Glücklicherweise wurde Nina des Geklimpers so schnell nicht müde.
Nach einer Weile klang es dann doch mehr und mehr furchtbar, doch sie verschaffte den beiden damit Zeit. Genug, um nach einigen sanften Küssen tatsächlich abzuspülen, alles wieder aufzuräumen und auch nochmals Kaffee aufzubrühen und sich damit in alle Ruhe auf dem Sofa niederzulassen.
Alfred hatte sich indessen wohl recht schnell wieder gefangen, doch Darius war, als sehe er diesen Mann nun in einem etwas anderen Licht.
In einem noch viel strahlenderen Schein, der nicht nur all seine unbekannten Facetten erahnen ließ, sondern Darius derartig in seinen Bann zog, dass er die Augen nicht mehr von diesem Anblick wenden konnte.
Was er in dieser einen entscheidenden Nacht im Park noch durch den Handkuss vermutet hatte, schien der Wahrheit zu entsprechen.
Alfred war nicht der Mensch für eine unverbindliche Liebelei.
Er gab sein Herz sicher nicht einfach so an den Nächstbesten weiter, sein ganzes Weltbild war durch Darius wohl ins Wanken geraten und nun trug dieser die Verantwortung, nicht leichtfertig damit umzugehen.
Ein bisschen aufgelöst wirkte Alfred noch immer, auch wenn seine Tränen längst getrocknet waren und sein Gesicht stattdessen ein zartes, fast ein bisschen schüchtern wirkendes Lächeln zierte.
Darius trank noch einen Schluck Kaffee, dann stellte er die Tasse auf dem Couchtisch ab und strich verträumt durch Alfred wilde, dunkle Locken.
„Ich weiß selbst nicht, wohin das jetzt alles führen soll“, meinte er leise und nickte in Richtung seines Musikzimmers, „Aber so war das weiß Gott nicht geplant, diese ganze Verwirrung tut mir wahnsinnig leid. Wir haben ausgemacht, dass sie eine Nacht hier schläft. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie morgen wieder losbekomme, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen!“
Alfred lächelte zaghaft.
„Um ehrlich zu sein“, begann er und stellte seine Tasse ebenfalls zur Seite, um sanft nach Darius‘ Hand zu greifen, „Ich habe zwar nicht ganz verstanden, worum es ging – aber wegen mir musst du dir diesbezüglich wirklich keine Gedanken machen.“
Darius hielt Alfreds Hand fest umfasst, auch als dieser sich wieder fast schon anhänglich an ihn schmiegte und beinahe erschöpft die Augen schloss.
„Ich kenne mich absolut nicht mit Kindern aus“, fuhr Darius leiser fort.
Alfred sah ihn aufmerksam an, als er händeringend nach Worten suchte.
„Woher soll ich wissen, was ich tun soll? Wann sie was eigentlich tun oder lassen müsste?“, er seufzte schwer und unterbrach sich selbst, noch bevor er seinen Gedankengängen hinreichend Luft verschafft hatte, „Sie kann unmöglich über Nacht bleiben. Schon allein wegen der Reise! Ich muss nochmals mit Theresa sprechen.“
Auf Alfreds Lippen lag ein feines Lächeln.
„Sie hat dich eben gern“, gab er zu Bedenken und so sehr Darius ihm das glaubte, es half einfach auch nicht weiter, „Und sicherlich möchte sie bald sowieso von selbst wieder nach Hause. Ich bin mir sicher, dass beide in dieser Sache vielleicht ein bisschen überreagiert haben und sich das bald wieder legt.“
Darius hob eine Augenbraue.
„Warum bin ich mir da bei meiner Familie gar nicht so sicher?“, fragte er frustriert, „Am Ende will sie noch hier einziehen oder irgendetwas dergleichen!“
Alfred richtete sich leicht auf und küsste seine Stirn.
„Zerbrich' dir nicht den Kopf über Dinge, noch bevor sie passieren“, meinte er liebevoll und Darius sank seufzend in seine Arme.
Dann musste er selbst lächeln.
