Vollkommen durchnässt kam Alfred schließlich am Haus an.
Den Weg über hatte er gezweifelt und sich selbst verflucht, nun hatte er sich fast schon wieder ein bisschen beruhigt, auch wenn er nach wie vor grübelte, wie er alles wieder ein für alle Mal ins Reine bringen konnte.
Allerdings schaffte er es nicht einmal in seine Wohnung.
Der Plan war eigentlich gewesen, die Treppen nach oben zu hasten, schnell zum Telefon zu greifen und in der Hoffnung, dass er ebenfalls schon wieder resigniert zuhause war, seinen Vater zu erreichen.
Allerdings wurde ihm die unterschwellige Angst davor, dass Kurt Wunderlich noch wartend vor der Oper stand, vom fast schon vertrauten Anblick eines dunkelgrünen Mercedes vor dem Haus genommen.
Und dass sich schon die Fahrertür öffnete, als er näher kam, ließ darauf schließen, dass sein Vater noch gar nicht so lange da war – oder ihn bereits oben vergeblich gesucht hatte und nun beschlossen hatte, im Auto auf irgendein Lebenszeichen zu warten.
„Hast wohl was vergessen, was?“, begrüßte er ihn schon von Weitem.
Alfred ertrug seinen vorwurfsvollen Blick nicht mehr.
„Magst mir nicht erklären, was das wieder für neue Moden sind?“, fragte Kurt.
Alfred schwieg stur und verbissen.
Erst jetzt kam ihm wieder die Erkenntnis, wie dumm er doch war.
Wie dumm und töricht, seine spontane Verabredung abzusagen.
Darauf zu verzichten, eine schöne und unbeschwerte Zeit mit dem Mann zu genießen, der ihm wirklich immer ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte und ihn alle Sorgen vergessen ließ.
Wie bescheuert konnte er eigentlich sein, Darius derartig von sich zu weisen?
Und wofür? Für das hier?
Wie konnte er Darius so verletzen, wenn das hier der Dank war, der stattdessen auf ihn wartete? Hatte er nun wirklich die tadelnde Standpauke seines Vaters dieser wunderbaren Gelegenheit vorgezogen?
„Na komm schon, steig ein!“, wies ihn sein Vater an und deutete auf das Auto.
Alfred starrte ihn einfach nur an.
„Hat’s dir die Sprache verschlagen?“, meckerte Kurt.
Alfred blieb stumm und biss die Zähne aufeinander.
Er war sowieso schon nass bis auf die Knochen. Er konnte nun einfach auf dem Absatz kehrt machen, zum Beethovengang laufen und an den umstehenden Häusern das Klingelschild mit der Aufschrift „Ottesen“ suchen.
Es gab keinen einzigen Grund, dies nicht zu tun.
„Falls dir noch nicht aufgefallen ist, dass es wie aus Kübeln gießt-“, begann sein Vater ungeduldig, aber Alfred schnaubte nur verächtlich.
Wie lange schon hatte er dieses Spielchen mitgemacht?
Wie lange Zeit davon war es schon nicht mehr angemessen gewesen?
Irgendwann war Schluss. Irgendwann musste endlich Schluss sein.
Vielleicht war dieser Punkt genau jetzt erreicht.
„Dir ist schon bewusst, dass das albern ist, Alfred?“, Kurt wurde lauter, „Jetzt aber- Steig schon ein, bevor ich’s mir noch anders überlege!“
So vieles lag ihm als Antwort auf diese Drohung auf der Zunge.
So viele Bilder und Gedanken schossen Alfred durch den Kopf.
Und doch blieb er stumm.
Er schaffte es nicht.
Schaffte nicht, sich gegen den Mann zu wehren, der es immer gut mit ihm meinte und dem er alles zu verdanken hatte – egal wie absurd die ganze Situation war, Alfred konnte nicht über seinen Schatten springen.
Er blieb stumm, als er schließlich den Kopf senkte.
Er blieb stumm, als er resigniert zur Beifahrertür trottete.
Verbissen und verzweifelt blieb er still und stoisch und stumm, als Kurt den Motor startete und den Wagen zurück auf die Straße lenkte.
Irgendwo auf halber Strecke zu seinem Elternhaus fand Alfred seine Stimme wieder, nachdem zuvor noch Totenstille geherrscht hatte.
„Bist du jetzt zufrieden?“
Eigentlich hatte er anklagend und aggressiv klingen wollen, doch in seinen eigenen Ohren kam es ihm viel eher vor wie die maulende Stimme eines trotzigen kleinen Kindes.
„Womit?“, fragte Kurt.
Alfred schwieg verbissen.
