Als einige Zeit später langsam aber stetig die anderen Mitglieder des Orchesters pünktlich zur später angeordneten Tuttiprobe eintrafen, hatte Darius seine übrigen Solisten zu vollkommener Zufriedenheit nacheinander abgehandelt.
Das Telefon lag noch immer unbeachtet in seiner Tasche, nur die Gedanken an Gabriel konnte er nicht einfach so auf Knopfdruck abschalten. Gerade dass dieser sich nicht einfach nach dem ersten Versuch mit einer Ablehnung zufrieden gab, machte Darius zu schaffen.
So hartnäckig zu sein sah ihm im Normalfall nicht ähnlich. Wenn nun tatsächlich etwas Ernsthaftes passiert wäre, nicht auszudenken.
Vermutlich würde Darius in diesem Fall nie darüber hinwegkommen, dass sich diese Funkstille über fünf Jahre hingezogen hatte – auch wenn damals wohl beide ihre Gründe dafür gehabt hatten.
Jasper Sundström winkte ihm grinsend zu, als er gemeinsam mit Erwin Gebauer wieder den Raum betrat und Darius rang sich ein Lächeln ab. Selbst der Hornist nickte ihm kurz zu, ehe er sich zu seinem angestammten Platz begab.
Und eigentlich hätte es sich doch wunderbar anfühlen müssen, wenn es so wirkte, als würden ihn sogar die Zweifler nach so kurzer Zeit schon akzeptieren. Weiß Gott, was Jasper ihm von der Solo-Probe erzählt hatte, aber so ganz konnte Darius sich noch immer nicht von seinen persönlichen Sorgen lösen.
Er cremte sich nervös gerade die Hände ein, als der nächste Mensch den Raum betrat und das müde, angespannte Gesicht von Alfred Wunderlich erhellte sich merklich, als er Darius erblickte.
„Guten Morgen, Maestro!“, begrüßte er ihn lächelnd.
Darius konnte sich eines herzlichen Lächelns im Gegenzug nicht erwehren und spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
„Guten Morgen, Alfred“, sagte er selbst, bewusst etwas leiser, fast als würde er um Erlaubnis bitten.
Alfred Wunderlich schmunzelte kurz und schien sich zu besinnen, dass er nun besser auch auf seinen Platz gehen sollte, ehe diese vertrauliche Begrüßung auf andere noch befremdlich wirken würde.
Darius hingegen war einfach nur froh, dass zumindest seine sorgenvollen Gedanken um diesen Mann wirklich nur seiner eigenen Unachtsamkeit zuzuschreiben gewesen waren.
Natürlich war er pünktlich da, etwas anderes hatte Ferdinand aus der Vergangenheit niemals verlauten lassen. Und ob er mit der Bahn oder sonstwie angereist war, schien mit einem Mal auch komplett nebensächlich.
Er beobachtete noch kurz, wie Jasper Sundström sich zu Alfred neigte und ihm etwas zuzuflüstern schien, woraufhin Alfred kurz auflachte und auch etwas sagte, was Darius ebenso wenig verstehen konnte.
Dann ließ er seinen Blick durch die Reihen schweifen, um den Saal auf noch leere Plätze zu überprüfen und als auch die letzten Musiker eingetroffen waren, schloss er die Türen und ging zurück zum Pult, um darauf zu warten, dass es still im Raum werden würde. Es dauerte nicht lange und einige Dutzend Augenpaare lagen erwartungsvoll schweigend auf ihm.
Alfred und Jasper schienen noch irgendetwas zu diskutieren, wobei Jasper eilig in der Partitur blätterte und Alfred noch etwas notierte. Darius musste sich nur kurz räuspern, schon sahen sie ebenfalls zu ihm und er bemühte sich, seine kleine Ansprache kurz zu halten.
„Die Wiener Klassik. Dieser Begriff hat sich trotz der nicht enden wollenden kontroversen Diskussion der genauen Zuordnung und tatsächlichen Relevanz über eine ganze Weile hinweg durchgesetzt“, begann er und schritt mit aufmerksamem Blick durch die Reihen vor dem Pult hin und her.
„In diesem Atemzug werden oft drei Größen der Musikgeschichte erwähnt; Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven und Joseph Haydn. Es ist mir eine große Ehre, dass ich das alljährliche Konzert dieses Orchesters in diesem Zeichen mit allen von Ihnen bestreiten darf.“
Darius blieb stehen und schaute noch einmal durch die Reihen, blickte in viele entschlossene und konzentrierte Gesichter.
