Alfred fand Ottesen draußen im Hof auf der steinernen Mauer am Brunnen sitzend.
Schon vom weitem konnte er ausmachen, dass etwas nicht stimmte. Er hatte mitnichten das hochmoderne Telefon am Ohr, nicht einmal die Kopfhörerstöpsel in den Ohren. Er saß da mutterseelenallein und wirkte auf einmal ganz klein, unbedeutsam und elend. Ohne Direktor Berentz, der seine Sache vertrat und ihn vor der gesamten Gruppe in Schutz nahm. Ohne Theresa Berentz, die mit ihm lachte und seine Wange küsste. Ohne Pult, ohne Partitur, ohne Taktstock und ohne übermäßig schweren Koffer.
Einfach nur ein junger Mann, der zusammengesunken auf einer Brunnenmauer hockte und sich mit fahrigen Handbewegungen die aus dem säuberlichen Scheitel gelösten Haare aus dem bleichen Gesicht wischte.
Alfred wusste nicht, ob er seine Umgebung zu Genüge wahrnahm, um zu sehen, wie er sich ihm näherte. Es war auch eher irrelevant für seine Sache. Ottesen sollte sich besser schnell wieder fangen und mit ihm zurück in den Proberaum kommen.
Immerhin konnte er mit irgendeinem verdrossenen jungen Mann nicht viel anfangen, sondern brauchte ihren neuen Dirigenten zurück.
Dass die Sache so einfach nicht sein konnte, das war Alfred schon bewusst – wie er sich aber tatsächlich verhalten sollte, war ihm immer noch schleierhaft.
Ottesen blickte hastig auf, als er Alfred zu bemerken schien und für einen Moment lang wirkte er wahrhaftig wie das schon leidlich inflationär zitierte Reh im Scheinwerferlicht eines nahenden Autos.
Alfred blieb ein paar Schritte entfernt stehen und versuchte, irgendwelche klugen Worte zu finden. Es fiel ihm zwar nichts Hilfreiches ein, aber vielleicht würde seine Anwesenheit ja genügen, um Ottesen an seine Pflicht zu erinnern.
Ein paar Minuten standen sie einfach so da.
Dann zog Alfred die Hand aus der Jackentasche und hielt Ottesen die zerknickte Zigarettenpackung hin.
„Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“
Ein paar Augenblicke starrte Ottesen ihn einfach nur ungläubig an.
Etwas unangenehm berührt bemerkte Alfred, dass nicht nur seine penible Frisur vollkommen zerzaust, sondern auch seine Augen leicht gerötet waren und er nicht aussah, als würde er die Fassung so schnell zurückgewinnen.
Dann aber zuckten Ottesens Lippen zu einem schiefen Lächeln.
„Ich habe leider kein Feuerzeug bei mir“, seine Stimme klang etwas heiser.
Alfred musste beschämt schmunzeln und kramte eine Packung Streichhölzer aus seiner Tasche. Ottesens Züge entgleisten für einen Moment fast irritiert, dann lachte er tatsächlich auf und Alfred konnte nicht umhin, als ehrlich zu lächeln.
Dankbar nahm Ottesen sich eine Zigarette aus der Packung und die Streichhölzer an sich. Die aufflackernde Flamme spiegelte warmes Licht in den dunklen Augen und Alfred brauchte einen Moment, bis er bemerkte, dass Ottesen ihm die Streichhölzer wieder hinhielt, um sie ihm zurückzugeben.
„Danke“, sagte er.
„Ich habe zu danken“, sagte Ottesen und zog an der Zigarette.
Schnell steckte Alfred beide Päckchen wieder ein und räusperte sich leise, um ein Husten beim Geruch des Rauches zu unterdrücken.
Da war ihm sogar Lavendel lieber, aber das konnte er wohl nicht laut aussprechen.
„Ich dachte, Sie rauchen für gewöhnlich nicht“, versuchte Ottesen mit zuckenden Lippen zu scherzen.
„Das ist richtig“, Alfred lächelte und hob eine Augenbraue, „Dasselbe nahm ich allerdings auch von Ihnen an!“
Ottesen schmunzelte wieder und Alfred musste grinsen.
Trotz der schon wärmenden Frühlingssonne war es noch kühl draußen und irgendwo war Alfred ja immer noch bewusst, dass sie eigentlich proben sollten und die anderen warteten. Aber als Ottesen wieder zu ihm aufsah, lag so viel mehr in den schwarzen Augen als Alfred in diesem Moment ertragen konnte.
Etwas anderes, etwas Tieferes; etwas Besonderes. Da war viel mehr Wärme und ehrliche Dankbarkeit, als es für Alfred überhaupt gesund sein konnte und er musste diskret den Blick abwenden.
