Darius vermutete, dass er die gesamte Probe das vergangene Gespräch mit Alfred nicht würde vergessen können.
Fast wie betäubt hatte er sich gefühlt, als sie gemeinsam den Raum betreten hatten. Erst kurze Zeit später hatte er bemerkt, dass alle Blicke der ansonsten bereits vollständig versammelten Musiker auf ihnen lagen und manche von ihnen verhalten tuschelten.
Es war Alfred gewesen, der sich einfach gesetzt und auf Jaspers fragenden Blick hin überaus laut und deutlich „Die Bahn hatte Verspätung“ gesagt hatte, um die Situation etwas zu entschärfen.
Nicht einmal Erwin Gebauer hatte etwas gesagt, als Darius hektisch in seiner Tasche gekramt hatte, es war totenstill gewesen. Auf der Partitur stand noch immer einsam und verloren mit einem spitzen Bleistift geschrieben die Zahlenkombination von Alfreds Telefonnummer.
Und mit einem Mal kam Darius die gesamte Sache wieder so einfältig und töricht vor. Hatte er wirklich gedacht, dass Ferdinand ihm hatte einen Gefallen tun wollen? Vielleicht hatte er einfach nur das letzte Wort haben wollen, Recht behalten nach all den Dingen, die er gesagt hatte und denen Darius keine Beachtung geschenkt hatte.
Wer nicht hören wollte, musste eben fühlen.
Und wenn Darius ihm schon nicht hatte glauben wollen, dass er einfach nicht belastbar genug war, um seinen Job hinreichend zu erledigen, dass er es jemals zu etwas bringen würde, hatte er ihm nun eben die Stelle überlassen, um ihn ins offene Messer laufen zu lassen.
Darius starrte auf die Partitur und der gesamte Raum schien sich um ihn zu drehen. Mit seinen plötzlich vor kaltem Schweiß ganz klammen Händen schien es unsagbar schwer, das kleine Holzkästchen zu öffnen. Er war sich sicher, dass er leichenblass geworden war und jede verstreichende Sekunde ließ seinen Herzschlag bis ins Unermessliche beschleunigen.
Seine Knie fühlten sich butterweich an, seine Finger zitterten vehement, als er nach dem Taktstock griff und sich so verkrampft daran festhielt, dass die Haut über seinen Fingerknöcheln spannte.
Das dringende Bedürfnis ignorierend, sich die Hände einzucremen, überblätterte er einige Seiten, auf denen die Noten zu einem einzigen Brei aus schwarzer Tinte verschwammen, bis er kaum erkennen konnte, wann er überhaupt bei Haydn angekommen war. Panik schwappte über all seine Sinne. Es verlangte ihm einiges ab, sich noch auf den Beinen halten zu können.
Das weiße Hemd klebte unangenehm an seinem Rücken und er schaffte es nicht einmal, die selbst beschriebenen Notenblätter zwischen den gedruckten Seiten herauszunehmen, um sie an Jasper Sundström weiterzureichen.
Einen Moment schloss er die Augen in der Hoffnung, danach wieder klarer sehen zu können und Darius hätte schwören können, dass er schon einer nervösen Bewusstlosigkeit nahe war, als er ein leises Räuspern vernahm, das durch die drückende Stille drang und ihn hastig aufblicken ließ.
Alfred Wunderlich sah ihn fast schon besorgt an, hatte aber genügend Anstand, ihn nicht seiner Würde zu berauben und vor allen anderen mehr zu tun als ihm nur mit einem unsicheren Lächeln zuzunicken.
Nur den Bruchteil einer Sekunde verlor sich Darius in den warmen braunen Augen, ehe er eben dort alles zu finden schien, was er brauchte, um sich wieder etwas geerdeter zu fühlen. Alfred sah erleichtert aus, als er nun hastig den Entwurf für die Kadenz an Jasper reichte und sich besann, dass er sich an der Stelle, an der er vorhin noch etwas klarer im Kopf das Papier in der Partitur einsortiert hatte, wunderbar orientieren konnte.
Es fühlte sich an, als bewegte er sich in Zeitlupe. Eine halbe Ewigkeit verging, bis er es schaffte, ohne ein einziges Wort an die Musiker die Probe zu beginnen, doch als sein Blick zur Uhr an der Wand huschte, waren keine zwei Minuten vergangen, seitdem er den Raum betreten hatte.
Und auch wenn Darius sich nicht von all den zweifelnden Gedanken lösen konnte, auch wenn er noch immer über Alfreds Geständnis nachgrübeln musste, schaffte er es schon nach wenigen Takten, sich wieder auf die Musik einzulassen.
Was sich zuerst noch so anfühlte, als würde er mit Hängen und Würgen das Nötigste auf die Reihe bekommen, um nicht einfach nur als stummer Statist vor einem orientierungslosen Orchester zu stehen, schaffte es bald aber tatsächlich, dass er die Sorgen und Nöte wieder in eine unerreichbare Ecke seines Hinterkopfes schieben konnte.