Nur kurz blieb sein Blick beim Vorüberstreifen an Alfred Wunderlich hängen. Dass dieser ebenso fokussiert schien und in seinen gütig warmen Augen noch auf irgendeine seltsame Art und Weise die tiefgreifenden, ehrlichen Worte vom Tag zuvor lagen, bestärkte Darius noch einmal mehr in seinem Tun.
„Jeder einzelne von Ihnen macht das große Ganze aus“, sagte er deutlich, „Und ich möchte eine Mentalität, in der sich jeder seinem Platz im Gefüge und doch auch seiner eigenen, ganz persönlichen Wichtigkeit bewusst ist!“
Erwin Gebauer klatschte laut in die Hände und gab somit wohl den Einsatz für einen kurzen, aber durch und durch einvernehmlichen Applaus.
Mit einem fast schon euphorischen Lächeln sah Darius noch einmal zu Alfred, der ihm bestärkend zunickte und er erhaschte noch einen Blick auf das grinsend zwinkernde Gesicht von Jasper Sundström.
„Wir widmen uns heute noch einmal Beethoven im Detail, und ich erwarte von jedem einzelnen volle Präsenz und akkurate Prägnanz. Sich mitziehen lassen und hoffen, dass es nicht auffällt, ist heute garantiert nicht mehr drin.“
Ein paar verhaltene Blicke wurden murmelnd ausgetauscht.
Darius nahm seinen Platz ein und öffnete das kleine Kästchen, das er schon auf dem Pult zurechtgelegt hatte. Gleich als er den Taktstock daraus zog, nahmen die Musiker bereits Haltung ein und kurz überschwemmte ihn doch dieses wieder atemberaubende Gefühl, genau das zu tun, was er immer schon hatte tun wollte.
Die nächtlichen Eskapaden seiner Komponisten-Ambitionen ganz in Ehren – aber selbst wenn diese Bemühungen niemals so in die Öffentlichkeit traten wie er es sich erhoffte, würde er sich dennoch nicht beschweren können. Nicht viele Menschen waren so privilegiert, ihren großen Traum nicht nur verwirklichen zu dürfen, sondern auch tatsächlich davon leben zu können.
Vielleicht sollte er in diesem Sinne über ein paar unliebsame Kleinigkeiten einfach hinwegsehen und sich selbst eine vielmehr dankbare Einstellung aneignen.
Was für ein beflügelndes Gefühl es doch war, dass trotz all des anfänglichen Unmuts zumindest alle Musiker professionell genug waren, ihm keine weiteren Steine in den Weg zu legen.
Beinahe schon berauschend war es hingegen, beim Einsetzen des gesamten Orchesters das Gefühl zu haben, dass es vielleicht nur eine Frage der Zeit war, bis sie alle zu einer Einheit zusammengewachsen sein würden.
Es war noch nicht viel Zeit vergangen, seitdem Ferdinand ihn angerufen hatte, doch gerade wenn eine Probe schon so gut begann, schöpfte Darius einiges an Hoffnung für die gemeinsame Zukunft mit diesen Menschen und war zuversichtlich, dass sie sich doch aneinander gewöhnen konnten.
Er könnte das Wissen um die kleinen Schwachstellen eines jeden einzelnen, das er sich innerhalb von drei Tagen angeeignet hatte, noch weiter ausbauen, sich den Musikern persönlicher widmen und auch im Gefüge darauf achten, dass jeder von ihnen zu seiner Höchstform auflaufen würde. Vielleicht noch nicht an dem bevorstehenden Konzert, das wäre vielleicht etwas zu hoch gegriffen, doch hoffte er in diesem Moment, in dem einfach alles perfekt zu fließen schien, dass neben zahlreichen erfolgreichen Abenden in der Oper noch einige weitere Jahreskonzerte anstehen würden.
Was aus einer spontanen Laune heraus entstanden war, hatte sich als Glücksgriff entpuppt. Darius war lediglich klar gewesen, dass ein nervöser Jasper Sundström als Konzertmeister auf menschlicher Ebene unnötige Schwierigkeiten bereiten würde. Alfred Wunderlich hingegen strahlte schon von weitem so viel Souveränität und Pflichtbewusstsein aus, und wie es schien, besaßen auch die anderen Musiker genügend Respekt vor ihm, seinen neuen Platz im Gefüge anzuerkennen.