„Sagt wer?“, neckte er Alfred schmunzelnd, „Ich bin nicht der Meinung, dass du hier in der Position bist, jemanden aufgrund seines Grübelns zu mäßigen.“
Alfred lachte und lehnte den Kopf gegen Darius‘ Schulter.
„Touché!“, gab er zu.
Dann zog er Darius noch etwas näher, damit sie es sich wieder ein bisschen gemütlich machen konnten – vermutlich die Ruhe vor dem Sturm, denn sobald Nina keine Lust mehr haben würde, wäre es damit wohl auch vorbei.
Darius seufzte schwer und kuschelte sich näher an Alfred.
„Außerdem habe ich absolut nicht die leiseste Ahnung, was ich tun soll, wenn du nach Hause gehst“, meinte er leise, „Ich meine, sie will ja sicherlich irgendwie beschäftigt werden, denn ich gehe immer noch fest davon aus, dass sie unausstehlich ist, wenn ihr langweilig wird.“
Alfred hielt ihn bei seiner zweifelnden kleinen Ansprache fester umfasst, ließ ihn aber aussprechen, wofür Darius unendlich dankbar war.
„Vor allem“, er schaffte es nicht, seine Stimme nur halb so frustriert klingen zu lassen wie er sich fühlte, „Eigentlich müsste sie sicher Hausaufgaben machen- nein, sie müsste eigentlich längst zur Schule gegangen sein und jetzt das Gelernte nachholen oder zumindest in Erfahrung bringen – und ich habe keine Ahnung, wann sie wieder was zu Essen braucht oder wann sie im Bett sein sollte!“
Alfred streichelte über seinen Rücken.
„Diese Form von Verantwortung ist mir fremd und ich habe auch absolut kein Interesse daran, sie zu übernehmen!“, beschwerte sich Darius mittlerweile klagend.
Irgendwo war er sich noch bewusst, dass er sich wahrscheinlich in die Sache hineinsteigerte, immerhin würde sie nicht für immer bleiben, sondern lediglich solange, bis sich die Situation wieder entspannt hatte.
Aber vielleicht war er in dieser Hinsicht auch einfach zu sehr von den eigenen Erfahrungen geprägt. Für Darius fühlte es sich an, als wäre er spontan Vater geworden, ohne je darum gebeten zu haben – und ohne die leiseste Ahnung, was dabei auf ihn zukommen würde.
Insgeheim bewunderte er Theresa dafür, wie tapfer sie sich vor vielen Jahren in einer ähnlichen Situation geschlagen hatte. Und wenn er es genau bedachte, ergab vieles in ihrem Verhalten damals auf einmal erstaunlich viel Sinn.
Vielleicht begann er dadurch nun sogar ein bisschen, sie besser zu verstehen.
Niemals hätte er über manche Dinge so urteilen dürfen, das war nun klar.
Dennoch blieb die Lage anstrengend und zutiefst überfordernd.
„Wenn sie Hunger hat, wird sie dir das sicher mitteilen“, meinte Alfred sanft, „Wenn sie müde ist, wird sie irgendwann auf dem Sofa einschlafen. Und sie ist mit Sicherheit auch alt genug, dass ihr über solche Dinge einfach kommunizieren könnt.“
Darius seufzte schwer, musste aber schmunzeln.
„Du hast leicht reden“, meinte er grinsend und küsste Alfreds Wange, „Du kannst immerhin jederzeit nach Hause gehen, wenn es dir zu viel wird. Außerdem scheinst du da in jedem Fall ein glücklicheres Händchen zu haben als ich!“
Alfred lächelte und gab ihm einen zärtlichen Kuss.
„Kurioserweise hatte ich bisher nicht einmal viel mit Kindern zu tun“, flüsterte er gegen seine Lippen, „Ich verlasse mich da lediglich auf natürliche Intuition.“
Darius schmunzelte in den Kuss hinein und zog Alfred noch näher zu sich.
