Die restliche Besprechung der geplanten Abläufe war schnell erledigt, denn Darius hatte Alfreds Meinung nach an alles gedacht.
Dass die anderen Musiker danach noch mit teilweise wirklich bescheuerten und eigentlich selbsterklärenden Fragen daherkamen, stimmte ihn zugegeben etwas ungnädig, denn es zog das gesamte Unterfangen unnötig in die Länge.
Während Darius also mit scheinbarer Engelsgeduld manche Dinge mehrmals erklärte und nochmal Schritt für Schritt durchging, wurde Alfred etwas unruhig.
Immerhin wollte er danach noch mit Jasper sprechen, der ihn zwar gewohnt freundlich begrüßt hatte, jedoch immer wieder zu Erwin zu blicken schien. Es machte Alfred verrückt.
Er hatte die beiden nicht nur enttäuscht, sondern anschließend auch versetzt. Schließlich hatte er noch gemeint, wiederzukommen – was sich nun als falsch herausgestellt hatte.
Alfred musste sich entschuldigen, wirklich.
Am besten für alles.
Für alles, was die letzte Zeit zwischen ihnen gelaufen oder eben nicht gelaufen war. Immerhin wollte er nicht über seine Glücksgefühle bezüglich der einnehmenden Verliebtheit die Menschen vergessen, die ihn all die Zeit begleitet und unterstützt hatten.
Darius wirkte mittlerweile nurmehr gestresst, bemühte sich aber wohl, weiterhin ruhig und geduldig zu bleiben, als er zum dritten Mal erklärte, dass er die genaue Ankunftszeit durch etwaige unberechenbare Faktoren auf der Fahrt nicht genau voraussehen konnte.
Am Pult lag schon fein säuberlich der Stapel mit den neuen Partituren, aber bis sie dann tatsächlich selbige ausgehändigt bekamen, verging nochmals fast eine ganze Stunde.
Eigentlich hatte Alfred gehofft, dass sie wirklich früher fertig sein würden.
Er war müde, er war schließlich spät heimgekommen und dann noch viel zu aufgekratzt gewesen, um gleich ins Bett zu gehen.
So schön die Gründe dafür auch gewesen waren, er hatte wieder geträumt.
Auch wenn es nicht halb so schlimm gewesen war wie die Nacht zuvor, so wünschte er sich doch, dass er einfach den restlichen Tag im wohligen Halbschlaf bei irgendeiner Talkshow auf der Couch seines Vaters verbringen konnte.
Die Einladung hatte er nicht abschlagen können, das lag nicht einmal nur daran, dass er ihn abholen wollte, sondern in erster Linie an seinem schlechten Gewissen.
Sie hatten nur kurz telefoniert und sein Vater hatte angedeutet, dass er amal ein ernstes Wörtchen mit ihm reden musste. Er würde ihn abholen, aber eigentlich hatte Alfred wenig Lust auf ein solches Gespräch.
Worüber sollten sie schon sprechen?
Es würde nichts bringen, die alten Geschichten wieder und wieder aufzuwärmen. Vor allem, weil sein Vater es damals gewesen war, der davon sowieso nichts hatte wissen wollen.
Warum sollte er ihm plötzlich doch glauben, nur weil dreißig Jahre vergangen waren? Und selbst wenn er es tat, was würde es daran ändern?
Aber wenn er über die aktuelle Situation reden wollte, würde Alfred gar nicht wissen, was er sagen sollte. Er war sich bewusst, dass er seinem Vater keinerlei Rechenschaft schuldig war.
Eigentlich war es ja auch etwas Schönes, frisch verliebt zu sein.
Und das war er, stellte er abermals fest, als Darius Ottesen zu ihm trat, ihm mit einem fast schon schelmischen kleinen Lächeln seine Partitur übergab und dabei sanft seine Hand streifte.
Und wie er verliebt war. In Alfreds Ohren rauschte das Blut und ihm stieg die Röte ins Gesicht, als Darius ihm kurz zuzwinkerte, ehe er sich zu Jasper wandte.
Aber sein Vater würde sich wohl durchaus daran stören, dass es eben keine adrette Dame, sondern der Herr Kapellmeister vom Beethovengang war.
Als sie dann diese überaus zähe Besprechung schlussendlich hinter sich gebracht hatten, klopfte Alfreds Herz bis zum Hals. Seine Hände waren schweißnass, als er sich zu Jasper wandte und sich räusperte.
Dieser sah ihn fast überrascht wieder mit einem Lächeln an, das so freundlich wie eh und je war, und mit einem Mal waren alle Worte, die Alfred sich zurecht gelegt hatte, wieder aus seinem Kopf verschwunden.
Während um sie herum die Leute schon zum Gehen aufbrachen, wusste Alfred nicht so recht, wohin mit sich. Irgendwie hatte er sich eine einfache Entschuldigung leichter vorgestellt, aber er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte.