Darius war schon immer der festen Überzeugung gewesen, dass manchmal auch blindes Vertrauen die beste Motivation war, ein solches nicht zu enttäuschen. Und irgendwie bekam er ein solches ja auch entgegen gebracht, womit er beweisen musste, dass er es überhaupt verdient hatte.
Als sie nach etwa vierzig Minuten den ersten Durchgang beendeten, fühlte Darius sich so energiegeladen, dass die katastrophale Nacht schon vollkommen vergessen war. Erst als er alle mental markierten Stellen zum Wiederholen nacheinander noch einmal mit den infrage stehenden Registern durchgegangen war und dazu ansetzen wollte, nun beim zweiten Durchgang die perfektionierten Feinheiten noch einmal in die Tat umzusetzen, hob Erwin Gebauer die Hand und fragte unverblümt, ob es heute denn keine Pause gäbe.
Ein Blick auf die Uhr verriet Darius, dass er den geplanten Ablauf in seinem Tatendrang doch wieder komplett auf den Kopf gestellt hatte. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass einige verworrene Haarsträhnen schweißnass an seiner Stirn klebten und mit einem recht ernüchterten Blick durch die erwartungsvollen Reihen stimmte er schließlich zu einer viertelstündigen Pause zu.
Noch während er gedanklich alles durchging und sich diesmal kurz physisch mit einem Bleistift notierte, auf was er nun hatte achten wollen, damit er auch nichts die geringste Kleinigkeit wieder vergaß, hörte er ein zaghaftes Räuspern.
Fast schon entzürnt über diese Unterbrechung hob er den Blick, seine Züge entspannten sich jedoch sofort in dem Moment, in dem er Alfred Wunderlich vor sich erblickte, der sich beinahe verlegen umsah, als hätte er Angst, jemand könne ihn beobachten.
„Wenn Sie einen Moment Zeit hätten, ich- also ich wollte fragen, ob Sie-“, begann er vor sich hin drucksend und Darius musste lächeln.
„Selbstverständlich“, sagte er, „Ich wollte ohnehin etwas an die frische Luft!“
Alfred schien kurz zu zögern, folgte ihm aber dann doch mit einem leichten Schmunzeln, als Darius den Verschluss seiner Tasche zuschnappen ließ und dann den leeren Saal hinter ihnen beiden abschloss.
Immerhin war es nun sicherlich eine unausgesprochene Vereinbarung, dass sie die Pause miteinander im Hof verbringen würden.
Darius hatte allerdings kaum Gelegenheit, sich darüber zu freuen, dass es heute Alfred gewesen war, der gezielt auf ihn zugegangen war. Gerade als sie nämlich auf dem Weg nach draußen waren, passte schon Theresa die beiden unverhofft mitten auf dem Gang ab.
„Ach!“, sie lachte und schüttelte grinsend den Kopf, „Da sieh einer an! Wo wollt ihr beide denn hin? Solltet ihr nicht eigentlich bei der Arbeit sein?“
Ungefragt hakte sie sich in der Mitte der beiden bei jedem von ihnen unter und setzte beschwingt den geplanten Weg fort. Darius konnte nicht verhindern, dass etwas unangebrachte Wut in ihm aufstieg. Ausgerechnet jetzt, wo er wieder die Chance auf ein vertrauliches Gespräch mit Alfred hatte, musste Theresa ihm auflauern und die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen?
„Wir machen Pause“, sagte er mit schneidender Stimme und versuchte sich aus dem eisernen Griff der hübschen Dame zu lösen, „Und die Frage gebe ich gern ebenso zurück, hast du nicht zu tun?“
„Jetzt aber!“, Theresa hob spielerisch drohend den Zeigefinger, „Ich dachte, ihr würdet euch über ein bisschen Gesellschaft freuen. Zum Beispiel jemand, der dafür sorgt, dass ihr eure Atemwege nicht ohne Unterlass der Belastung von Nikotin, Teer und Blausäure aussetzt!“
Alfred warf Darius einen scheinbar hilfesuchenden Blick zu, aber er selbst wusste ja nicht einmal, wie er Theresa wieder baldmöglichst loswerden sollte.
