„Was ist passiert?“, fragte Alfred fast panisch, als er sich mit Theresa draußen eine einsame Bank gesucht hatte, auf der sie sich niederlassen konnten.
Sie schien am ganzen Körper zu zittern, doch vor allem ihre Unterlippe bebte vehement. Scheinbar fiel es ihr zudem schwer, still zu sitzen, denn noch bevor sie zu einer Antwort fähig war, stand sie wieder auf.
Theresa versuchte verzweifelt, die doch recht zerzaust wirkende Hochsteckfrisur zu richten, machte es dabei aber nur noch schlimmer.
Nur mit einem dünnen Strickjäckchen war sie vor der Kälte geschützt, und Alfred hatte das Gefühl, dass sie womöglich noch eine Spur schicker zurechtgemacht war als er sie ohnehin jeden Tag antraf.
Halskette und Ohrringe glitzerten mit denselben kleinen Funkelsteinchen, nur das Glänzen in ihren dunklen Augen schien von den Tränen komplett erloschen.
„Was ist passiert?“, fragte er noch einmal, diesmal sanfter und ruhiger.
Theresa holte tief Luft und biss sich auf die Unterlippe.
„Es tut mir so leid, Alfred“, sagte sie erstickt.
Alfred sah sie fragend an, wollte aber nicht unterbrechen.
„Ich wollte dich wirklich nicht stören, aber-“, Theresa stockte, „Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist, dich zu belästigen, wenn du die Pause mit deinen Kollegen verbringst, aber ich wusste nicht, zu wem ich sonst gehen sollte. Und- du bist der einzige, mit dem ich über solche Dinge-“
Alfred hob eine Augenbraue und lächelte schief.
„Was ist mit Darius?“, fragte er vorsichtig.
„Ach der-“ Theresa winkte fast schon schnippisch ab, „Der hat den Kopf doch mit ganz anderen Sachen voll.“
Alfred wusste nicht, ob er erleichtert oder noch besorgter als zuvor sein sollte. Eigentlich war seine Angst gewesen, dass mit ihm etwas nicht stimmte und sie deswegen so aufgelöst zu ihm kam. Dass die beiden Streit hatten, wollte er nicht gleich vermuten, doch was ließ Theresa glauben, dass Alfred eine bessere Wahl für dieses Gespräch war als ihr eigener Bruder?
Und vor allem: Worum sollte es überhaupt bei diesem Gespräch gehen?
Theresa Berentz war und blieb eine zutiefest verwirrende Person.
Sie seufzte leise, „Natürlich hat er mal wieder zu tun, ist wie immer im Stress, außerdem hat er keine Ahnung und versteht so etwas nicht!“
Alfred hob auch noch die andere Augenbraue.
„Und du denkst-“, begann er zögerlich, „Ich verstehe das besser?“
Sie schnaufte tief durch und wischte sich die Locken aus der Stirn.
Alfred gab sich einen Ruck, „Worum geht es denn? Was ist los, Theresa?“
Irgendwann schaffte sie es tatsächlich, ihn anzusehen.
„Du hast das sicherlich gar nicht mitbekommen“, begann sie zögerlich, „Und eigentlich wollte ich dich auch nicht belasten, aber ich muss darüber reden, ansonsten werde ich vielleicht nie wieder auch nur einen einzigen Ton herausbringen- Es ging um die Gärtnerin und-“
Sie stockte und Alfred brauchte einen Moment, um überhaupt zu kapieren, dass es sich dabei in ihren Ausführungen nicht um irgendeine tatsächliche Angestellte einer in diesem Zusammenhang durchaus mysteriösen Gärtnerei, sondern um die Rolle der Sandrina respektive als solche in ihren Racheplänen verkleidete Gräfin Violante in einer Mozart-Oper handelte, als Theresa schon längst weitersprach.
„Eigentlich war ich mir so sicher- ich meine-“, ihre Stimme zitterte und sie senkte den Blick, „Das ist so eine dieser Rollen, die ich schon immer einmal haben wollte und für die ich alles tun würde. So eine Rolle, die ich in- und auswendig kann, und dann-“
Sie sah Alfred direkt in die Augen, der ihrem Blick kaum standhalten konnte.
Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Kompletter Blackout“, wisperte sie erstickt, „Einfach alles weg. Ich stand vor der Jury wie ein stummer Fisch, ich wusste mit einem Mal den Text nicht mehr, ich habe den Einsatz verpasst, beim zweiten Versuche wurde es nicht besser, ich habe keinen Ton herausgekriegt und eine weitere Chance gab es nicht- jetzt hab ich die Rolle natürlich nicht, und noch dazu habe mich nach Strich und Faden total blamiert!“
Als sie versuchte, energisch die Tränen aus ihren feuchten Augen zu blinzeln verfing sich eine davon in ihren Wimpern und löste sich beim nächsten Augenaufschlag, um ihre Wange hinunterzurollen.
Wie vom Donner gerührt starrte Alfred sie an.
Und mit einem Mal fühlte er, wie sich sein Herz so schmerzhaft zusammenzog, dass er gar nicht anders konnte, als Theresa einfach ohne weiteres Grübeln in den Arm zu nehmen.
Sie hielt sich an ihm fest wie eine Ertrinkende und schluchzte bitterlich, das Gesicht an seine Schulter gelehnt.
Alfred verstand. Wie gut er verstand und wie viel Sinn diese Situation auf einmal vielleicht doch ergab, dass sie sich an ihn wandte.
„Das tut mir leid“, sagte er leise und ließ zu, dass sie ihn fester an sich drückte.
Noch am Rande bemerkte er, wie es seinen Vater Unrecht strafte, wenn er dachte, er hätte irgendein Interesse an Theresa Berentz.
Selbst in dieser vertraulichen Umarmung fühlte er nur das Leid, das sie wohl erlitten haben musste, nicht nur gekränkter Stolz und angeknackste Würde, sondern diese tiefen Selbstzweifel, wenn man sich so fühlte, als würde man nicht einmal mehr das hinbekommen, was man eigentlich mehr als alles andere liebte. Und irgendwie konnte er sich nicht einmal darüber freuen, dass sie anscheinend ein solches Vertrauen zu ihm gefasst hatte, sich ihm anzuvertrauten statt ihr Leid einem ihrer noch aktiven Kollegen zu klagen.
Wenn er die Sache durchdachte, würde er wohl zu dem Schluss kommen, dass sie gefühlt womöglich irgendwann auf irgendeine Art und Weise seine Schwägerin sein könnte – und es demnach eigentlich nicht zu sonderbar war, dass sie sich an ihn wandte, aber so viel Gelegenheit zum Denken hatte er gar nicht.
Alfred rang noch nach Worten, mit denen er sein Mitgefühl ausdrücken konnte, ohne dass es zu sehr nach Mitleid klang.
Doch Theresa löste sich und sah ihn aus großen, verheulten Augen, allerdings mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen an.
„Danke, Alfred“, flüsterte sie, „Das habe ich jetzt gebraucht.“
Er lächelte schief, „Nichts zu danken. Ich meine-“
Sie sah ihn fragend an, während er versuchte, sich die Worte zurechtzulegen.
„Vielleicht-“, begann er unsicher, „Vielleicht liegt es gerade daran, dass du dich schon so lange mit dieser Rolle beschäftigt hast. Dass es einen so großen Teil deiner Vergangenheit eingenommen hat und du dich mit der Zeit in eine andere Richtung weiterentwickelt hast.“
Theresas Blick wurde sanft, als er weitersprach.
„Womöglich bist du aus der Sandrina längst herausgewachsen“, Alfred kratzte sich etwas verlegen am Kinn, „Was ich sagen will- Sowas passiert den besten. Lass dich davon nicht entmutigen, du bist eine großartige Sängerin!“
Einige Zeit nachdem er geendet hatte, sah Theresa ihn einfach nur an.
Sie lächelte ein so ehrliches, gar nicht kokettes oder charmantes, sondern einfach nur unendlich dankbares Lächeln, dass Alfred ebenso lächeln musste.
Er war gar ein wenig stolz auf sich, mit seinen seltsamen Ratschlägen zur Abwechslung einmal nichts Falsches gesagt zu haben, denn dass sie es ihm nicht übel nahm, glaubte er an ihrem Blick eindeutig erkennen zu können.
