wir haben es trotzdem immer irgendwie geschafft. Und das werden wir auch weiterhin.“
Theresa nickte. Dann holte sie tief Luft.
„Wann brauchst du das Auto?“, kehrte sie wieder zum Thema zurück.
Darius deutete auf den unberührten Teller, „Frag das nicht zu früh!“
Sie schnaufte amüsiert.
„Du bist richtig doof, weißt du das?“, auf ihren Lippen lag ein zärtliches Lächeln, „Ich werde mich bessern und dir bedingungslose Gefallen anbieten – im Vertrauen darauf, dass du es nicht ausnutzt!“
Er rollte kurz mit den Augen, dann scherzte er, „Und wo ist der Haken?“
„Ich fahre dich“, eröffnete sie ihm sofort, „Davon abgesehen, dass ich neugierig bin, wohin es dich verschlägt, möchte ich dich in diesem Zustand nämlich ungern allein unterwegs wissen.“
Darius stöhnte auf, „Dein Ernst? Ich fasse es nicht.“
Theresa zuckte nur mit den Schultern, „Mein Auto, meine Regeln!“
„Ganz ehrlich?“, begann er, „Mach das. Der Verkehr in der Innenstadt ist sowieso eine Katastrophe. Und vielleicht weißt du ja, wo sich diese ominöse Musikschule überhaupt befindet, ohne dass ich Luise nochmals anrufen muss.“
Theresas Blick erhellte sich merklich.
„Du hast es dir also überlegt?“, sie klang freudig überrascht.
Darius runzelte die Stirn.
„Wieso weißt du eigentlich immer alles, bevor ich es erzähle?“, stellte er eine fast trotzige Gegenfrage, dann lenkte er ein, „Ich wollte lediglich nochmals mit ihr sprechen. Das Telefonat ist etwas unglücklich verlaufen und die Anforderungen würden mich ganz allgemein interessieren-“
Theresa musste schmunzeln, „Natürlich, ich verstehe. Aber das ist kein Problem. Wenn du magst, fahren wir gleich morgen hin.“
Bei den guten Vorsätzen zum Mittagessen blieb es und dass der weitere Konflikt hingegen ausblieb, beunruhigte Darius so sehr, dass er sich zwar wieder auf dem Sofa zusammenrollte, aber nicht in den Schlaf fand, den er sich vom restlichen Nachmittag erhofft hatte. Irgendwann schaltete er den Fernseher ab, weil Theresa ohnehin nicht mehr schaute.
Als sie die Küche in Ordnung gebracht und irgendetwas ganz wichtig an ihrem Telefon gemacht hatte, verschwand sie im Musikzimmer und ihre Stimme verschwamm zu einer beruhigenden Kulisse. Darius fühlte sich leer.
Er wusste, dass er eigentlich beruhigt sein konnte, weil alles geregelt war. Doch es erreichte ihn nicht. Sein Herz pochte schmerzhaft und mit jeder verstreichenden Sekunde vermisste er Alfred mehr.
Wie sehr wünschte sich Darius, in seinen starken Armen zu liegen. Seine so vertraute Stimme zu hören, wie er sich mit einem verlegenen Lächeln und erröteten Wangen um Kopf und Kragen reden würde, bis er keinen ganzen Satz mehr herausbrachte und Darius doch verstand, was er sagen wollte.
Er wollte bei ihm sein, alles in ihm verzehrte sich danach. Es kam ihm vor, als hätte alles keinen Sinn ohne ihn. Alles was er erreicht hatte, war nichts wert, auch der Blick in die Zukunft beinhaltete keine Hoffnung, nicht ohne Alfred.
Mehrmals war Darius kurz davor, nach seinem Telefon zu greifen.
Doch was würde er sagen? Womöglich würde er Alfred damit nur noch mehr verletzen, wenn er ihm keine klare Auskunft darüber geben konnte, wie sie nun verbleiben würden. Er konnte ihn nicht hinhalten und mit einer vagen Aussage bezüglich der Sehnsucht warten lassen, wenn er sich nicht sicher war, dass es überhaupt noch ein Chance für sie gab.