„Dass ich fast eine Stunde auf dem Parkplatz stand, nur weil ich dir amal einen Gefallen tun wollte?“, ereiferte er sich über diese augenscheinliche Ungerechtigkeit und Alfred schnaufte tief durch.
„Oder was meinst?“, fragte sein Vater und war offensichtlich so geladen, dass er sicherlich zwei weitere Stunden lang einen vorwurfsvollen Monolog führen konnte, „Dass du in letzter Zeit so viele Geheimnisse hast, dass du dich selbst drin verstrickst, bis du aus dem Gewirr nicht mehr raus findest?“
An einer Ampel verschwamm das rote Licht in den Regentropfen, die von der Scheibe perlten. Energisch schob der Scheibenwischer des Wagens sie zur Seite, doch es kamen immer wieder neue nach.
Vielleicht war das ein wunderbares Bild für diese so eingefahrene Situation.
Es regnete eben.
Und egal wie sehr man sich bemühte, trotzdem etwas sehen zu können, es half immer nur für eine kurze Zeit, ehe der Regen doch stärker war.
Die Scheibenwischer funktionierten allerdings auch nur solange der Motor lief.
„Na“, meinte sein Vater fast beiläufig, „Ich find mich schon damit ab, dass mein Sohn gerade den Verstand verliert. Die Frage ist, wann du dir endlich bewusst wirst, dass es so nicht weitergehen kann.“
Zuhause angekommen kochte Kurt eine Kanne Kaffee und deckte den Tisch fürs Abendessen, während Alfred sich trockene Kleidung anzog.
Schließlich starrte er nur missmutig auf sein Käsebrot, während sein Vater immerhin aufgehört hatte, ihm dieselbe Leier wieder und wieder zu Ohren zu führen. Nicht einmal das Radio oder der Fernseher lief.
Es war so still im Raum, dass die leise schmatzenden Kaugeräusche seines Vaters Alfred beinahe zur Weißglut trieben.
Ihm war der Appetit sowieso vergangen.
„Weißt du“, beschwerte er sich schließlich, als sein Vater zuende gegessen hatte, „Du hast vollkommen Recht!“
Kurt sah ihn unbeeindruckt an.
„Womit denn nun wieder?“, wollte er wissen.
Alfred starrte ihm nur trotzig entgegen.
„Dass es so nicht weitergehen kann“, klärte er ihn dann mit brüchiger Stimme auf, ehe er sich räusperte, um wenigstens ein bisschen eindrucksvoller zu klingen.
Sein Vater rollte mit den Augen und stand gemächlich auf, um das Geschirr zur Spüle zu tragen. Er bedachte Alfred nur mit einem kurzen Blick über die Schulter, als wollte er andeuten, dass das Gespräch beendet war, bevor es angefangen hatte.
Allerdings schien ihm dazu doch noch zu viel einzufallen, was er ihm seinerseits an den Kopf schleudern wollte.
„Sag ich doch“, meinte er knapp, dann setzte er wohl wieder zu einem weiteren Hieb in Alfreds Selbstbewusstsein an, doch Alfred ließ ihn nicht fertig reden.
„Du solltest dir mal selbst zuhören!“, fuhr Alfred ihn an, „Jeden Tag dasselbe, wie eine zerkratzte Schallplatte! Seit Jahren bekomme ich nichts anderes zu hören – Was hast jetzt wieder angestellt, bist noch ganz bei Trost, sag amal, Alfred!“
Kurts Miene verfinsterte sich merklich, als er ihn so treffend nachäffte.
Aber Alfred war noch lange nicht fertig.
„Wir schreiben das Jahr 2018 und nach Adam Riese bin ich mittlerweile älter als du zu der Zeit, in der du mit dieser ganzen Leier angefangen hast!“, erinnerte er ihn und klang dabei fast wie ein Siebzehnjähriger, der darauf plädierte, bald achtzehn zu werden, „Ich bin erwachsen. Ich bin alt genug, mich nach der Arbeit zu verabreden mit wem auch immer ich es möchte und auch ohne, dass mein Vater jedes Detail davon kennt!“
Sein Vater schnaubte kopfschüttelnd.
„Du hast sie auch nicht mehr alle, oder?“, entgegnete er ihm fast gefährlich ruhig, „Egal wie alt man ist, Alfred – wenn man sich schon verabredet hat, sagt man diese Verabredung zumindest pünktlich ab, ehe man etwas Neues plant!“
Alfred holte tief Luft. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.
Dann stand er vom Tisch auf, um zumindest nicht mehr von oben herab angesehen zu werden. Um auf Augenhöhe mit seinem Vater zu sein, der ihn wohl lieber für immer in seinem Schatten sehen wollte.
In ihm kochte die Wut, obwohl sich zeitgleich auch schon ein dicker Kloß in seinem Hals gebildet hatte.