„Na, was habt ihr noch so wichtig?“, fragte schließlich Erwin und schlug ihm lachend auf die Schulter, noch bevor er überhaupt ein Wort herausgebracht hatte.
Alfred druckste herum.
Erwin schien schon wieder zur Tagesordnung übergegangen zu sein.
Jasper allerdings schien fast besorgt.
„Was wolltest du sagen?“, fragte er mit leicht piepsiger Stimme.
Alfred holte tief Luft.
Erwin unterbrach ihn, „Er wollte uns endlich beichten, dass er eine Affäre mit der Frau Berentz hat! Was denn sonst?“
Dass Erwin danach schallend lachte, ließ Alfred sich nur bedingt besser fühlen.
„So ein Unsinn“, meinte er stirnrunzelnd, „Es war nur so, dass-“
Jasper schien tatsächlich einige Momente zu brauchen, bis er verstand, dass Erwin nur einen Spaß gemacht hatte.
„Ah!“, machte er nämlich überrascht, nickte aber verständnisvoll, „Dabei dachte wirklich, dass du mit Darius-“
Auf Alfreds wohl überaus schockierten Blick hin, brach er aber ab und plötzlich wich auch Jasper sämtliche Farbe aus dem Gesicht, „Aber- aber du kannst doch nicht- Direktor Berentz - wenn er das erfährt!“
Erst als Erwin schallend lachte, wandte sich Jasper atemlos zu ihm und schnaufte erst mal durch.
Auch Alfred atmete erleichtert aus, als Jasper ihm freundlicherweise nicht einmal erklärte, was genau er mit dem Einwand gemeint hatte. Wahrscheinlich war das mal wieder nur diese selektive Wahrnehmung seines neu gewonnenen Verfolgungswahns. Jasper konnte unmöglich etwas ahnen.
Und schon gar nicht konnten sie darüber in Erwins Gegenwart sprechen.
Jasper aber schien noch immer nicht ganz zu verstehen.
„Das war wieder ein Scherz, nicht wahr?“, erkundigte er sich unsicher.
Erwin schüttelte grinsend den Kopf, „Wo denkst du hin?“
Jasper seufzte schwer.
Alfred fühlte sich gleichermaßen amüsiert wie auch ein bisschen fehl am Platz.
Aber so war es sicher nun einmal, wenn der Dritte im niemals ausgesprochenen Bunde sich rar machte – die beiden anderen rückten näher zusammen.
„Jetzt bin ich verwirrt“, gab Jasper zu.
Alfred räusperte sich wieder.
Ein bisschen froh war er zumindest, dass die Darius-Frage nicht wieder aufkam.
Dennoch hatte er noch etwas zu erledigen.
„Es tut mir leid“, platzte es schließlich aus ihm heraus.
Sowohl Jasper als auch Erwin starrten ihn an.
„Was tut dir leid?“, fragte Jasper.
Erwin gluckste vor Lachen, „Deine Affäre mit Theresa Berentz?“
„Ach Erwin!“, schimpfte Jasper, „Lass Alfred doch ausreden!“
Alfred holte tief Luft.
„Es tut mir leid, dass ich euch versetzt habe. Es tut mir leid, dass ich die letzten Tage sehr wenig Zeit für euch hatte“, brachte er schließlich unter dem direkten Blick zweier verwunderter Augenpaare heraus, „Es tut mir leid, dass ich so ein schlechter Freund bin.“
Kurz herrschte Stille.
Die anderen Musiker hatten den Raum längst verlassen.
Jasper starrte ihn an, als wäre gerade seine Welt zusammengebrochen.
„Wieso solltest du ein schlechter Freund sein?“, fragte er verwirrt.
Alfred trat unruhig von einem Bein aufs andere, „Ich weiß, dass wir früher sehr viel mehr miteinander unternommen haben als es mir derzeit möglich ist. Keineswegs will ich damit ausdrücken, dass ihr mir nicht mehr wichtig seid.“
Jasper starrte ihn an, als hätte er einen Geist gesehen.
„Im Gegenteil“, fuhr Alfred fort, „Ich hoffe wirklich, dass ihr mir verzeihen könnt, dass ich- ja, dass ich eben ein schlechter Freund bin.“
Noch eine ganze Weile herrschte betretenes Schweigen.
Dann musste Erwin schallend lachen.
„Ein Hornochse bist du“, meinte er fast gütig, „Ein schlechter Freund – nun, also nun ja, also wirklich. So einen Mist habe ich lange nicht mehr gehört!“
Jasper schüttelte den Kopf und pflichtete ihm bei:
„Warum sollten wir dir übel nehmen, wenn du mal keine Zeit hast?“
Erwin lachte, „Immerhin verstehen wir schon, dass du ein viel gefragter und schwer beschäftigter Mann bist!“
Alfred lächelte schief. Wirklich erleichtert fühlte er sich nicht.
