„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“
Eine bekannte Stimme riss ihn aus einem leichten Halbschlaf, in den er gar nicht bewusst, sondern wohl ganz automatisch durch die gleichmäßig schaukelnde Bewegung der Straßenbahn gefallen war.
Noch etwas benommen blickte Darius in ein ebenso wohlbekanntes Gesicht und nahm mit einem gar nicht mehr so schläfrigen Lächeln die Tasche vom Sitz.
Alfred Wunderlich sah ihn aus seinen gutmütigen, warmen Augen an und lächelte ebenso, ehe er sich leicht räusperte und wohl etwas peinlich berührt näher zu ihm beugte.
„Wenn Sie erlauben, Maestro – Ich muss Ihnen etwas recht Persönliches und durch und durch Unangebrachtes anvertrauen“, begann er mit gedämpfter Stimme und Darius‘ Herz setzte einen Schlag aus, als er sanft seine Hände nahm und in die seinen schloss.
„Ich wollte es Ihnen eigentlich erst nach dem Konzert sagen, immerhin müssen wir konzentriert arbeiten, aber ich kann nicht mehr länger warten“, fuhr Alfred fort und ein deutlicher Rotschimmer hatte sich auf seine Wangen gelegt.
Er beugte sich noch weiter in seine Richtung, ungeachtet der anderen Menschen in der Bahn, die Darius überhaupt nicht mehr wahrnahm. Einzig und allein Alfred war in seinem Bewusstsein, die Berührung seiner warmen Hände und der intensive Blick, mit dem er ihn ansah, ehe seine Wimpern flatterten, als er die Augen schloss und seinem Gesicht ganz nahe kam.
Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, schreckte Darius beim durchdringenden Klang der Alarmfunktion seines Mobiltelefons auf und musste sich erst einmal einige Momente lang sammeln.
Was für ein alberner Traum, dachte er für sich selbst, schaltete den störenden Wecker aus und vergrub mit einem Seufzen noch einmal kurz den Kopf im Sofakissen.
Wie konnte es sein, dass man sich nach über zwölf Stunden Schlaf um einiges erschöpfter und ausgelaugter fühlte, als wenn man die gesamte Nacht über wach gewesen war? Während er letzten Endes doch gleich aufstand, um nicht versehentlich wieder einzuschlafen, ließen ihn die Bilder und Empfindungen aus dem Traum nicht mehr los.
Das alles war einzig und allein Theresas Schuld, sie hatte diese hanebüchene Vermutung aufgestellt und nun träumte er schon davon?
Die Kaffeemaschine röchelte ein bisschen, als sie die letzten Tropfen aus dem Filter in die Kanne spuckte und als Darius den heiß ersehnten Kaffee nach der unendlich langen Wartezeit nun in eine Tasse gießen und sich damit an den Küchentisch setzen konnte, beschloss er, dass er den Traum in dieselbe dunkle Ecke seines Bewusstseins schob, in der er auch den Gedanken an Gabriel aufbewahrte.
Auch wenn er sich eingestehen musste, in seinem Leben nicht ein einziges Mal romantische Gefühle für eine Frau gehabt zu haben und Alfred Wunderlich nicht nur ein talentierter Musiker, sondern auch ein durchaus attraktiver Mann war, konnte er sich derartige Verwirrungen nun wirklich nicht leisten.
Denn wenn Darius nur drei Dinge in seinen knapp dreißig Jahren auf dieser Welt gelernt hatte, dann waren es mit Sicherheit in eben dieser Reihenfolge Klavierspielen, Musiktheorie und dass die meisten Männer sich für Frauen interessierten. Und wenn er sich die letzten Tage nur halbwegs zu Herzen nahm, sollte er langsam auch einsehen, dass er um des Orchester und des Konzert willens bei der Sache bleiben und sich von nichts und niemandem davon ablenken lassen sollte.
Als er sich die Zunge am Kaffee verbrannte, fiel ihm ebenso siedend heiß die Kadenz für Jasper wieder ein. So viel zum Thema Ablenkung.
Das einzige, was ihn jetzt noch rettete, war dass er das Telefon in einem Anfall von tatsächlich Umsicht wohl vor dem ohnmachtsähnlichen Schlaf wieder eingeschaltet hatte und der Wecker noch auf die übliche Zeit gestellt war.
Er hatte also neben der eingeplanten Zeit für die reguläre Morgenroutine noch gut zwei Stunden, um Stoßgebete an den Himmel zu schicken, dass sein müdes Gehirn zu irgendetwas anderem in der Lage war, als ihn panisch das Smartphone in die Hand nehmen zu lassen und zu hoffen, dass er über Nacht weder Anrufe noch Nachrichten empfangen hatte.
