Es gab Tage, von denen konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es sie wirklich gab. Tage, die so vertraut schienen, dass man das Gefühl bekommen könnte, man lebe in einer skurrilen Schleife aus sich ständig wiederholenden Ereignissen.
Allein der Gedanke an diesen Alltagstrott konnte einem schon sämtliche Lebensfreude rauben, doch dafür hätte man eine solche erst einmal besitzen müssen. Lange hatte Alfred geglaubt, dass er sich nur in den ständig nach demselben Muster ablaufenden Tagen wohlfühlen konnte.
Von der Sicherheit, die so etwas gab, einmal abgesehen, musste das nicht sein.
Es gab so viel mehr. Das Leben hielt so viel mehr für ihn bereit, also musste das ein Trugschluss sein. Wie sollte ein freier und hoffnungsvoll in die Zukunft blickender Mensch diese Momente anders deuten?
Noch dazu wenn man das Gefühl hatte, dass sich in einem selbst so einiges geändert hatte, auch wenn die Situation um einen herum wieder erstaunlich stark in die Normalität abgedriftet war.
„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“, fragte eine ältere Dame und Alfred rückte mit einem kleinen Lächeln instinktiv ein bisschen zur Seite, um sie zu ermuntern, sich neben ihn zu setzen.
„Selbstverständlich“, sagte er und schaffte es nicht, sich das Lächeln wieder aus dem Gesicht zu wischen.
Alles wie immer.
Nun ja, fast. Etwas fehlte.
Nein, jemand fehlte.
Darius. Darius Ottesen, der unmöglichste Mensch auf Erden.
Ein Mann, den er vor einem Monat noch nicht einmal gekannt hatte. Ein Mann, der streng genommen nicht nur sein Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte, sondern dafür gesorgt hatte, dass es überhaupt wieder als Leben bezeichnet werden konnte.
Der Mann, der Alfred grundlegend verändert hatte, ohne dass er es auch nur im Ansatz während dieses Prozesses bewusst bemerkt hatte.
Die letzten vier Wochen über hatte er viel erlebt.
Vielleicht so viel, dass man ein ganzes Buch damit füllen konnte, während die letzten paar vorhergehenden Jahre nur einen sehr trostlosen, knappen Abschnitt in seinem Leben darstellen würden.
Aber nach dieser Rechnung war Alfred noch nicht am Ende angekommen.
Wenn er es recht bedachte, hatte er nicht umsonst gekämpft.
Denn dann fing der aufregendste Teil seines Lebens gerade erst an.
Mit einem kleinen Schmunzeln auf dem Gesicht nahm er sein Telefon zur Hand und schrieb eine Nachricht an Darius.
„Mir ist doch noch etwas eingefallen“, schrieb er.
Kurz darauf konnte er sehen, dass Darius den Text gelesen hatte und seine Finger wurden feucht. Darius schickte nur ein einsames Fragezeichen und Alfred holte tief Luft, als würde er verbal zu einer Erklärung ansetzen.
Dann tippte er einige Zeit an einer ellenlangen Nachricht, löschte sie mehrere Male, fing wieder von vorn an, bis ihm auffiel, dass alles andere als die Essenz des Ganzen vielleicht angebracht wäre, aber doch nur Missverständnisse mit sich bringen könnte.
„Nächster Halt: Karlsplatz“
Alfred verabschiedete sich von der Dame und zwängte sich an ihr vorbei, um auszusteigen. Das Telefon hatte er immer noch in der Hand, als er aus der Bahn stieg und in Richtung Oper lief.
Unterwegs pfiff er beschwingt eine kleine Melodie vor sich hin und tippte dann vor der Tür stehend noch schnell die Nachricht zu Ende.
Vielleicht sollte er nämlich einfach das schreiben, was er meinte.
Und so sendete er letzten Endes nur ein einziges Wort.
Vor einer gewissen Uhrzeit am Morgen waren lange Reisen immer so eine Sache – besonders wenn man in einem Auto saß und seit Stunden bereits versuchte, vor lauter Grübeln nicht durchzudrehen.
Teilweise schaffte er es ganz gut, da versank Darius komplett in der Musik, die Theresa angeschaltet hatte und zu der sie leise mitsummte. Dann bemerkte nicht einmal, wie die Minuten vergingen und sie Wien längst hinter sich gelassen hatten. Zum anderen Teil schaffte er es gar nicht, da rechnete er immer wieder die noch vor ihnen liegende Kilometer und aktuelle Verkehrslage in die Zeit um, die sie noch brauchen würden.