Diese schien aber gerade erst in Fahrt zu kommen, denn sie stupste Alfred eindringlich an, „Das gilt vor allem für dich, mein Lieber! Wollen wir es uns nicht stattdessen in der Cafeteria auf einen Kaffee gemütlich machen?“
Langsam wurde es Darius doch zu bunt. Irgendetwas war faul an der Sache, wenn Theresa sich mit einem Mal so aufspielte – vor allem in der Gegenwart von Alfred, wo er doch eben noch so glücklich gewesen war, wieder ein bisschen Zeit unter vier Augen verbringen zu können.
„Was willst du?“, fragte er so forsch, dass auch Alfred ihn kurz verwirrt ansah, „Sicherlich nicht auf die Gefahren des Rauchens aufmerksam machen. Was suchst du überhaupt hier, wenn wir proben? Einen Grund, um deinem Ferdinand aus dem Weg zu gehen?“
Theresa blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Tatsächlich ist er heute sehr unausstehlich, weil ihn ein gewisser Jemand beim Kaffeetrinken versetzt hat, aber das ist natürlich deine Sache nicht! Nein, eigentlich suchte ich exakt deine Wenigkeit, aber wenn ich euch schon mal beide hier antreffe“, sie brach ab und warf Darius einen eindringlichen Blick zu, der mit Sicherheit bedeutete, dass er sich höflichst entschuldigen oder Alfred einfach wegschicken sollte.
Alfred sah ohnehin schon aus, als würde er sich wahnsinnig unwohl in dieser Situation fühlen, so als wollte er sich auf der Stelle in Luft auflösen. Darius konnte es ihm im Angesicht einer zickigen Theresa auch nicht verübeln.
„Falls ich störe, ich könnte auch später-“, begann er, aber Darius unterbrach ihn mit einem durchdringenden Blick in Theresas Augen.
„Nein, Sie stören keineswegs. Was auch immer Fräulein Berentz mir mitteilen möchte, ich bin mir sicher, dass es warten kann.“
Theresa warf ihm einen tödlich giftigen Blick zu und spuckte ihm ihre nächsten Worte beinahe bedrohlich entgegen.
„Anfängerfehler!“, zischte sie und warf das Haar über ihre Schulter, „Man sagt das Wort Fräulein nur, wenn eine Dame noch nicht verheiratet ist und dann logischerweise auch den Mädchennamen. Für dich also immer noch Frau Berentz!“
Alfred wirkte, als wolle er sich am liebsten einfach ungesehen davonschleichen. Er warf Darius einen entschuldigenden Blick zu und zuckte mit einem schiefen Lächeln mit den Schultern.
Darius seufze entnervt und rieb sich die Schläfen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Theresa nutzte ihre Chance und packte ihn nun beinahe grob am Arm, tippte ihm eindringlich auf die Brust und sagte nun leiser, aber dafür umso drängender, „Ich muss mit dir reden. Jetzt!“
Darius wollte sich gar nicht ausmalen, wie diese Szene auf Alfred wirken musste. Am Ende hielt er ihn noch für Theresas heimliche Affäre oder dergleichen, wenn es nicht sowieso längst deutlich genug sein musste, wie die beiden zueinander standen.
Nun war es Darius, der Alfred mit einem entschuldigenden Blick anflehte, ihm nicht böse zu sein, „Es tut mir wahnsinnig leid, aber wenn Sie schon einmal kurz vorausgehen würden – ich komme gleich nach!“
Alfred lächelte etwas schief, nickte aber hastig, als wäre er dankbar, der Situation entfliehen zu können.
„Wir sehen uns nach der Pause“, sagte er verständnisvoll, hob kurz die Hand zum Gruß und Darius würde sich niemals selbst eingestehen, wie sehr ihm widerstrebte, Alfred wegzuschicken, nur um mit einer offensichtlich mies gelaunten Theresa zu sprechen.
Fast schon wehmütig sah er ihm noch einige Momente hinterher, bis Theresa sich vorwurfsvoll räusperte.
„Was jetzt?“, fragte er verärgert und sah sie missmutig an.
Sie nahm ihm mit nur wenigen Worten jedoch sämtlichen Atem und alle Ambitionen, sich noch weiterhin über ihr kindisches Verhalten aufzuregen:
„Es geht um Gabriel!“