Ottesens leises Husten ab und an bewies zumindest, dass er für gewöhnlich wirklich nicht rauchte und Alfred verschwendete kurz einen Gedanken daran, dass er diese vierte Zigarette nun wirklich mit seinem Namen in das imaginäre Buch würde eintragen können. Aber darauf kam es nicht an.
Worauf es ankam war, dass Ottesen wieder aufstand, als er zuende geraucht hatte.
Und obwohl es vollkommen irrelevant war, dass er ihn wieder mit diesem ungewöhnlichen Blick ansah, schien es Alfred, als würde dieses tiefgründige Schimmern in seinen Augen die Sache so viel wertvoller machen als einfach nur dafür gesorgt zu haben, dass sie mit der Probe fortfahren konnten.
„Danke“, sagte Ottesen.
Alfred lächelte, dann nickte er mit dem Kopf in Richtung Eingang.
„Wollen wir wieder?“
Den Weg zurück zum Proberaum über sprachen sie kein Wort mehr miteinander, aber diesmal kam Alfred die Stille keineswegs unangenehm vor.
Vielleicht täuschte er sich, vielleicht bildete er es sich ein, aber es war nicht so, als wissen sie beide nichts mehr zu reden, sondern als wären Worte einfach schlichtweg überflüssig.
Es schien eher wie ein stilles, einvernehmliches Verständnis und was immer Ottesen bewegte, eine Unterhaltung würde es wohl sicher auch nicht wieder gerade rücken können.
Alfred war weder blöd noch blind, aber er wollte nicht komplett aufdringlich sein und vor allem Ottesen nicht noch mehr zu nahe treten, als es ohnehin schon geschehen sein musste.
So verlor keiner der beiden mehr ein Wort über diese unübliche Begegnung.
Jasper schaute Alfred zwar fragend an, aber das vorherrschende Gemurmel verstummte schnell wieder, als die beiden gemeinsam hereinkamen und ihre Plätze einnahmen, als wäre nichts gewesen.
„Später“, flüsterte Alfred seinem Sitznachbar zu.
Ottesen räusperte sich und holte tief Luft.
„Meine Herren“, begann er und Alfred musste schlucken.
Hatte er wirklich erwartet oder eher nur sehnlich gehofft, dass sie nun einfach weiterproben würden? Sein Blick lag gebannt auf Ottesen, als dieser vage in die Luft gestikulierte und man hätte in der Stille eine Stecknadel fallen hören können.
„Ich entschuldige mich für die Verzögerung. Ja, ich will sogar so weit gehen und mich für die allgemeinen Umstände entschuldigen.“
Alfred hob eine Augenbraue, als Ottesen sprach und wohl noch nicht fertig war. Jasper warf Alfred einen fast schon panischen Blick zu.
„Zuerst möchte ich Ihnen versichern, dass niemand hier die Absicht hatte, sie zu übergehen. In einer Woche werden Sie alle eine Chance bekommen, über die weiterführende musikalische Leitung dieses Orchesters anonym und demokratisch abzustimmen.“
Ottesens Stimme klang bei seiner Ansprache deutlicher und klarer als Alfred es nach den vergangenen Ereignissen erwartet hätte. Es schien ihm zwar einiges abzuverlangen, aber er stand fest und aufrecht vor den Musikern und zuckte nicht mit der Wimper, als kurz ein paar flüsternde Worte in den Reihen ausgetauscht wurden.
„Herr Direktor Berentz ist nicht gewillt, das anstehende Konzert zu verschieben oder abzusagen, daher schlage ich vor, dass wir diese Sache nun gemeinsam durchziehen und danach über das weitere Vorgehen entscheiden.“
Nicht einmal Erwin wagte es, irgendetwas dazwischenzurufen und Alfred dankte ihm im Stillen dafür.
„Mir ist bewusst, dass heute Ihr freier Tag hätte sein sollen. Daher schlage ich vor, dass wir jetzt noch einen Durchgang der letzten beiden Stücke machen und uns dann morgen in alter Frische wiedersehen. Spricht etwas dagegen?“
Er sah in die Runde, aber niemand rührte sich.
„Wer ist einverstanden?“
Schnell hoben sich zögerlich die ersten Hände, nach und nach immer mehr bis die Sache wohl in diesem Falle einstimmig beschlossen war.
Ottesen nickte zufrieden und Alfred fiel statt nur eines kleinen Steins beinahe ein kompletter Felsbrocken vom Herzen. Das war wohl etwas, auf das sich alle einigen konnten. Wie würde sein Vater in seinem furchtbaren Englisch sagen? Die Show muss weitergehen. Und zumindest die Probe tat genau das.