„Wenn du das sagst“, wisperte er mit einem Augenzwinkern, „Diese Art von Intuition scheint mir persönlich jedoch nicht gegeben zu sein.“
Alfred schnaufte amüsiert, küsste seine Nasenspitze und lehnte sich dann wieder erstaunlich entspannt gegen das Sofapolster. Darius schmiegte seine Wange an Alfreds Brust und lauschte seinem Herzschlag.
„Außerdem“, meinte Alfred dann leise, „Ich kann gern noch etwas bleiben.“
Darius blickte überrascht zu ihm auf.
„Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast, dass gleich zwei unangemeldete Gäste sich bei dir einnisten“, scherzte Alfred noch vorsichtig.
Darius lächelte, während sich eine fast unangebracht tiefe Erleichterung und unendliche Dankbarkeit in ihm breit machte.
„Also wirklich, was für eine Zumutung“, antwortete er gespielt tadelnd, bereute es allerdings sehr schnell wieder, denn Alfred sah mit einem Mal so unsicher aus, als würde er sich diese Aussage ernsthaft zu Herzen nehmen.
Darius biss sich auf die Unterlippe, bevor er für sich beschloss, dass Alfred wohl nicht in Stimmung für solch verwirrend ironische Äußerungen war.
Dann wurde er sehr ernst, hob den Kopf und sah ihm tief in die Augen, „Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du noch bleibst.“
Alfreds Blick wirkte unendlich zärtlich, als er sanft Darius` Wange streichelte und mit fast erstickter Stimme flüsterte, „Ich bleibe so lange du möchtest.“
Wieder versetzte es Darius einen schmerzhaften Stich im Herzen.
Es klang nicht, als meinte er nur die räumliche Anwesenheit und seine Unterstützung als Babysitter – wieder wirkte es, als wäre er ihm derartig treu ergeben, dass ein schlechter Mensch mit egoistischen Intentionen es nach Strich und Faden ausnutzen könnte.
Und Darius hatte panische Angst davor, dass er selbst ein eben solcher Mensch unter diesen Umständen werden könnte.
Es war, als legte Alfred sein Herz entblößt und verletzlich in seine Hände und er konnte damit tun und lassen, was er wollte.
Doch so sehr er auch nichts sehnlicher wünschte, als diese Geste mit derselben Zärtlichkeit zu erwidern, das konnte er nicht. Ebenso wie der Umgang mit einem Kind war dies eine Verantwortung, die er weder selbst auf sich nehmen, noch jemand anderem zumuten wollte.
Dennoch lag Alfreds Herz bereits in seinen Händen und Darius fühlte sich, als wäre es aus hauchdünnem Glas gemacht.
Hielt er es nicht sicher genug fest, würde es ihm aus den Fingern gleiten, fallen und auf dem Boden in tausend kleine Teile zerspringen. Übte er jedoch auch nur eine Spur zu fest Druck aus, würde er es darunter in seiner Hand ebenso zerbrechen.
Letzten Endes jedoch stand seine Entscheidung längst fest.
Er musste in Kauf nehmen, dass die Scherben bei einem eventuellen Versagen seinerseits nicht nur Alfred, sondern auch ihn selbst dabei verletzten. Das war er diesem wundervollen Mann schuldig.
„Danke“, hauchte er sanft und schmiegte sich wieder an Alfreds Brust.
Eine ganze Weile lang schmusten sie wieder, ohne viele Worte zu wechseln.
Darius konnte nur erahnen, dass Alfred ebenso viele Gedanken durch den Kopf gingen, wenngleich er auch nicht wissen konnte, worüber er nachgrübelte.
Nina schien indessen nicht müde zu werden, ihre Fehler verbessern zu wollen. Immer wieder spielte sie dieselbe Passage, immer wieder klappte es an derselben Stelle nicht mehr. Immer wieder begann sie von vorn, als wäre sie der festen Überzeugung, dass es nach genügend Versuchen von allein klappen würde.
Darius ertappte sich bei dem Gedanken, dass er sich vielleicht ein Beispiel an ihr nehmen sollte – davon abgesehen, wie furchtbar es klang, wirkte es doch, als hätte sie diesen unzerstörbaren Willen, der ihr nicht erlaubte, aufzugeben.