„Das hat doch damit nichts zu tun“, herrschte Alfred ihn energisch an, „Es geht nicht um heute – Es geht um die allgemeine Situation! Du sagst mir, dass ich verrückt sei, immer wieder- und selbst hast du irgendwelche Kontrollzwänge, die dir verbieten, mich meine Sachen so machen zu lassen wie ich will!“
Er spürte, wie seine Hände zitterten und sein Herz raste.
Obwohl er sich eben umgezogen hatte, fühlte sich das Hemd an seinem Rücken schon wieder nasskalt an. Alfred konnte nicht verhindern, dass seine Stimme immer brüchiger wurde und sich unangenehm überschlug.
Doch er konnte auch nicht aufhören zu sprechen.
Alles, was sich die letzten Tage, Wochen, ja, die letzten Monate und Jahre zu diesem Thema in ihm angestaut hatte, brach nun hervor – und auch wenn sein Vater diesen Wutausbruch vielleicht nicht verdient hatte, ging es doch eindeutig um genau diesen Menschen.
Es traf nicht den Falschen, wenngleich auch mit mehr Wucht als beabsichtigt.
„Mir ist bewusst, dass du unzufrieden bist“, fuhr Alfred fort und wunderte sich im Stillen sogar einen Moment, dass er immer noch sprechen durfte und nicht längst unterbrochen worden war, „Aber dass du mir deswegen aufbürdest, dass ich mich nun aus purer Solidarität genauso schlecht fühlen muss, ist hoffentlich keine Absicht, darum wollte ich dich von diesem Umstand in Kenntnis setzen!“
Kurts Gesicht glich einer wächsernen Maske. Absolut nicht ein einziges Zeichen von Emotion war darin zu erkennen, teilnahmslos starrte er ihn an.
„Und vor allem“, setzte Alfred fast trotzig noch einmal zum finalen Schlag an, „Bist genau du derjenige, der mich wahnsinnig macht! Man kann es dir einfach nicht recht machen. Egal was ich tue, es ist doch sowieso falsch – und dass du mein Vater bist, ist mir bewusst. Trotzdem möchte ich in meinem Leben irgendwann einmal zumindest für mich selbst mehr sein als bloß dein Sohn!“
Damit endete er.
Er hatte sich Rage geredet, so sehr, dass nun sein Hemd schweißnass an seinem Rücken klebte und er erst einmal durchschnaufen musste.
Sein Vater äußerte sich immer noch nicht, er sah ihn nur schweigend und so durchdringend an, dass Alfred sicher war, dass er ihn mit seiner Ansprache nicht nur erreicht, sondern auch getroffen hatte. So tief, dass es ihn wohl auch verletzt hatte, denn auch wenn Kurt Wunderlich etwas derartiges niemals zugeben würde, so konnte Alfred ihn mittlerweile doch besser einschätzen als er es je gewollt hatte.
Und so sehr er seine Worte auch ernst gemeint hatte, so sehr sie ihm auf der Seele gelastet hatte, nun bereute er sie.
Das alles ausgesprochen fühlte sich nicht im Geringsten befreiend an.
Undankbar kam Alfred sich vor, extrem undankbar und einfältig.
Was hatte sein Vater alles für ihn getan? Was hatte er alles in Kauf genommen?
Und das war nun die Antwort?
Aber nein, genau dieses schlechte Gewissen war es, das ihn klein hielt – und ihm verbot, sich irgendwann auch nur einmal und wenigstens im Ansatz frei in seinem Leben und seinen Entscheidungen zu fühlen.
Er schnaufte angestrengt und wischte sich über die Stirn.
Vor seinen Augen tanzten kleine schwarze Punkte und vollkommen erschöpft von all diesen überkochenden Emotionen lehnte er sich an den Stuhl.
„Bist du jetzt fertig?“, fragte Kurt ungerührt.
Und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Alfred sah rot.
Nicht nur, dass er jahrelang übergangen worden war, sein Vater schien es auch absolut nicht zu interessieren, wenn er seine Bedürfnisse äußerte.
Wenngleich er vielleicht eben das nicht getan hatte, sondern nurmehr auf Vorwürfe mit Gegenvorwürfen geantwortet hatte und diese Unterhaltung sowieso kein Beispiel vorbildlicher Kommunikation war – doch wer konnte in einer solchen Situation schon konstruktiv bleiben?
Alfred offensichtlich nicht.
Eigentlich sollten sie zusammenhalten.
Doch sein Vater fühlte sich offensichtlich derartig angegriffen, dass er all das nicht auf sich sitzen lassen konnte.
„Dir ist aber schon bewusst, dass ich nichts dafür kann, wenn du dein Leben nicht in den Griff bekommst?“, begann Kurt noch immer seelenruhig, als prallte all dies an ihm ab.
