Ganz sicher war sich Darius nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass er Theresa auf dem Weg nach draußen nicht einmal entdeckte.
Zwar war er durchaus froh, dass sie ihnen nicht wieder auflauerte, aber das Telefon anschalten zu müssen, um sie nach einem Treffpunkt zu fragen, würde auch wieder bedeuten, dass er sich mit der ganzen Sache um Gabriel auseinandersetzen musste, bevor er die Chance gehabt hatte, noch einmal darüber zu reden.
Es war vielleicht unwahrscheinlich, dass er ihm in diesen geschätzten Minuten zuvorkommen würde, ehe er Theresa erreichen würde, dennoch erwischte sich Darius ganz allgemein bei dem Gedanken, sein Telefon am liebsten in seinem bis dato komplett ungenutzten Spind vergessen zu haben. Und eigentlich wollte er an solche Dinge nicht einmal die Aktivität einer halben Gehirnzelle verschwenden, wenn er nun kurz davor war, die betont allerletzte Zigarette in der Gesellschaft von Alfred Wunderlich rauchen zu dürfen – aber vermutlich würde auch hier Theresa ihm über das Setzen von Prioritäten ins Gewissen reden.
„Wenn Sie mir eine recht unangebrachte Frage erlauben, Darius?“, meldete sich nach einigen sehr schweigsamen Momenten Alfred zögerlich zu Wort.
Fast schon ruckartig wandte Darius seinen Kopf zu ihm und signalisierte damit wohl unterbewusst aber doch recht deutlich ein Nein, denn Alfred sprach nicht weiter, sondern sah ihn nur mit einem sehr unsicheren Lächeln an.
„Selbstverständlich“, sagte Darius und hoffte, dass es in den Ohren seines Gegenübers überzeugender klang als in seinen eigenen.
„Theresa Berentz-“, begann Alfred und schien ein bisschen herumzudrucksen, „Also ich meine, es geht mich zwar absolut nichts an, aber-“
Darius hob mit einem fast schon herausfordernden Lächeln die Augenbrauen, aber Alfred brach beschämt ab und beschleunigte stattdessen seine Schritte kurzerhand, um genügend Vorsprung zu gewinnen, derjenige zu sein, der die Tür nach draußen öffnete. Darius konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Ich bitte Sie, Alfred“, sagte er sanfter, „Waren wir nicht schon soweit, uns einvernehmlich darauf geeinigt zu haben, dass es uns nicht kümmern sollte, was allgemein als angebracht gilt und was nicht?“
Alfred sah ihn fast schockiert an und Darius biss sich verhalten auf die Unterlippe. Der Klang seiner Worte lag nun wohl tatsächlich an einer bestimmten Grenze, die ein Mann wie Alfred Wunderlich besser nicht überschritten wusste und Darius nahm sich fest vor, in Zukunft doch nun endlich darauf Rücksicht zu nehmen. Und tatsächlich bestätigte Alfred in gewisser Hinsicht sogleich seine Vermutung, die zum Teil eventuell fast schon in eine Befürchtung überging:
„Ich gebe zu, es ist mir oft ein Rätsel, worauf Sie hinauswollen“, sagte er und hätte er dabei nicht ein solch sanftes Lächeln auf seinen Zügen getragen, wäre Darius vor Scham im Boden versunken, „Aber manchmal glaube ich fast, dass ich es auch gar nicht immer wissen möchte?“
Darius lachte auf, „Glauben Sie mir, das möchten Sie mit allergrößter Wahrscheinlichkeit manchmal wirklich nicht! Bisweilen ist mir selbst ja gar ein Rätsel, worauf ich überhaupt hinaus will.“
Er fühlte sich durchaus etwas ertappt, als Alfred ihm vergnügt zuzwinkerte und beschäftigte nun seine eigenen Hände damit, hastig die Zigaretten und Streichhölzer aus der Tasche zu suchen.
„Ich weiß ja, dass Sie für gewöhnlich nicht rauchen, aber- Wenn ich Ihnen eine Ihrer eigenen Zigaretten anbieten dürfte?“, scherzte Darius und hielt Alfred die Packung hin.
Alfred lachte verhalten auf, bediente sich dann aber sogleich, „Aber liebend gern doch! Woher wissen Sie denn, dass ich diese Marke bevorzuge?“
Darius vergaß über das eigene, erleichterte Lachen beinahe die Tatsache, dass er nicht einmal schlagfertig genug war, darauf eine amüsante Antwort parat zu haben.
„Haben Sie vielleicht Feuer für mich?“, fragte stattdessen Alfred und Darius musste sich für einen Moment wahrhaftig beherrschen, nicht einfach laut loszuprusten. Egal wie absurd diese Situation im Grunde auch sein mochte, sie hatte durchaus etwas sehr Angenehmes für sich und insgeheim erwischte er sich dabei, dass er schon jetzt das gemeinsame Rauchen vermisste.