„Ach Alfred“, sie seufzte schmunzelnd, „Eigentlich bin ich der festen Überzeugung, dass ich einfach zu viele persönliche Dinge im Kopf hatte, als dass ich mich auf meine Arbeit hätte konzentrieren können.“
Theresa lachte, schüttelte den Kopf und knuffte ihn in die Schulter,
„Aber ich möchte deiner Version gern Glauben schenken“, meinte sie dann lachend, „Das klingt um einiges schmeichelhafter, als mir einzugestehen, dass ich momentan wirklich damit Probleme habe, meine Familie und meine Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Aber eigentlich meinte ich damit eher eine Umarmung als irgendwelche kuriosen Interpretationen meines Versagens.“
Alfred lächelte schief, „Wenigstens kannst du schon wieder lachen.“
„In der Tat“, Theresa schmunzelte fast schon liebevoll, „Du hast mich auf jeden Fall ein bisschen aufmuntern können.“
„Zumindest ist es bei einem Vorsingen für eine Rolle nicht halb so peinlich wie auf einer Bühne vor versammeltem Publikum“, meinte er dann noch mit einem kurzen verhaltenen Lachen.
Theresa starrte kurz, dann musste sie lachen, „Oh, ich erinnere mich!“
Beinahe schon etwas zu vertraulich stupste sie ihm gegen den Arm und zwinkerte ihm zu. Kurz wurde Alfred noch unbehaglich zumute, aber nach allem, was er jetzt in Erfahrung gebracht hatte, lag es wohl nahe, dass solche kleinen Gesten einfach Theresas Art waren – und dass er sie fälschlicherweise als Flirten eingeordnet hatte.
„Ich konnte gar nicht mehr hinsehen“, sinnierte sie über die Situation aus der Vergangenheit nach, die Alfred angedeutet hatte, „Du hast mir so leid getan, du standest da am Ende des ersten Aktes wie ein begossener Pudel!“
Alfred schmunzelte, „Dass ich das überlebt habe, kann ich nach wie vor kaum glauben. Aber weder hat mir Renate den Kopf abgerissen, noch hat mich mein Vater enterbt. Also wie du siehst – es geht immer weiter, nur Mut.“
Theresa lachte glockenhell.
„Aber eines musste man dir trotzdem lassen“, gab sie noch zu bedenken, „Beim zweiten Akt warst du wieder vollkommen da. Ich an deiner Stelle hätte mich wohl lebendig eingegraben, aber danach hast du den ganzen Lästermäulern mit der restlichen Darbietung ordentlich eins ausgewischt!“
Alfred schnaufte amüsiert.
„Na, ich hatte keine andere Wahl und eine Glanzleistung war es trotzdem nicht“, meinte er, „Aber wie sagt mein Vater immer so schön neunmalklug – Die Show muss weitergehen!“
Womöglich war die gute Frau Berentz nicht halb so schlimm wie er immer gedacht hatte. Und dass sie ihn anscheinend ganz gut leiden konnte, war zu allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch nichts, was irgendjemanden beunruhigen sollte.
Immerhin hatte sie ihren Ferdinand und dass er ihr eine ganze Weile lang Untreue unterstellt hatte, war mit der Aufklärung der Familienverhältnisse nun auch hinfällig.
Theresa lachte noch über seine Worte, dann sah sie ihn noch einmal ganz direkt an und ihre zuvor noch so verkniffenen Züge wirkten deutlich entspannt.
„Ich danke dir, Alfred“, sagte sie sanft, „Ich bin froh, einen so guten Freund wie dich zu haben!“
Und während sie sich gemeinsam in Bewegung setzten, um wieder ins Gebäude zu gehen, sinnierte Alfred noch darüber nach, dass vielleicht auch bei ihr nicht immer alles Gold war, was glänzte.
Davon abgesehen, dass sie einen in seiner doch sehr unmöglichen Art für sich schon äußerst einnehmenden Bruder hatte, war ihr Ehemann zumindest für alle anderen weitestgehend einfach nur unausstehlich. Auch wenn Alfred von Theresas täglichem Leben nicht viel mitbekam, sagte es doch wohl einiges über sie aus, dass sie ihn als einen guten Freund bezeichnete.
Wenn es nicht nur so dahingesagt war, bedeutete es nämlich in erster Linie gar nicht, dass sie ihn so wahnsinnig gut leiden konnte. Eher gab es Aufschluss über den Rest ihrer sozialen Kontakte, die sich wohl hauptsächlich auf offizielle, geschäftliche Bekanntschaften oder eben die Familie beliefen.
Denn für Alfred war eines klar: Wenn jemand ausgerechnet ihn als guten Freund bezeichnete, musste diese Person ansonsten ziemlich einsam sein.
„Hattet ihr denn wenigstens eine schöne Zeit gestern?“, fragte Theresa schließlich mit einem hintergründigen Lächeln, aber ohne jeglichen Zusammenhang.
Alfred bemerkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.