So ganz konnte er noch nicht fassen, dass sie es ihm gar nicht übel nahmen.
Wahrscheinlich war er mal wieder einzige, der alles so eng sah. Am Ende hatten die beiden darüber nie nachgedacht, ob sie wirklich Freunde waren oder doch nur Arbeitskollegen.
Ja, am Ende bedeuteten sie ihm gar mehr als er ihnen.
Aber als könnte Jasper Gedanken lesen, legte er den Arm um Alfreds Schulter.
„Ist doch kein Problem“, meinte er mit einem zuversichtlichen Lächeln, „Wenn man befreundet ist, heißt das ja nicht, dass man ständig nur noch miteinander rumhängen muss. Das wichtigste ist, dass man immer füreinander da ist, wenn es drauf ankommt!“
Alfred lächelte dankbar.
„Nun ja“, mischte sich Erwin grinsend ein, „Ich finde das Wichtigste bei einer Freundschaft ja immer noch, dass man sich gemeinsam im Gewölbekeller eines deutschen Klosters betrinkt!“
Da musste sogar Alfred lachen und eine ganze Weile lachten sie alle drei.
„Genug von der Gefühlsduselei“, meinte Erwin schließlich, „Wünscht mir lieber Glück, dass ich Sonntag noch lebe. Ich muss jetzt meiner Frau klarmachen, dass wir fast eine Woche weg sein werden.“
„Oh-oh“, machte Jasper und lachte.
„Wenn sie mir in ihrer Wut Gift ins Abendessen mischen sollte, versprecht mir, dass ihr euch auf meiner Beerdigung betrinken werdet“, verlangte Erwin grinsend, dann hob er die Hand zum Gruß, „Wir sehen uns hoffentlich!“
„Wird schon schief gehen – bis morgen!“, rief Jasper ihm noch hinterher, dann wandte er sich noch kurz zu Alfred.
„Da musst du dir echt keine Sorgen machen“, wollte er ihn scheinbar immer noch beschwichtigen und mittlerweile kam Alfred sich tatsächlich etwas einfältig vor, eine solche Ansprache gehalten zu haben.
Jasper lächelte etwas unsicher, „Ich hatte selbst schon Angst, dass es so rüberkommt, als würden wir dich ausschließen – aber wir wollten dich ja auch nicht nerven, und du warst oft-“
Hastig schüttelte Alfred den Kopf und lächelte sanft.
„Unsinn“, meinte er, „Wenn überhaupt, dann schließe ich mich da selbst aus. Aber immerhin sind wir erwachsene Leute und können miteinander reden.“
Jasper strahlte über das ganze Gesicht.
„Und in Schöntal sind wir sogar im selben Zimmer“, erinnerte er Alfred an seine geplante Pyjama-Party.
Manchmal kam es ihm vor, als wäre er wieder in der Schule und eine Klassenfahrt stünde bevor. Es passte sehr gut zu seinem allgemeinen Gefühlsleben.
Vielleicht hatte irgendein längst benötigter Nachreifungsprozess begonnen, aber dennoch war es äußerst peinlich, sich mit vierzig Jahren wie ein idiotischer Teenager zu fühlen, der zum ersten Mal verliebt war.
Denn als er mit Jasper den Raum verließ, um sich auf den Weg zur Bahn zu machen, entdeckte er noch den altbekannten Aktenkoffer am Pult, auch wenn von Darius nirgendwo eine Spur war.
„Wir sehen uns dann am Sonntag“, meinte Jasper fröhlich und fiel Alfred kurzerhand wieder zu einer Umarmung um den Hals, „Ich freu mich schon!“
Alfred lachte und tätschelte etwas unbeholfen seinen Rücken.
„Üb nicht so viel“, riet er ihm dann lächelnd, „Ruh dich lieber ein bisschen aus, bevor wir dann tagelang nichts anderes tun.“
Jasper zuckte mit den Schultern.
„Kann ich nicht versprechen“, meinte er grinsend, „Du hingegen könntest ruhig ab und an ein paar Übungseinheiten zuhause einlegen!“
Wie als würde ihm danach erst auffallen, was er gesagt hatte, bekam Jasper einen hochroten Kopf.
„Das war natürlich nur ein Scherz“, piepste er.
Alfred lachte und winkte ihm noch nach, als er sich schließlich verabschiedete.
Die Bahn würde in ein paar Minuten abfahren.
Aber er konnte den vergessenen Koffer nicht einfach hier so gänzlich unbeaufsichtigt stehen lassen, ohne wenigstens zu versuchen, ihn wieder mit seinem rechtmäßigen Besitzer zu vereinen.