Darius nahm sich heraus, selbst ein Streichholz zu entzünden und Alfred die Flamme anzubieten. Tatsächlich beugte er sich nach kurzem Zögern leicht in seine Richtung und Darius schaffte es nicht schnell genug, die eigene Zigarette danach auch anzuzünden, ohne dass es unangenehm heiß an seinen Fingerkuppen wurde.
Reflexartig ließ er das Streichholz fallen und schüttelte kurz die Hand aus, woraufhin Alfred beinahe besorgt die Augenbrauen hob. Scheinbar wollte er auch etwas sagen, zumindest öffnete er nach dem ersten vorsichtigen Zug an der Zigarette den Mund, musste stattdessen aber heftig husten. Darius reagierte diesmal nicht schnell genug, starrte nur einige Momente fast schon schockiert den bekennenden, eigentlichen Nichtraucher an, dem die Zigaretten wirklich nicht zu bekommen schienen. Und schließlich fragten sie beinahe unisono:
„Ist alles in Ordnung?“
Darius musste entgegen seinen eigenen Willens schmunzeln und Alfred musste beim anschließenden Lachen wieder husten.
Mehrere Male schien er sich vergeblich zusammenreißen zu wollen, dass es aber nicht zu funktionieren schien, ließ in Darius zugegebenermaßen doch die Sorge wieder das Amüsement übersteigen. Vielleicht war es wirklich eine schlechte Idee, unter solchen Umständen überhaupt ans Rauchen zu denken.
Und Darius fühlte sich schuldig dafür, Alfred trotz dessen guter Vorsätze in gewisser Weise doch wieder dazu gebracht zu haben.
„Entschuldigen Sie bitte“, presste Alfred schließlich heraus und wischte sich verhalten über das Gesicht, „Das ist mir jetzt wirklich etwas peinlich.“
Er holte einige Male tief Luft, fast als würde er um Atem ringen und Darius musste die Sorge wohl wirklich ins Gesicht geschrieben stehen, denn Alfred schien sich zu einer Erklärung genötigt zu fühlen.
Verlegen deutete er auf die Zigarette in seiner eigenen Hand, „Ich befürchte wahrhaftig, dass Frau Berentz mit ihrem Urteil über das Rauchen recht hat! Nicht dass ich das nicht schon zuvor gewusst hätte, aber vielleicht sollte ich es wirklich einfach sein lassen.“
Darius nickte sanft, „Das erscheint mir durchaus sinnvoll.“
Alfred musste schmunzeln, „Man könnte eventuell sogar sagen, es wäre durchaus angebracht!“
Sie lachten beide und während Darius noch an seiner Zigarette rauchte, drückte Alfred seine nach noch nicht einmal der Hälfte mit einem fast schon entschuldigenden Blick im Aschenbecher aus.
„Ich sollte nicht rauchen“, sagte er bestimmt, jedoch lag ein fast schon schüchternes Lächeln auf seinen Lippen, „Wirklich nicht. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass man auch als Nichtraucher ein bisschen draußen stehen und anderen dabei zusehen kann!“
Darius fühlte sein zuvor beschwertes Herz einen kleinen Hüpfer machen, doch hatte er sich ja vorgenommen, sich nicht mehr so allzu weit aus dem sprichwörtlichen Fenster zu lehnen. Diese guten Vorwürfe warf er allerdings schnell wieder über Bord, als Alfred sich ein bisschen unsicher umsah und den Anschein machte, dass er sich wohl in den nächsten Momenten nach Hause entschuldigen würde; auch wenn er die Bahn nun verpasst hatte, es würde ja doch bald wieder die nächste fahren.
„Alfred?“, hörte Darius sich selbst fragen und der Angesprochene sah ihn sofort an, was Darius doch merklich erröten ließ, wo er sich nun seines Vorhabens bewusst wurde, „Da wir gerade ohnehin dabei sind, diverse Unangebrachtheiten zu erörtern-“
Alfred lachte auf, sah ihn aber aufmerksam an und Darius erwischte sich einmal mehr bei dem Gedanken, wie sehr ihm dieses markante Gesicht mit den warmen, freundlichen Augen doch auf einer gänzlich unangebrachten Ebene zusagte.
„Natürlich ginge es ja nur darum, im eventuellen Fall einer Notwendigkeit etwas Organisatorisches abklären zu können, aber-“, Darius stockte und fühlte sich mit einem Mal wie ein ziemlich idiotischer Teenager, „Würden Sie mir die Nummer ihres Mobiltelefons anvertrauen?“
Der Blick auf Alfreds Gesicht wechselte innerhalb von Sekunden zwischen verwirrt, amüsiert und komplett schockiert. Darius hatte sich gerade damit abgefunden, dass er schon wieder zu weit gegangen war, aber Alfred war anscheinend immer wieder für eine Überraschung gut.
„Für etwas Organisatorisches gebe ich meine private Nummer im Normalfall eher ungern her“, sagte er nämlich lachend, „Würde es sich allerdings um etwaige Notwendigkeiten handeln, die ein bisschen erfreulicher wären, müsste ich dennoch zugeben, dass ich gar kein Mobiltelefon besitze.“
Darius merkte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.