Manchmal unterbrachen ihn zusätzlich zu den Ängsten, die ihn überkamen, wenn er an den bevorstehenden Klinikaufenthalt dachte, noch wehmütige Erinnerungen an die vergangenen Wochen.
Es war selten, dass eine so kurze Zeit solch tiefe Spuren hinterließ. Noch seltener war der Fall, dass er dabei das Gefühl hatte, endlich die Chance zu haben, aus dem ewigen Kreislauf der Abwärtsspirale ausbrechen zu können.
Vielleicht nicht jetzt; aber zumindest irgendwann einmal.
Irgendwann, wenn er lange genug daran gearbeitet hatte. Irgendwann, auch wenn er selbst nicht so recht wusste, was er sich unter dieser sehr weitläufigen Zeitangabe vorstellen sollte.
Vielleicht dann, wenn er nicht nur im Kopf eingesehen hatte, dass er so nicht weiterkam, sondern auch handeln musste. Vielleicht dann, wenn er sich darauf einließ, all die helfend ausgestreckten Hände auch zu ergreifen.
Irgendwann wäre er vielleicht in der Lage, die Krankheit so in den Griff zu bekommen, dass er damit gut leben konnte und weitere Krisen abzuwenden wusste. Vielleicht würde er nicht mehr komplett gesund werden, vielleicht ging die ganze Sache dafür schon viel zu lange schief.
Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben wollte er sich nicht nehmen lassen.
Er würde nicht aufgeben. Dafür war er immerhin zu stur.
Und wenn er die guten Vorsätze ebenso streng befolgte wie er es bei seinen destruktiven Verhaltensweisen tat, konnte doch eigentlich gar nichts mehr schief gehen. Darius warf einen weiteren Blick auf die Uhr.
Fast sehnsüchtig dachte er an die Oper und das Orchester, das nun recht bald mit der heutigen Probe beginnen würde.
Er würde es nicht schaffen, all dies hinter sich zu lassen. Nicht jetzt, wo er doch endlich mit Theresa vereint war, wo er sogar Gabriel und Nina in der Nähe wusste und wieder guten Kontakt zu Jasper pflegte.
Nicht jetzt, wo er sogar einen neuen Job für die Zukunft gefunden hatte, der zugegeben gar nicht mehr so schlecht klang. Was ihn in der Klinik erwarten würde, kannte er zu Genüge. Es würde hart sein, aber nicht unmöglich.
Es würde eine ganze Weile dauern.
Und vielleicht konnte er dabei nicht produktiv sein, doch die Zeit würde in jedem Fall so sinnvoll wie möglich nutzen.
Viel mehr ging es aber um die Zeit danach; um die Zukunft, für die er wieder zu Kräften kommen musste und die er sich nicht nehmen lassen würde.
Eine Zukunft, in der er plante, vielleicht doch seine Sinfonie an den Mann zu bringen. Eine Zukunft ohne Kristian, der keinerlei Macht mehr über ihn haben würde, wenn er ihn nicht ließe. Er konnte jederzeit nach Paris fahren. Und es war nicht unmöglich, mit Monsieur Chevalier zu sprechen; schon gar nicht, wenn man ebenso einschneidend klingende Namen wie Renate Sigmund und Helge Marquardt zu seinen Bekanntschaften zählte, bei denen Kristian Dahl nur ein weiterer auf einer sehr sehr langen Liste wäre.
So versunken in seinen Gedanken zuckte Darius zusammen, als plötzlich sein Telefon vibrierte. Hastig nahm er es an sich und seine Finger zitterten, als er den Bildschirm entsperrte. Von allen Nachrichten, die er nun hätte empfangen können, hatte er mit dieser am allerwenigsten gerechnet.
Alfred. Alfred Wunderlich hatte ihm geschrieben.
Es war viel geschehen, aber die Vergangenheit konnte er nicht mehr ändern. Lediglich die Zukunft lag vor ihnen wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, auf das sie gemeinsam die Notenlinien gezeichnet hatten. Vielleicht würde es noch eine Weile dauern, doch Darius war sich darüber im Klaren, dass er diese Sinfonie nicht allein schreiben konnte – und es auch nicht mehr wollte.
Alfred schickte nur ein einziges Wort und sagte damit doch so viel mehr aus, als es ein langer Brief jemals könnte:
Vivacissimo
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