Dass es das nicht tat, bemerkte Alfred wohl, dennoch machte es ihn nur noch wütender, dass er nicht auch die Fassung verlor.
„Du plädierst seit Jahrzehnten auf deine Volljährigkeit. Sag mir aber amal wie ich dich als erwachsenen Menschen behandeln soll, wenn du nicht bald anfängst, dich wie einer zu benehmen?“, die Worte seines Vaters saßen schmerzhafter als erwartet.
Seine Devise lautete schon immer, dass Angriff die beste Verteidigung war.
Dies ließ er seinen Sohn nun spüren, der es gewagt hatte, seine allgegenwärtige Immunität gegen jegliche Kritik infrage zu stellen.
„Ich könnt mir auch Schöneres vorstellen, als jeden Tag dasselbe sagen zu müssen“, sinnierte Kurt noch vor sich hin, „Aber du hörst ja nicht amal auf mich. Würdest du meine Ratschläge beherzigen, müsste ich mir auch nicht andauernd den Mund fusselig quatschen!“
Und wieder einmal wurde Alfred schmerzlich bewusst, dass er gegen ihn nicht ankam. Sei es nun durch die Liebe zu ihm, sei es durch die Verbindung ihres Blutes oder einfach dem Umstand geschuldet, dass er ihm nicht nur sein Leben, sondern auch alles darin zu verdanken hatte – in der Schuld zu stehen war einfach keine gute Basis für eine Beziehung auf Augenhöhe.
So wütend er auch gewesen war, er konnte seinen Vater nicht hassen.
„Wie dem auch sei“, beendete dieser gerade wohl seinen Monolog, „Wenn du wirklich reden magst, beruhigst dich erst vorher. Auf so ne blöde Art lass ich mich nämlich nicht ein!“
Dazu fiel Alfred wirklich nichts mehr ein.
Wo vorher noch so viele Worte gewesen warne, herrschte nun Leere.
Eine gähnende Lere und so viel Bitterkeit, die ihm sämtliche Energie nahm.
Alles fiel auf ihn selbst zurück und in diesem Fall bedeutete das, von Selbsthass und Wut auf die eigene Einfältigkeit zerfressen zu werden.
„Du gehst jetzt auf dein Zimmer und denkst amal ganz in Ruhe darüber nach, was du mir gerade alles an den Kopf geworfen hast“, sagte Kurt bestimmend.
Und so sehr Alfred sich dagegen mit einem weiteren Ausbruch seiner Wut wehren wollte, schaffte er es nicht.
So sehr sich alles in ihm sträubte, sich auf diese absolut unangebrachte Sache einzulassen, die ihn mehr denn je in die Rolle des kleinen Jungen zurückdrängte – er konnte nichts anderes tun, als seinen Vater mit fest zusammengepressten Lippen noch einige Momente anzustarren und sich dann tatsächlich umzuwenden.
So tief wie er seinen Vater verletzt hatte, erst jetzt fiel Alfred auf, dass er auch nicht ohne Wunden aus diesem Streit davongekommen war.
Denn als er geräuschvoll die Tür hinter sich zuschlug und am ganzen Leib zitternd auf die Bettkante sank, konnte er die bitteren Tränen wirklich nicht mehr zurückhalten.
Kurze Zeit später hatte er sich im Bett unter der Decke zusammengerollt, den Rücken schon in weiser Voraussicht zur Tür gewandt. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, die arme Tapete zu malträtieren, sondern hatte das Gesicht im Kopfkissen vergraben, damit zumindest seinem Vater das verzweifelte Schluchzen nicht zu Ohren kam, wenn er es schon nicht gänzlich unterdrücken konnte.
In seinem Bewusstsein waren noch Formulierungen wie die Anschuldigung an sich selbst, dass er sich nun dem Selbstmitleid hingeben würde.
Doch vielleicht war es der erste Schritt, zumindest Verständnis für sich selbst aufzubringen, wenn es sein Vater schon nicht tun konnte.
Neben all den Vorwürfen an ihn stand jedoch vor allem der Vorwurf an sich selbst im Raum. Er beschwerte sich immer darüber, dass sein Vater ihn nicht verstand, ihn nicht wertschätzte und auch früher nie übers Herz gebracht hatte, den damals noch kleinen Alfred einfach mal in den Arm zu nehmen oder ihm zu sagen, dass er ihn lieb hatte.
Doch womöglich sollte er auch hier die Schuld bei sich suchen.
Er konnte sich nicht darauf berufen, dass nur die anderen alles falsch machten.
Wie sollte irgendjemand ihn liebevoll behandeln, wenn er es selbst nicht tat?