Tatsächlich schien Gabriel zumindest für den Moment seine Versuche aufgegeben zu haben, lediglich Theresa hatte ihm geschrieben, dass er auch wirklich schlafen sollte, ihm eine gute Nacht gewünscht, sich für den Abend bedankt und noch ein Kussmund-Emoji hintendran eingefügt.
Er schickte die kleine Abbildung eines gelben Gesichts mit geschlossenen Augen zurück, dessen Aufschrift „zzz“ wohl bedeuten sollte, dass es schnarchte. Kurz darauf vibrierte das Telefon und auf dem Bildschirm erschien zusammen mit einem sehr unvorteilhaften, in einer lustigen Situation gegen ihren Willen aufgenommenen Foto von ihr Theresas Name.
Darius verdrehte entnervt die Augen, nahm den Anruf aber trotz des Missmutes an und brummte ins Telefon: „Was auch immer du sagen oder fragen willst, um diese Uhrzeit ist die Antwort Nein!“
Kurz herrschte Stille, dann hörte er Theresas viel zu laute und für die Zeit des Tages auch viel zu aufgedrehte Stimme ein bisschen schnippisch durch den Hörer dringen: „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Darius. Eigentlich hatte es mich nur interessiert, ob du gut geschlafen hast und ein wenig zur Ruhe gekommen bist, aber dann weiß ich die Antwort ja schon.“
„Sonst hast du weiter nichts zu tun?“, fragte er tonlos und rieb sich mit der freien Hand die Schläfen.
„Du bist ein unausstehlicher Morgenmuffel, weißt du das?“, empörte sich Theresa, ließ sich aber nicht von ihrer Mission abbringen, ihn in den Wahnsinn zu treiben, „Trink erst mal deinen Kaffee. Ferdinand lässt fragen, ab wann du den Saal heute für die Generalprobe brauchst. Er wollte wohl noch ein paar Änderungen in der Bestuhlung vornehmen, aber er meinte, wenn du“-
Darius unterbrach sie lauter als beabsichtigt: „Morgen. Nicht heute. Richte ihm einen schönen Gruß aus, dass er bitte mal in seinen Kalender schauen soll. Heute ist noch einmal reguläre Tuttiprobe, morgen ist Generalprobe.“
Wieder herrschte kurz Schweigen.
„Ich möchte jetzt ja nicht dein Weltbild zerstören, Darius“, sagte Theresa und wirkte gar nicht mehr so fröhlich, „Aber morgen ist das Konzert! Ich weiß nicht, was in deinem zerstreuten Kopf vor sich geht, aber deine fünf Tage Galgenfrist sind morgen vorbei und ich wollte lediglich sicherstellen, dass du nicht von plötzlichen Zuschauern bei deiner Generalprobe überrascht wirst!“
Darius fühlte sich, als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über seinen Kopf geschüttet und er war für einige Momente sprachlos.
„Aber-“, begann er schockiert, „Ich hatte doch alles geplant, damit – Moment!“
Er brach ab, als er noch einmal nachrechnete. Das ergab alles keinen Sinn!
Dann jedoch fiel ihm mit einem Blick in den Kalender des Telefons auf, dass trotz der missverständlichen Formulierung, ob „in fünf Tagen“ den fünften Tag mit einbezog oder nicht, das Datum der Aufführung doch immer dasselbe blieb.
Fluchend sprang er vom Tisch auf und der Stuhl fiel mit einem Poltern nach hinten um. Darius fluchte noch einmal und hielt das Telefon wieder ans Ohr.
„Darius?“, hörte er Theresas besorgte Stimme.
„Was!“, fuhr er sie unsanft an.
Theresa klang fast schon verzweifelt, „Darius, wenn dir das alles über den Kopf wächst, dann sag es mir! Es ist nicht schlimm, wir finden sicherlich eine Lösung. Ich mache mir Sorgen, diese Belastung macht dich noch kaputt!“
„Das ist Unsinn“, sagte Darius und bemühte sich, seine Stimme glaubhaft ruhig klingen zu lassen.
Es gelang ihm in Anbetracht der Umstände nur mäßig. Ganz abgesehen von diesem vermeintlich fehlenden Tag, hatte Theresa es mal wieder gekonnt gemeistert, dass er seine gesamte Existenz durch ihre übertriebene Sorge infrage stellte.