Nicht nur, dass je weiter sie im Stück kamen, seine Energie immer mehr zurückkehrte. Auch bewies jeder einzelne der Musiker in den Reihen heute nicht nur volle Präsenz und Professionalität, sondern schien viel eher auch etwas ganz anderes zeigen zu wollen, was Darius niemals erwartet hätte.
Eine leichte Gänsehaut zog sich über seine Arme, als ihm bewusst wurde, dass es vielleicht nicht einmal nur ein gnädiges Verständnis für seine kleinen Aussetzer war.
Nein, eher schwang in der Musik gerade etwas ganz anderes mit, das ihn mit einem Mal wieder komplett bei der Sache bleiben ließ. Mit jedem Ton erfüllte es den Saal mehr, jeder Einsatz ließ es deutlicher zwischen der Melodie hervordringen und schließlich schallte ihm der Klang dessen so durchdringend entgegen, dass er sich nicht erwehren konnte, aus vollem Herzen zu lächeln.
Es war nicht nur bloße Akzeptanz.
Vielleicht war es gar schon ein kleines Stück weit Vertrauen.
Und das konnte er unter keinen Umständen enttäuschen.
Ganz beflügelt von diesem wunderbaren Gedanken fiel es Darius absolut nicht mehr schwer, bei der Sache zu bleiben. Wenn das Orchester beschlossen hatte, dass es ihm tatsächlich nach so kurzer Zeit schon den Rücken stärken wollte, dann konnte er sich nicht einfach den trübsinnigen Selbstzweifeln hingeben.
Fast als läge in der Musik heute etwas Magisches, das sie im Angesicht des kommenden Auftrittes zusammenschweißte, funktionierte alles einwandfrei.
Er hatte sich gar einige Momente komplett in den Klängen verloren, sodass ihm erst zu spät wieder einfiel, dass er eigentlich hatte vor den Solo-Stellen abbrechen und die Solisten mit dem Orchester das Ganze erst einmal für sich einüben lassen wollen.
In exakt diesem Moment aber warfen sich Jasper und Alfred einen kurzen Blick zu und schon der erste, sanfte Ton der Violin-Kadenz jagte Darius einen ehrfürchtigen Schauer über den Rücken.
Ungläubig ließ er das Orchester die Begleitung weiterspielen, nicht die geringste Unsicherheit spiegelte sich in der Musik wieder und auch wenn Darius sein Bestes gab, den Überblick zu wahren und sich nicht zu sehr davon einnehmen zu lassen, konnte er kaum glauben, was Jasper Sundström hier tat.
Ohne Zögern war er aufgestanden und mit dem Ausdruck der vollen Überzeugung und mehr Gefühl als Darius wohl je gehört hatte, spielte Jasper seine Kadenz nicht nur perfekt vom Blatt, ohne sie in dieser Gesamtheit je zuvor gesehen oder geübt zu haben.
Noch dazu belehrte er sich wohl selbst eines Besseren, denn nachdem er zuvor noch behauptet hatte, nicht improvisieren zu können, tat er genau das – und verlieh dabei exakt den Stellen, an denen Darius doch etwas unzufrieden mit seiner eigenen Leistung gewesen war, nicht nur eine unglaubliche technische Finesse, sondern auch deutlich mehr persönlichen Charakter.
Scheinbar war nicht nur Darius von dieser Sache überwältigt, denn kurz nachdem er geendet hatte, verloren sich die anschließenden Takte in allgemeiner Ratlosigkeit, dann aber schnell in einem tosenden Applaus aller Musiker.
Mit hochrotem Kopf setzte sich Jasper wieder auf seinen Platz und lächelte ein bisschen hilflos, als Erwin Gebauer begeistert grölte.
„Ich werde später noch etwas üben, dann müsste das doch vielleicht in Ordnung gehen?“, fragte er kleinlaut.
Darius schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Ich bin mir nicht so ganz sicher“, meinte er und mit einem Mal wurde es mucksmäuschenstill im Raum.
Jasper starrte ihn ängstlich an und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht.
Erwin sah aus, als wäre er bereit, dem Zweifler spontan das Genick zu brechen.
„Nicht sicher, ob es daran überhaupt noch etwas zu verbessern gibt“, sagte Darius lächelnd, „Es war perfekt, ich müsste mich täuschen, wenn es da noch eine Steigerung gibt. Aber von einem derartigen Ausnahmetalent lassen wir uns alle sicherlich gern eines Besseren belehren!“
Nun strahlte Jasper über das gesamte Gesicht, als könne er es kaum fassen.
Alfred klopfte ihm mit einem anerkennenden Lachen auf die Schulter, dann streifte sein fast schon erwartungsvoller Blick kurz Darius‘ Gesicht.
Und er verstand das Zeichen, woraufhin er die wenigen Schritte bis zu Jasper überbrückte, ihm mit festem Augenkontakt die Hand gab und ihm zunickte.