Später saß Alfred vollkommen erschöpft in der Bahn nach Hause und hatte so absolut keine Lust mehr, sich das Deutsche Requiem von Johannes Brahms in einem überfüllten Raum zu Gemüte zu führen.
Aber er hatte ja bereits zugesagt und ihm blieb als kleiner Trost auch glücklicherweise noch etwas Zeit zuhause, um etwas zu essen, endlich einen extrem verspäteten Kaffee zu trinken und sich noch etwas zurechtzumachen, bevor sein Vater ihn zum Konzert abholen würde.
Er hatte einen Fensterplatz erwischt und in der leicht spiegelnden Scheibe erhaschte er einen Blick auf sich selbst. Müde sah er aus, erschöpft. Zum Friseur musste er mal wieder und selbst seine Jacke hatte wirklich schon bessere Tage gesehen.
Es half alles nichts. Er würde nicht mehr jünger werden und mit den dunklen Schatten unter seinen Augen sah er schon längst aus wie ein alter Mann, obwohl er sich ja eigentlich in den besten Jahren befinden sollte.
Alfred wandte sich resigniert von seinem Anblick ab und sah auf die Uhr. Mit fast zwei Minuten Verspätung fuhr die Straßenbahn dann endlich vom Karlsplatz ab und er lehnte sich mit einem Seufzen im Sitz zurück.
Besser er ließ die ganze Chose um Orchester, Proben und Ottesen mit dem Verlassen der Bahn am Opernhaus bereitete sich schon mal mental auf das gesellschaftliche Großereignis vor, in das er sich für seinen Vater begeben würde.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, fragte eine wohlbekannte Stimme.
Die Bahn war um diese Uhrzeit immer erstaunlich leer und es waren sogar in der näheren Umgebung seines Platzes noch mehrere Sitze frei. Trotzdem wollte sich scheinbar jemand neben ihn setzen und der Geruch von Lavendel war unverkennbar.
„Selbstverständlich“, hörte Alfred seine eigene Stimme sagen, ehe er es sich überhaupt überlegen konnte.
Ottesen wirkte als wäre ihm noch immer etwas elend zumute.
Seinen Aktenkoffer stellte er achtlos auf den Boden und als er sich neben Alfred sinken ließ, traute er sich wohl nicht einmal, irgendetwas zu sagen.
Es war Alfred, der aus reiner Höflichkeit eine Unterhaltung begann, auch wenn ihm eigentlich nicht so recht danach war. Noch weniger fiel ihm irgendetwas Brauchbares ein, über das er reden konnte, aber vielleicht genügte es ja, überhaupt irgendetwas zu sagen.
„Sie hatten übrigens recht“, begann er und fühlte sich ein bisschen dämlich.
Ottesen sah ihn verwundert an. Natürlich konnte er nicht ahnen, welche Sache Alfred da plötzlich wieder aufgriff, nur weil sie ihm gerade in den Sinn kam.
„Viele haben gesagt, ich hätte die Musik aufgegeben, als ich aufhörte zu singen“, fuhr er fort und Ottesen schien aufmerksam zu lauschen.
„Die Kritiker und die Journalisten haben sich – ich bitte um Verzeihung – das Maul zerrissen und anstatt von Fragen wurden Vermutungen gestellt. Ich hatte nie Interesse daran, irgendwelche Urteile zu widerlegen oder Gerüchte zu bestätigen.“
Ottesen sah ihn nachdenklich an, sagte aber noch immer nichts.
„Ich hatte zugegeben das Glück, dass mich mein Vater immer zum Geigespielen verdonnert hat, auch wenn ich mich komplett auf die Gesangsausbildung konzentrieren wollte.“, Alfred musste schmunzeln, „So bin ich auch nicht aus der Übung gekommen, als ich mich für seinen rechtmäßigen Nachfolger auf dem Weg zum selben Ruhm hielt. Worauf ich aber eigentlich hinauswollte“-
Alfred schluckte und holte Luft, „Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist. Und meine Solokarriere mit der Musik als solcher gleichzusetzen ist das Gerede von Menschen, die dringend eine Schlagzeile brauchen.“
Ottesen lächelte schwach.
„Ich verstehe“, sagte er.
„Was ich damit sagen will – Die meisten Menschen können besser reden als sie zuhören, wenn ein anderer etwas sagt. Die Leute werden nicht aufhören zu reden.“
Alfred gab sich einen Ruck, endlich zum Punkt zu kommen.