Es war doch mehr ein unerfüllbarer Traum und pures Wunschdenken, wenn er sich vorstellte, wie sie zusammen glücklich waren.
Irgendwann setzte sich Theresa zu ihm und streichelte schweigend sein Haar.
Ein müder Blick genügte, dass sie in Tränen ausbrach, ihn in den Arm nahm und sich an seiner Schulter ausweinte. Sie gestand ihm, dass sie ihn eigentlich nicht gehen lassen wollte, nachdem endlich ihr Wunsch in Erfüllung gegangen war, ihn wieder bei sich zu haben. Er versuchte sie zu beruhigen, mit mäßigem Erfolg.
Sie führten ein langes Gespräch über Nähe, Distanz und Abhängigkeit. Sie redeten über Ferdinand, über Gabriel und Nina, über vernachlässigte und verlorene Freundschaften, die Eltern und die Vergangenheit.
Zu einer Lösung für all diese Belastungen kamen sie nicht, doch Theresa schlief irgendwann mit dem Kopf auf seiner Brust ein und Darius streichelte ihr Haar, bis er selbst die Augen nicht mehr offen halten konnte.
Mitten in der Nacht wurde er wach.
Ausgeruht fühlte er sich nicht, doch getrieben von dem Drang, aufstehen zu müssen, konnte er unmöglich liegen bleiben. Vorsichtig, um Theresa nicht zu wecken, stand er auf und verharrte einige Momente einfach nur im dunklen Raum, den er nur durch das ins Fenster fallende Licht der Straßenlaterne draußen überhaupt ausmachen konnte.
In einem plötzlichen Anflug von Trotz und dem verbissenen Willen, ein besserer Mensch zu werden, füllte er sich den kalt gewordenen Rest der Suppe in eine Schüssel und kämpfte sich durch die Hälfte, ehe er ins Badezimmer hastete, weil sein Magen gegen diese Aktion rebellierte. Dass Theresa auch nicht wach geworden, als er sich unter die eiskalte Dusche gestellt hatte und mit frischer Kleidung zurück ins Wohnzimmer spähte, nahm er als eine glückliche Fügung an.
Darius lief zu seinem Aktenkoffer und schloss sich damit im Musikzimmer ein.
Einige Zeit saß er nur auf dem Klavierhocker und presste sie verkrampft gegen seine Brust, als hätte er Angst, dass sie ihm jemand nehmen könnte.
Seine viel zu schwere Tasche, in der er immer alles dabei hatte, was er brauchte. Ebenso alles, was er womöglich niemals brauchen würde und alles, ohne das er nicht das Haus verlassen würde.
Alles, einfach alles.
Solange sie gepackt war, würde er sie jederzeit in die Hand nehmen und gehen können. Das hatte er sich damals geschworen, als er bei Kristian gelebt hatte. In den dunkelsten Stunden hatte er sich selbst versprochen, dass er einfach gehen würde, wenn es noch schlimmer werden würde.
Er besaß nicht viel, was man mit Geld nicht wieder kaufen könnte.
All diese unersetzlichen Dinge bewahrte er neben allen praktischen Notwendigkeiten in eben dieser Tasche. Doch in diesem Moment wurde es Darius schmerzlich bewusst- er konnte keine Menschen in dieser Tasche mitnehmen.
Der Koffer war ebenso wie er selbst immer bereit dafür, dass es ein Ende hatte. Dass ein Abschnitt vorbei war und ein nächster begann. An einem anderen Ort, unter anderen Umständen. Bleiben konnte er nie. Doch er nahm nicht nur seine Tasche mit, sondern auch sich selbst. Darum würde jede Flucht auf ewig sinnlos bleiben. Er hatte weniger Angst vor Kristian als vor sich selbst.
Er hatte weniger Angst davor, in einem Käfig aus Lügen und Gewalt eingesperrt zu sein, als irgendwann alles zu verlieren. Und wie einfach es war, Dinge in eine Tasche zu packen und dafür mit Menschen aus Fleisch und Blut zu brechen. Wie viel schwieriger es wäre, Materielles zurückzulassen und dafür zu versuchen, sich an die Personen zu halten, die es gut mit ihm meinten, anstatt lediglich die Auseinandersetzung zu verschieben, dass er andere Leute eben nicht loslassen konnte, die ihm nicht gut taten.