„Mir geht es gut. Das war lediglich eine einmalige Sache – So etwas wird nicht wieder passieren und ich bin mir sicher, wir schaffen es dennoch mit Bravour! Die Musiker haben jede Menge Potenzial, sie sind motiviert, das werden sie sich nicht von meiner lückenhaften Organisation verderben lassen!“
„Darius“, sagte Theresa ernst, „Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Mir geht es nicht um dieses blöde Konzert, sondern um dich!“
„Dieses sogenannte ‚blöde Konzert‘ entscheidet über meine berufliche Zukunft!“, gab er zu bedenken, aber Theresa war erbarmungslos.
„Und dein Beruf ist dir wichtiger als deine Gesundheit?“, fragte sie.
Einen Moment lang wusste er nicht, was er dazu noch sagen sollte. Dann jedoch entschied er sich im Angesicht der Tatsache, dass er nun wirklich mit der Arbeit beginnen sollte, für ein einsichtiges Einlenken, auch wenn ihm absolut nicht danach war, Theresa in dieser Sache Recht zu geben.
„Mir geht es gut“, sagte er noch einmal, diesmal wirklich etwas ruhiger.
Theresa seufzte leise, als würde sie ihm nicht glauben.
„Es war alles ein bisschen stressig, aber ich bekomme das schon hin“, sagte Darius, „Wenn irgendetwas sein sollte, melde ich mich bei dir – Mach dir keine Sorgen um mich. Manchmal glaube ich fast, du vergisst, dass ich mittlerweile erwachsen bin und auch einige Jahre ohne dich in meinem unmittelbaren Umfeld überlebt habe!“
Das klang zugegeben nicht ganz so versöhnlich, wie er es geplant hatte. Aber was erwartete sie um diese Uhrzeit, noch ehe er seine erste Tasse Kaffee ausgetrunken hatte?
„Ich meine es doch nur gut“, sagte Theresa leise.
Darius musste tatsächlich etwas lächeln, obwohl sie das über das Telefon hinweg gar nicht sehen konnte: „Das weiß ich doch.“
Kurz schienen sich beide wieder für einen Moment zu sammeln.
„Sag Ferdinand, dass ich zu ihm ins Büro komme, sobald ich da bin. Er soll mir etwa zwei Stunden geben, damit sollte noch genügend Zeit für einen gemeinsamen Kaffee und die Planung der Raumbelegung sein“, meinte Darius schließlich.
Theresa schnaubte, aber er meinte sogar, ein leichtes Schmunzeln in ihrer Stimmlage vermuten zu können.
„Du bist unverbesserlich!“, sagte sie, „Aber vergiss nicht, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du Hilfe brauchst.“
Kurz danach fügte sie noch hinzu: „Egal wobei!“
Darius lachte auf, „Das trifft sich gut, ich brauche noch die Kadenz für Violine in Haydns Sinfonia Concertante!“
„Ach, lass mich doch in Ruhe!“, lachte Theresa, „Du weißt genau, wie ich das gemeint habe.“
„Danke“, sagte er sanft, „Ich werde bei Bedarf darauf zurückkommen.“
Theresa lachte wieder, dann klang sie wieder etwas ernster.
„Sehen wir uns heute?“, fragte sie.
Darius seufzte leise.
„Ich weiß es noch nicht“, sagte er dann wahrheitsgemäß.
Theresa aber lenkte schnell ein, „Spätestens morgen aber. Ich werde auf jeden Fall da sein und du kannst sichergehen, dass ich äußerst kritisch mit meiner anschließenden Bewertung sein werde!“
Er musste lachen.
„Ich wäre auch untröstlich gewesen, wenn nicht!“, scherzte er.
„Pass auf dich auf, Darius“, sagte Theresa, „Ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag. Vergiss nicht, ab und an eine Pause einzulegen – Allerdings nicht unbedingt zum Rauchen!“
Darius schmunzelte.
„Ich rufe dich an, wenn ich doch kurz Zeit haben sollte. Spätestens morgen sehen wir uns. Mach dir nicht so viele Gedanken“, meinte er, „Bis bald!“
„Bis bald“, sagte sie.
Als er schon das Telefon vom Ohr genommen hatte und im Begriff war, das Gespräch mit einem kurzen Antippen des Bildschirms zu beenden, hörte er noch, wie Theresa hinzufügte: „Ich hab dich unendlich lieb, Darius. Vergiss das nicht.“
Er wollte noch etwas dazu erwidern, aber sein eigener Finger war schneller gewesen und so sah er noch einige Momente fast zärtlich kopfschüttelnd auf das Smartphone, ehe er sich besann, dass er sich nun wohl doch besser beeilen sollte. Und während er die müden Knochen in einem Anflug von plötzlicher Inspiration ans Klavier bewegte, wurde der restliche Kaffee kalt.