Schmach. Scham. Schimpf und Schande.
Diese Wörter schossen Darius all die Zeit über durch den glücklicherweise wieder immer klarer werdenden Kopf. Er schämte sich in Grund und Boden, doch kämpfte er um die nötige Fassung, die er brauchte, um sein Gesicht zu wahren.
Verzweifeln konnte er später noch über diesen Skandal, den er nur knapp hatte verhindern können. Jetzt war dafür bei Gott keine Zeit mehr.
Er würde keine dritte Chance bekommen.
Dafür wohl aber eine zweite, denn als Darius unter tosendem Applaus wieder die Bühne betrat, so als wäre nie etwas gewesen, saßen alle Musiker an ihrem angestammten Platz und blickten ihn in erwartungsvoller Konzentration an.
Lediglich auf zweien davon zeichneten sich noch tiefe Sorgenfalten ab, Alfred und Jasper würden diesen unendlich beschämenden Schwächeanfall wohl sicher nicht so schnell vergessen, von Theresa wollte er da gar nicht erst anfangen.
Wenn sie ihm je noch einmal verzeihen sollte, dann musste der Rest dieses verfluchten Abends nun wirklich ohne weitere Vorkommnisse über die sprichwörtliche ebenso wie die tatsächliche Bühne gehen, dessen war er sich bewusst.
Es ging um alles. Alles oder nichts.
Darius‘ Körper war bis in die letzte Muskelfaser angespannt und er atmete tief durch, um zumindest die Verkrampftheit dabei loszulassen, während ihm das Adrenalin durch die Venen pumpte. Er verneigte sich demütig vor den Menschen, die nicht einmal den Bruchteil davon ahnten, was auf dem Spiel stand und doch irgendwie dafür verantwortlich waren.
Er wandte sich wieder zum Orchester und bis der Applaus verstummt war, hielt er noch inne, schloss für einen Moment fast meditativ die Augen. Er konnte nicht einfach nur seinen Job machen. Er musste es fühlen. Er musste es leben.
Diesen einen Moment verinnerlichen und in sich aufnehmen, kurz durchatmen und ihn verwirklichen, als gäbe es kein Morgen mehr.
Alles geben, alles riskieren, egal was danach kommen würde.
Er kannte dieses verdammte Stück ebenso in- und auswendig wie die Musiker, sie vertrauten ihm endlich, alle Gegebenheiten waren auf ihrer Seite und letzten Endes sollte es an seiner persönlichen Verfassung scheitern?
Ihm war sterbenselend. Seine Schläfen pochten, sein Magen krampfte heftig und die unerträglichen Schmerzen in seinem Bein waren schon beinahe einem dumpf drückenden Taubheitsgefühl des allgemeinen Unwohlseins gewichen.
Aber darunter auch noch das gesamte Orchester leiden lassen? Niemals.
Dazu würde es nicht kommen, das schwor er sich. Und wenn er danach tot umfallen würde, aber er würde diese begonnenen Sache auch beenden.
Das war er nicht nur sich selbst schuldig, sondern vor allem den anderen, die auf seinen Wink hin Haltung einnahmen und mit aufmerksam auf ihn gerichteten Blicken nur auf den Einsatz warteten.
Und als er die Musik einsetzen ließ, schien alles nur noch halb so schlimm.
Sie durchflutete ihn durch und durch, nahm ihm jegliche auch nur vorstellbare Form von Schmerz und Leid. Sie erfüllte seinen ganzen Körper gemeinsam mit dem alles übertrumpfenden Gefühl, genau hier zu sein, wo er hingehörte.
Hier, wo er vor einer Gruppe Musiker stand, deren Vertrauen er nicht enttäuscht hatte. Hier in diesem Raum, in dem ihn nicht nur alte Bekannte, neue Freunde und vollkommen Fremde sehen konnten, sondern auch fast alle Menschen, die von seiner Familie noch übrig waren.
Wo Theresa ihn sicherlich bangend beobachtete und er ihr die Sorgen nehmen musste. Wo Ferdinand sicherlich nervös schwitzte und er ihm seine Verlässlichkeit beweisen musste. Wo Nina neben den beiden saß und wahrscheinlich in ihrem jugendlichen Leichtsinn nicht einmal ahnte, wie viel das alles bedeutete.
Jetzt und hier, zurück in Wien, wo er sich eine neue Zukunft aufbauen wollte. Und in diesem prunkvollen Saal, gefüllt mit wichtigen und wohlhabenden Menschen, vor denen er sich keinen Fehltritt leisten konnte.
Hier bei Alfred Wunderlich, der allgegenwärtig und gekonnt kleinere Unachtsamkeiten seinerseits ausbügelte und mit seiner bloßen Anwesenheit dafür sorgte, dass Darius sich etwas entspannen konnte, bis er von den Gedanken Abstand nehmen konnte, um wieder eins mit der Musik zu werden.
Genau das tat er. Und wie er das tat.