Egal ob es eine Abfuhr im wahrsten Sinne des Wortes oder nur ein unglücklicher Zufall war, aber in diesem Moment bemerkte er einmal mehr, wie töricht diese ganze Sache doch eigentlich war.
„Allerdings-“, sagte Alfred dann aber, weiterhin mit diesem fast schon gutmütigen Lächeln im Gesicht, als wolle er Darius lediglich einen Gefallen tun, „-habe ich zuhause noch ein furchtbar altmodisches Telefon. Haben Sie etwas zu Schreiben griffbereit?“
Darius kramte fast schon hastig in seiner Tasche, aber als ihm sein eigenes Telefon dabei in die Hände fiel, konnte er sich nicht dazu durchringen, es anzuschalten. Stattdessen nahm er einen Bleistift und die Partitur zu Hand, während ihm Alfred geduldig die Kombination der Zahlen diktierte, unter der er ihn privat erreichen konnte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob Beethoven meine Telefonnummer auf seinem Werk gutheißen würde, aber ich befürchte, er kann sich auch nicht mehr beschweren!“, sagte Alfred dann lachend, als er einen Blick auf die bekritzelte Partitur warf.
Mit hochrotem Gesicht las Darius noch einmal die ganze Nummer zur Bestätigung vor und sah Alfred mit einem unsicheren Lächeln an.
„Exakt!“, sagte dieser und lachte leise, wobei Darius auffiel, dass auch auf seinen Wangen ein leichter Rotschimmer zu liegen schien, „Ich bitte jedoch darum, diese Nummer nicht für Organisatorisches, sondern ausschließlich für Privates zu verwenden. Ich kenne beispielsweise ein nettes Café, in dem es sich am Wochenende gemütlich frühstücken lässt.“
Darius fragte sich einige Momente lang, ob er das nun richtig gehört hatte.
Sein Herz setzte einen Schlag aus und begann danach, wie wild gegen seinen Brustkorb zu klopfen. Es war, als hätten sich seine Befürchtungen eventuell doch als falsch herausgestellt und Darius konnte sein Glück kaum fassen.
Davon abgesehen, dass Alfred Wunderlich ein unglaublich seltsamer Mensch war, der in der heutigen Zeit anscheinend wirklich noch kein Smartphone besaß, schien er nämlich gar nicht so desinteressiert wie Darius zunächst vermutet hatte.
Nicht nur hatte er ihm nun wirklich seine Telefonnummer gegeben, er hatte gar angedeutet, ob sie nicht einmal gemeinsam frühstücken wollten. Darius fragte sich gerade wirklich, ob ihm seine Wahrnehmung einen gewaltigen Streich spielte.
Doch dann schien es gar nicht mehr so relevant, denn er konnte sich ein fast schon übermütiges Lächeln nicht verkneifen.
„Ich frühstücke für gewöhnlich nicht“, sagte Darius fast schon bedauernd, was Alfred überrascht die Augenbrauen nach oben ziehen ließ, „Aber ich denke, an einem Wochenende und unter eben diesen Umständen könnte ich eine Ausnahme machen.“
Alfred lachte wieder und Darius steckte die Partitur, die nochmal ein ganzes Stück an persönlichem Wert gewonnen hatte, wieder sorgsam in seine Tasche. Das Klicken des Verschlusses schien fast ein Startsignal zu sein, denn wieder kam etwas Unruhiges in Alfreds verlegenes Treten auf der Stelle.
Fast als wäre er besorgt, dass jemand sie gemeinsam sehen konnte, dabei würde sicherlich niemand ahnen, dass sie hier nicht nur Organisatorisches diskutierten oder über das anstehende Konzert fachsimpelten.
„Wir sehen uns morgen“, sagte Darius schnell, um Alfred nicht das Gefühl zu geben, dass er ihn länger als notwendig aufhalten wollte.
„Die Bahn-“, begann Alfred und Darius nickte mit einem verständnisvollen Lächeln.
„Ich bedanke mich“, sagte Alfred dann und Darius konnte nicht umhin, als ihn fragend anzusehen, aber Alfred lächelte nur.
„Für den Gefallen mit den Zigaretten“, erklärte er und Darius schmunzelte.
„Und für all die komplett unangebrachten Situationen, in die Sie mich immer wieder gekonnt hineinmanövrieren“, fügte Alfred dann noch etwas leiser mit einem Augenzwinkern hinzu und Darius‘ Herz spielte vollkommen verrückt.
„Wir sehen uns morgen!“, sagte Alfred.
Darius nickte hastig und als sich Alfred zum Gehen wandte, sah er ihm noch eine gute Weile hinterher.
Erst als er zur Haltestelle abbog und somit aus seinem Blickfeld verschwand, besann sich Darius, dass Theresa noch immer auf ihn wartete und sich die gesamte Problematik um Gabriel mitnichten in Luft aufgelöst hatte.
In der angenehmen Gesellschaft von Alfred Wunderlich hatte er sich darum nur ein paar Augenblicke lang einfach keine Gedanken machen müssen.