Als er aus seiner panischen Starre erwachte, öffnete Darius hastig seine Tasche. Er räumte sie komplett aus, um sie mit Bedacht wieder einzuräumen, doch dieses Unterfangen gestaltete sich schwieriger als gedacht.
Natürlich konnte er sich ohne Probleme von Papiertaschentüchern, Handcreme und einem Bleistift trennen, doch schon als ihm das lange schmale Holzkästchen in die Hand fiel, in dem er seinen Taktstock aufbewahrte, brach seine plötzlich erlangte Fassung in sich zusammen. Würde er ihn je wieder brauchen? Und es wurde nicht besser.
Er konnte sich einen neuen Terminkalender kaufen, denn die Daten und Uhrzeiten hatte er auch auf dem Telefon gespeichert. Die Unterlagen für die Fahrt ins Kloster brauchte er nicht mehr, ebenso wenig den Plan für die Proben zum vergangenen Jahreskonzert.
Die adressierten Umschläge würde er am nächsten Morgen abschicken. Natürlich brauchte er seine Brieftasche und deren Inhalt, aber würde er den Schlüssel zu dieser Wohnung noch für mehr brauchen, als ihn der Vermieterin zu überreichen?
All das verlor an Bedeutung, als ihm zwei Packungen Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Päckchen Streichhölzer in die Hände fiel. Als er die Beethoven-Partitur fest mit beiden Händen umklammerte, musste er blinzeln, um durch den Schleier in seinen Augen überhaupt etwas sehen zu können. Es fehlte ein Stück vom Deckblatt, das er in einem Zustand geistiger Umnachtung abgerissen hatte.
Eine einzelne Träne tropfte auf das Papier und machte die darauf gekritzelte Zahlenkombination komplett unleserlich. Doch streng genommen brauchte er diese Partitur auch nicht mehr. Es war vorbei.
Das Konzert lag in der Vergangenheit, ebenso wie seine Anstellung beim Orchester. Der Abschnitt war wieder zu Ende und diesen Stapel bedruckter Blätter brauchte er ebenso wenig mitzunehmen wie die Zigaretten, wo er doch hatte mit dem Rauchen nicht wieder anfangen wollen.
Von manchen Dingen musste er sich trennen, wenn er ging.
Darius packte seine Tasche fertig, danach ging es ihm deutlich besser.
Sie war erstaunlich leicht geworden und stand an der Garderobe, als er sich wieder aufs Sofa legte. Theresa schnarchte leise und liebevoll küsste er ihre Stirn. Er schloss die Augen und atmete tief durch.
Die Partitur brauchte er nicht mehr, sie gehörte der Vergangenheit an. Vielleicht würde nicht nur ein neuer Abschnitt beginnen, sondern ein neues Leben. Er selbst entschied, was er dorthin mitnehmen wollte und was nicht.
Niemand sonst, nur er selbst.
Er brauchte die Kontrolle über sein Leben zurück. Doch anscheinend hatte er sie an der falschen Stelle gesucht und sie dort komplett vernachlässigt, wo sie eigentlich dringend notwendig war.
Darius griff nach seinem Telefon, vergewisserte sich, dass er die richtige Nummer auswählte und schrieb eine lange Nachricht.
Vielleicht würde sie niemals gelesen werden.
Vielleicht würde sie nicht alles wieder gut machen können und er hätte sie komplett umsonst geschrieben. Vielleicht war es zu spät, sich anders zu entscheiden, doch er wollte es nicht unversucht lassen.
Er brauchte die Partitur nicht mehr. Denn die Nummer hatte er gespeichert.
Ein zärtliches Lächeln schlich sich auf Darius' Lippen, als er sich die eigenen Worte nochmals durchgelesen hatte und die Nachricht absendete.
Er hatte sich entschieden.
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