Er verlor sich auf diese höchst eigenartige Weise, in der alles unwichtig wurde und der Konzertsaal zu einer bloßen Kulisse verschwamm. In der er nicht einmal mehr nachdenken musste, sondern einfach nur seinen Gefühlen freien Lauf ließ.
Es fühlte sich nicht mehr an, als würde er achtsam und konzentriert darum kämpfen, dass jeder Ton zur richtigen Zeit erklang und wieder verklang. Es war, als würde die Musik eines jeden der Menschen im Orchester ihn nicht nur erreichen, sondern durch seine Bewegungen kanalisiert wieder zurückfließen und all die einzelnen Komponenten zu einem großen Ganzen zusammenfügen.
Die schiere Ehrfurcht vor dieser Macht ließ Darius einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Sollte er diese Erde tatsächlich frühzeitig verlassen, so war er sich sicher, dass es in einem solchen Moment geschehen sollte.
Doch bis dahin gab es noch jede Menge zu erledigen, es gab noch einiges zu erreichen und so viel zu erleben. Und das – so beschloss Darius in eben jenem Moment, in dem er fast selbst überrascht war, dass er beim Nachblättern fast am Ende dieser ganz besonderen Partitur angelangt war – würde er nicht allein tun.
Als schließlich die letzten Töne des Stückes und somit die allerletzten Takte des gesamten Konzerts gerade verklangen, lag noch für die unendlich scheinende Zeit einiger Augenblicke komplette Stille im Raum.
Das Hemd unter seinem Frack klebte von kaltem Schweiß an seinem Rücken, seine Knie schienen beide butterweich, doch in dem Moment, in dem der Applaus mit voller Wucht einsetzte und ihn beinahe unter diesen tosenden Wellen der Begeisterung wegschwemmte, fühlte sich Darius wie neu geboren.
Wie Phönix aus der Asche auferstanden, wie der Herrscher über die gesamte Welt, es war ein unbeschreibliches Gefühl des Triumphes, das ihm für einige Momente fast den Atem nahm.
Er war nicht nur erleichtert, es war pure Freude. Er war so glücklich, dass er sich nicht entsinnen könnte, jemals so empfunden zu haben. Kurz lag sein Blick in den ebenso strahlenden Augen von Alfred Wunderlich, dann lächelte er aus vollem Herzen und wandte sich mit weit ausgebreiteten Armen zum Publikum, als wolle er jeden einzelnen davon umarmen, bevor er sich in tiefster Demut und Dankbarkeit verneigte.
Mehrere Male verbeugte er sich, ehe er die restlichen Musiker zum Aufstehen aufforderte, während der Applaus wie ein Rauschen aus klatschenden Händen nicht abflachen wollte. Mehrere Menschen standen auf, ein Wellengang aus Zuschauern, die sich klatschend von ihrem Platz erhoben, der dieses Meer der Begeisterung unter der Bühne in rege Bewegung versetzte.
Die Welt verschwamm im Rausch des Erfolgs.
Wenn es nach Darius ginge, würde dieser Moment niemals enden. Für immer könnte er hier stehen und sich bewusst werden, dass er es geschafft hatte. Dass sie es geschafft hatten, alle zusammen.
Und als er sich umdrehte, um die Solisten mit einem Handschlag zu beglückwünschen und ihnen ihren verdienten Applaus zukommen zu lassen, fiel sein Blick wieder auf Alfred, der über das ganze Gesicht strahlte.
Als sich ihre Augen trafen, war Darius, als könne er den Sinn des Lebens und den Grund für die Existenz des gesamten Universums darin finden. Aber als sich kurz darauf ihre Finger zu einem weiteren Händeschütteln berührten, verschwamm diese Erleuchtung in so viel persönlicheren Gefühlen.
Wie viel Zeit tatsächlich in diesen Momenten der Unendlichkeit verging, bevor er die Bühne schließlich mit festen, federnden Schritten und mit sichtbarem Stolz hoch erhobenen Hauptes wieder verließ, würde Darius niemals nachvollziehen können. Es war auch nicht weiter wichtig.
Das Konzert war ein voller Erfolg auf ganzer Linie.
Sie hatten es geschafft – gemeinsam.
Die Zeit schien zur Nebensache zu verkommen. Er sah nicht einmal kurz auf die Uhr, als die restlichen Musiker im Probenraum hinter der Bühne eintrudelten, denn Jasper Sundström näherte sich im Laufschritt und fiel ihm ungeachtet jeglicher Konventionen überschwänglich jauchzend um den Hals.
„Es hat alles funktioniert!“
Darius lachte und drückte ihn kurz, ehe er dem stolzen Solisten noch einmal privat und für sich selbst ungesehen von all den neugierigen Augen die Hand gab.
„Du warst großartig“, lobte er ihn, „Ich hatte zwar ohnehin nichts anderes erwartet, aber es war einfach phänomenal! Ich danke dir von Herzen.“
Nachdem er sich den anderen drei Solisten noch kurz gewidmet hatte und einige weitere Musiker sich bei ihm bis zur nächsten Probe ins Getümmel der Besucher oder nach Hause verabschiedeten, kam entgegen all seiner Erwartungen noch ein anderer Mensch zielstrebig auf ihn zugelaufen.