„Es ist mir eine große Ehre, dass wir hier zusammenarbeiten!“, sagte er zu Jasper, der es scheinbar gar nicht fassen konnte, und wandte sich unter dessen verblüfften Blick schließlich wieder zum restlichen Orchester.
„Und es ist mir ebenso großes Vergnügen, dass ich die Ehre habe, morgen vor Ihnen allen stehen zu dürfen! Ich bin der festen Überzeugung, dass das Konzert großartig werden wird. Wir haben sensationelle Solisten“
Kurz zwinkerte er Jasper zu, dann wies er mit einer ausladenden Handbewegung auf die anderen Instrumentalsolisten, während er trotz nervösem Auf- und Abgehen schaffte, seine Stimme fest und klar durch den Raum hallen zu lassen.
„Wir haben nicht umsonst so konzentriert gearbeitet. Und da es mitnichten mein Verdienst ist, dass diese Gelegenheit zustande gekommen ist, so will ich mich bei Ihnen allen dafür bedanken, dass ich das Wörtchen ‚wir‘ in diesem Zusammenhang nutzen darf!“
Fast schon demütig deutete Darius eine kurze Verbeugung an, dann trat er zurück zum Pult und ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen.
„Ich möchte die restlichen Solisten noch ebenso im Gesamtbild mit dem ganzen Orchester hören, dann habe ich eine Pause eingeplant“, ließ er die Musiker wissen, wie er den restlichen Tag notgedrungen umstrukturiert hatte.
„Danach machen wir noch mindestens einen kompletten Durchgang des Stücks für die entsprechenden Übergänge und Einsätze, anschließend biete ich noch einmal an, registerweise die letzen Unklarheiten zu beseitigen.“
Aufmerksame Gesichter blickten ihm entgegen, Jasper schien alles hektisch mitzuschreiben und Darius hatte Mühe, den Blick wieder von Alfred zu lösen.
„Wenn dann bei der anschließenden Generalprobe alles glatt läuft, sehen wir uns nach dieser erst morgen Abend im großen Saal in Konzertkleidung wieder!“
Die Aussicht auf eine kleine schöpferische Pause zwischen den Proben und dem tatsächlichen Konzert schien auf Gegenliebe zu stoße, denn wieder klatschten alle Musiker zustimmend in die Hände.
„Also-“, Darius hob den Taktstock, „Dann geht es nun los zum Endspurt!“
Es lief wie am Schnürchen, es war als zahlten sich die teilweise etwas zähen Stunden zuvor nun doch aus und als er schließlich offiziell zur geplanten wohlverdienten Pause aufrief, fühlte sich Darius furchtbar erschöpft aber dennoch komplett zufrieden.
„Guten Morgen, werter Herr Wunderlich“, hörte er beiläufig noch die Stimme von Erwin Gebauer, als er gerade in seiner Tasche suchend nach seinem Smartphone kramte, „Gibt es irgendeine Chance darauf, dass wir mal wieder die Pause zu dritt verbringen oder reißt das jetzt ein, dass wir dich gar nicht mehr zu Gesicht bekommen?“
Darius wurde krebsrot im Gesicht und versuchte, sich bloß nichts anmerken zu lassen, geschweige denn die Aufmerksamkeit der Sprechenden irgendwie auf sich zu ziehen.
„Einen wunderschönen guten Tag, mein lieber Herr Gebauer“, hörte er Alfred sagen, „Aber selbstverständlich leiste ich euch in der Pause ein wenig Gesellschaft. Ich würde sogar behaupten, dass wir keine andere Wahl haben, als unseren guten Jasper hier zu einem triumphalen Siegeskaffee einzuladen, was meinst du?“
„Nun ja“, sagte Gebauer und Darius umklammerte sein Handy, ehe er es aus der Tasche zog und einen kurzen Blick zu Alfred warf, der vollkommen beschäftigt mit seinen Kollegen schien.
„Man soll ja den Tag nicht vor dem Abend loben und die Probe nicht vor dem Konzert“, gab Gebauer zum Besten, die nächsten Worte aber ließen Darius als heimlichen Mithörer des Gesprächs das Blut in den Adern gefrieren.
„Ich persönlich vermisse ja aber die Zeit vor deiner Karriere als Konzertmeister, in der du noch nicht dem Herrn Maestro ohne Unterlass in den Allerwertesten gekrochen bist, sondern dich noch gern mit gemeinem Fußvolk wie uns abgegeben hast!“
Diese Bemerkung saß. Schmerzlicher als erwartet, darum konnte Darius kaum verhindern, dass er sich diese flapsig hervorgebrachte Sichtweise zu Herzen nahm.
Alfred sagte wohl noch etwas zu Gebauer und dieser lachte daraufhin schallend, aber Darius verstand die genauen Worte beiden schon gar nicht mehr, während er fluchtartig den Raum verließ.