Hatte er das nicht immer auch von sich selbst gedacht? Zu stur zu sein, um einfach aufzugeben. Womöglich war sie ihm doch ähnlicher, als er glaubte.
Vielleicht war gar nicht mal alles so kompliziert, wie er es sich immer machte.
Vielleicht würde alles gut gehen, wenn er sich darauf einlassen könnte.
Als Alfred ihn jedoch aus heiterem Himmel wieder fester in die Arme schloss und so innig an sich drückte, wurde Darius wieder schwer ums Herz.
Irgendetwas sagte ihm, dass diese augenscheinlich liebevolle Geste von mehr Verlustängsten und innerer Unsicherheit geprägt war, als es gut sein konnte.
Oder es war etwas ganz anderes, von dem er nicht einmal wusste.
Aber wie sollte er es auch in Erfahrung bringen, wenn er immer nur von sich selbst sprach? Ferdinand hatte recht. Es ging nicht immer nur um ihn, das sollte Darius sich langsam einmal zu Herzen nehmen.
Alfred hatte gar keine Chance gehabt, sich ihm anzuvertrauen.
Warum er mitten in der Nacht doch anders entschieden hatte. Warum er nun allen Anschein nach gar nicht mehr gehen wollte.
Womöglich machte er sich auch darüber zu viele Gedanken, am Ende war es jedoch Darius‘ ganz eigene Art von Intuition, die ihn längst davon überzeugt hatte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
„Alfred?“, flüsterte er.
Es dauerte einige Momente, bis Alfred überhaupt reagierte, mehr als ein zaghaft fragendes „Mhm?“ bekam er aber nicht über die Lippen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Darius leise.
Er spürte Alfred schweigend nicken, aber allein sein Atem zitterte bedenklich.
„Alfred“, flüsterte er und versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, das dieser fest in seiner Schulter vergraben hatte, „Geht es dir gut?“
Schließlich schien er sich imstande zu fühlen, etwas zu sagen.
„Mehr als das“, hauchte Alfred zittrig und schmiegte sich noch näher an ihn, „So viel mehr, dass ich es gar nicht in Worte fassen kann.“
Darius war, als könnte er ein leise unterdrücktes Schluchzen vernehmen – und er konnte die Vermutung nicht abschütteln, dass es vielleicht doch nicht nur Freudentränen aufgrund des puren Glücks seiner Gesellschaft waren.
„Alfred“, begann er wieder sanft, „Was fehlt dir? Kann ich dir helfen?“
Wieder ein zittriger Atemzug.
Mittlerweile war er sich sicher, dass Alfred stille Tränen weinte.
„Das tust du doch“, wisperte dieser kaum hörbar.
Darius wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
Er wusste lediglich, dass es nicht viel bringen würde, jemanden zu einer Sache zur Rede zu stellen, ohne dass derjenige von selbst darüber sprechen wollte. Was immer Alfred umtrieb, er musste sich darauf verlassen, dass er es ihm mitteilte, sobald er dazu bereit sein würde.
Vielleicht machte er es sich damit zu einfach, aber es überfordert ihn.
Dennoch war er sich bewusst, dass er nicht immer nur nehmen konnte, ohne selbst zu geben. Mehr als das – er wollte Alfred geben, was er brauchte. Wollte für ihn da sein, wenn er sich nach ihm sehnte.
Egal wie ungeübt er auch dabei sein mochte, allein aus dem Grund, dass normalerweise er es war, der sich an andere lehnte, nicht umgekehrt.
Einige Momente atmete Darius einfach nur tief ein und aus.
Im Hintergrund tönte noch immer das Klavier, Nina hatte wohl wirklich nicht vor, so schnell aufzugeben. Darius schloss die Augen und versuchte, sich auf die eigenen guten Vorsätze zu besinnen.
Dann tat er vermutlich das einzig Richtige, indem er Alfred ebenso fest in seine Arme schloss und lange Zeit einfach nur ganz nah an sich gedrückt hielt.
„Ich bin da, Alfred“, wisperte er.
„Solange du es möchtest, bin ich immer da.“