„Vorhin befürchtete ich für einen Augenblick, dass Sie nicht wiederkommen würden. Dass Sie aufgegeben hätten“-
Ottesen horchte auf und schnaufte amüsiert.
„Und – und ich bin froh, dass ich mich geirrt habe.“
Klasse, Alfred. Das klang ja mal wieder wahnsinnig professionell. Auf was genau wollte er noch einmal hinaus?
Alfred knetete nervös die Finger ineinander und konnte Ottesen nicht so recht ansehen.
„Lassen Sie sich von dem Gerede nicht den Mut nehmen. Lassen Sie sich von der Öffentlichkeit nicht die Leidenschaft für die Musik nehmen. Und-“
Alfred lachte kurz auf, „Lassen Sie sich am besten nicht von jemandem belehren, der nichts aus seinen eigenen Fehlern gelernt hat!“
Ottesen sah ihn prüfend an, dann blickte er nachdenklich auf seine Schuhe.
Er sagte mehrere Haltestellen lang überhaupt nichts und Alfred verfluchte sich selbst im Stillen. Da war er ja wirklich zur philosophischen Höchstleistung aufgelaufen – nein, nicht im Geringsten. Wenn Ottesen ihn jetzt nicht für komplett dämlich hielt, dann wusste er auch nicht weiter.
„Wenn“-
Alfred zuckte fast erschrocken zusammen, als Ottesen nach diesem rhetorischen Fiasko tatsächlich wieder mit ihm sprach.
„Wenn Sie erlauben, Herr Wunderlich“-
Alfred sah ihn etwas irritiert an, als Ottesen herumdruckste und sich vermutlich aus reiner Höflichkeit nicht getrauen wollte, Alfred darüber in Kenntnis zu setzen, was er von diesem Kauderwelsch eines Ratschlags hielt.
Dann schien er sich die Worte endlich zurechtgelegt zu haben und trotz all seiner Versuche, sich darauf vorzubereiten war Alfred nicht darauf gefasst, was er dann tatsächlich sagte:
„Heute Abend, da – ich meine, es ist recht kurzfristig, aber- aber wenn Sie vielleicht- wir könnten heute Abend- also Sie könnten- eventuell, wenn Sie“--
Alfred starrte ihn wohl so schockiert an, dass Ottesen es nicht für nötig hielt, überhaupt weiterzusprechen. Hatte er das richtig verstanden?
„Verzeihen Sie bitte“, sagte er stattdessen und schien sich in Luft auflösen zu wollen.
„Nein nein“, sagte Alfred schnell, „Kein Grund, sich zu entschuldigen!“
Ottesen sah ihn unsicher an.
Nun war es Alfred, der nach Worten rang.
„Heute Abend habe ich bereits etwas vor“, sagte er dann wahrheitsgemäß.
Ottesen nickte hastig, aber er behielt die Fassung.
Mehrere Haltestellen lang verfluchte Alfred die gesamte Welt und ihre unendliche Einfältigkeit, aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er diese Situation retten sollte, ohne sich komplett zum Idioten zu machen.
Kurz bevor sie Alfreds Haltestelle erreichten, erhob sich Ottesen unaufgefordert und bewies, dass er wohl auch mit Stöpseln in den Ohren mehr von seiner Umwelt mitbekommen hatte, als Alfred es das letzte Mal für möglich gehalten hatte.
Er fragte sich schon gar nicht mehr, was in diesem Kopf vor sich ging. Stattdessen hob er den Koffer vom Boden und stellte ihn auf den nun ungebrauchten leeren Platz.
„Ich danke sehr“, sagte Ottesen kleinlaut.
Alfred lächelte hilflos, „Gern geschehen!“
„Auf Wiedersehen“, sagte Ottesen.
Alfred hatte Mühe, die Balance zu halten, als der Zug mit einem Ruck hielt und ihn daran erinnerte, dass er jetzt aussteigen musste.
„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“, sagte Alfred, als schon die Türen aufgingen, „Wir sehen uns morgen!“
Ottesen nickte mit zuckenden Mundwinkeln.
Hastig stieg Alfred aus der Bahn, die kurz darauf schon weiterfuhr, als wäre nie etwas gewesen. Ein paar Momente stand er noch nachdenklich an der Haltestelle und blickte auf die Schienen.
Dann machte er sich kopfschüttelnd auf den Heimweg.
Manche Menschen waren eben einfach unmöglich.
Und ein bisschen machte es Alfred Angst, dass dieser Gedanke nun mit nicht einmal mehr einem Bruchteil der unbändigen Wut behaftet war wie noch vor drei Tagen.
Es gab fürwahr Menschen, von denen konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es sie wirklich gab.
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