Vielleicht war es sogar der Mensch, von dem er es am allerwenigsten erwartet hätte, dass er ihn überhaupt eines Blickes würdigte, geschweige denn sich überhaupt dafür interessierte, sich mit ihm näher zu beschäftigen.
„Große Klasse, Maestro. Was für ein Konzert!“, dem anerkennende Händedruck von Erwin Gebauer folgte ein augenzwinkerndes Grinsen, bei dem er ihm gar auf die Schulter klopfte, „Nur diese- nun ja, ich nenne es mal kleine, dramatische Show-Einlage hätten Sie sich meiner Meinung nach sparen können!“
Darius musste lachen, so ausgelassen fühlte er sich in diesem Moment. Es war alles gut gegangen. Trotz aller Widrigkeiten hatten sie es geschafft. Es war kaum zu glauben, doch nichts auf der Welt konnte ihm diese gute Laune nehmen.
Es war ein Sieg, ein Erfolg auf ganzer Ebene.
Und er wollte gerade noch etwas sagen, als der Hornist bereits weitersprach.
„Nun ja- Ich bestehe darauf, dass wir heute Abend nicht auseinander gehen, ohne noch gemeinsam auf diesen Auftritt angestoßen zu haben!“
Darius glaubte kurz, sich verhört zu haben, dann aber musste er wieder lachen.
„Nichts für ungut“, meinte er verlegen, „Ich trinke für gewöhnlich nicht, aber letzten Endes kann man auch mit Wassergläsern anstoßen – also sehr gern!“
„Nun ja! Aber- nun“, protestierte Gebauer sofort mit einem Schmunzeln im Gesicht, „Heute ist kein gewöhnlicher Abend, also hat es absolut keine Relevanz, was Sie für gewöhnlich tun und was nicht. Ein Gläschen in Ehren kann niemand verwehren. Eigentlich sollten wir ja allesamt miteinander anstoßen!“
Im Prinzip wollte Darius ja dankend ablehnen, aber mit einem Mal schien der Gedanke an noch ein bisschen gemeinsame Zeit mit den verbliebenen Musikern nach diesem so erfolgreichen Konzert gar nicht mehr allzu übel.
Einige waren zwar schon gegangen und einige weitere verabschiedeten sich gerade, sowieso sollte er eigentlich auch noch einmal zu Theresa, Ferdinand und Nina gehen – aber zumindest die ersteren beiden würden sicherlich verstehen, dass sie hier innerhalb des Orchesters etwas zu feiern hatten. Und die kleine Nervensäge sollte sowieso längst im Bett sein.
„Ich höre kein Nein, also ist das ein Ja!“, sagte Gebauer grinsend.
Selbst Jasper stimmte ihm jubelnd zu und als endlich jenes Gesicht aus der Masse der Umstehenden auftauchte, das Darius nun am Nötigsten noch einmal sehen musste, schien alles andere mit einem Mal so nichtig.
Alfred Wunderlich wirkte ein bisschen erschöpft, dabei aber dennoch so erleichtert und fröhlich, dass Darius sich zusammenreißen musste, ihm nicht so wie Jasper zuvor bei ihm selbst einfach um den Hals zu fallen.
Es war sicherlich eine unausgesprochene Vereinbarung, dass diese kleinen, äußerst privaten Erlebnisse zwischen ihnen nun in dieser öffentlichen Gesellschaft garantiert nicht stattfinden würden. Vermutlich war es ebenso ein ungeschriebenes Gesetz, das alles, was heute passierte, am nächsten Tag schon wieder vergessen oder zumindest ignoriert werden würde.
Doch gerade aus diesem Grund wollte er den restlichen Abend nach Strich und Faden auskosten. Ein einziges Mal den Moment leben, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was danach kommen würde.
Als sie voreinander standen und sich ihre Blicke trafen, wusste Darius für einen Moment nicht, wohin mit seinen Armen, ehe er zaghaft ein höfliches Händeschütteln initiierte, um sich noch einmal bei seinem Konzertmeister zu bedanken.
Alfred jedoch lächelte so gütig wie eh und je, ignorierte seine Hand und schloss Darius stattdessen für einen kurzen Moment des Glücks fest in seine Arme.
Es waren nur einige Sekunden, doch während Darius diese beinahe alltägliche Geste mit geschlossenen Augen einfach nur genoss, fühlte es sich an, als sollte es genau so sein. Als wolle er nie wieder woanders sein als in diesen Armen.
„Herzlichen Glückwunsch, Maestro“, Alfreds Stimme drang leise in sein Ohr und klang unendlich sanft, ließ die knappe Umarmung so viel weniger beiläufig im allgemeinen Getümmel wirken, als sie sicherlich sein sollte, „Auf dass noch sehr viele wunderbare gemeinsame Konzerte folgen mögen!“