Mit einem schüchternen Blick auf die Uhr, fiel ihm auf, dass er sich gar nicht aus der Affäre ziehen konnte. Es war noch genug Zeit übrig, diese Frage zu beantworten. Es nicht zu tun, wäre sicherlich albern und kindisch.
„Ja“, meinte er also und hoffte, damit durchzukommen.
Theresa aber ließ ihm keine Chance, so vage zu bleiben.
„Das freut mich“, sie lächelte zuckersüß, „Natürlich hoffe ich auch, dass ihr mir diese ganze Verwirrung mit meiner kleinen Notlüge verziehen habt, wenn es sich für euch gelohnt hat?“
„Wir waren tatsächlich erst ein bisschen verwirrt, ja“, Alfred schnaufte amüsiert, womit er hoffentlich von seinem seligen Lächeln ob der Erinnerungen an den Abend im Park ablenken konnte, „Das hast du durchaus geschickt eingefädelt, man könnte fast schon von einem abgekarteten Spiel sprechen.“
Theresa kicherte und zuckte mit den Schultern.
Alfred schmunzelte, „Es war aber ein sehr schöner Abend – auch wenn wir deine Gesellschaft dabei natürlich sehr vermisst haben!“
Theresa lachte und knuffte ihn in die Seite, „Ach, tatsächlich? Ich hatte eher gehofft, dass ihr gar keinen Gedanken mehr an mich verschwendet habt!“
Da fühlte sich Alfred wirklich ein bisschen ertappt, äußerte sich aber nicht.
Sein hochroter Kopf musste sowieso Bände sprechen, wenn Darius ihr nicht sowieso schon alles erzählt hatte.
Zumindest stellte Alfred sich das so vor, wenn er sich überlegte, wie es wohl wäre, hätte er selbst Geschwister. Vielleicht waren das genau die Menschen, denen man im Gegensatz zu den Eltern wirklich alles erzählen konnte, ohne dafür verurteilt zu werden.
„Jetzt werdet ihr ja bald noch viel mehr Zeit füreinander haben“, meinte sie und Alfred bildete sich ein, dass sie dabei gar nicht mehr so fröhlich, sondern etwas bedrückt klang.
„Mhm“, machte Alfred unsicher.
Er konnte ja schlecht erwähnen, dass er sich Schöneres vorstellen könnte, als die ganze Zeit mit Darius von fast achtzig anderen umgeben zu sein, denn das würde ja implizieren, dass er mit ihm allein sein wollte. Und ob Theresa Berentz es so genau wissen wollte – oder durfte – sollte er lieber Darius überlassen.
„Kann ich dich nochmals um einen Gefallen bitten?“, fragte sie leise.
Alfred nickte sofort, jegliche Ablenkung vom Thema war willkommen.
Und wenn Theresa ihn schon als Freund bezeichnete, sollte er sie ja auch nicht gleich wieder enttäuschen.
Sie seufzte schwer.
„Pass bitte ein bisschen auf ihn auf“, bat sie ihn dann, „Mir ist das ja eigentlich gar nicht recht, ihn in dem Zustand fahren zu lassen. Aber wenn ich nicht dabei sein kann, hast du bestimmt doch ein Auge auf ihn?“
„Natürlich“, Alfred lächelte sanft, „Darum hättest du mich gar nicht bitten müssen, das hätte ich schon auch von allein getan.“
„Danke, Alfred“, sagte sie.
Dann lächelte sie wieder so unheimlich ehrlich wie zuvor, „Auf dich ist eben einfach Verlass!“
Er nickte unsicher und sie musste lachen.
Alfred sah kurz auf die Uhr, aber auch Theresa schien aufzufallen, dass sie ihn unmöglich länger aufhalten konnte.
„Wir sehen uns sicher vorher noch. Tausend Dank!“, meinte sie dann und verabschiedete sich mit einem Kuss auf seine Wange.
Alfred blieb noch einige Momente verdattert stehen.
Er sah ihr noch hinterher, dann wandte er sich kopfschüttelnd um und setzte seinen Weg zurück in den Probensaal zur weiteren Besprechung fort.
Zumindest schien Theresa wieder etwas besser gelaunt zu sein.
Ob er ihre Erwartungen erfüllen konnte und was Berentz denken würde, hätte er diese äußerst vertrauliche und eigentlich extrem unangebrachte Geste mitbekommen – Alfred lief es bei diesem Gedanken eiskalt über den Rücken – stand wohl in den Sternen.
Aber er lächelte.