Als Alfred ihn erblickte und einige Momente lang vollkommen schockiert anstarrte, wollte Darius am Liebsten im Boden versinken.
Die letzten Meter des Weges fragte er sich noch, wie diese Situation überhaupt zustande gekommen war, aber als er schließlich vor Alfred zum Stehen kam, lag auf dessen Gesicht ein schiefes Lächeln und ein leichter Rotschimmer.
„Du bist nicht Theresa“, stellte Alfred verlegen fest.
Sie hatte also genau dieselbe Nummer auch mit ihm abgezogen.
„Exakt dasselbe dachte ich auch gerade“, gab Darius zu.
Ein paar Augenblicke lang starrten sie einander einfach nur an, als würde es dauern, bis die Erkenntnis sie endlich ereilte. Dann mussten beide lachen.
„Das ist durchaus kurios“, meinte Alfred.
Er kratzte sich verlegen am Kinn und schien geradezu verstört von dieser plötzlichen Änderung seiner Pläne.
„Es ist geradezu absurd“, sagte Darius.
Wieder lachten sie beide, Darius wusste nicht wohin mit seinen Händen und auch Alfred stand da, als wüsste er nicht, was er tun oder sagen sollte.
Dabei hatte zumindest Darius so vieles auf dem Herzen, was er Alfred mitteilen wollte. Jetzt allerdings schaffte es kein einziges Wort aus seinem Mund.
Es fühlte sich an, als hätten sie eine Ewigkeit nicht mehr miteinander gesprochen, auch wenn es nicht einmal zwei Tage her war, dass sie noch gemeinsam bei Alfred zuhause gefrühstückt hatten.
Dass Alfred seine Entscheidung, ihn auf der Arbeit wieder ganz mit dem Nachnamen anzusprechen, in den falschen Hals bekommen hatte, hatte Darius ja längst vermutet.
Dass er daraus allerdings derartige Konsequenzen gezogen haben musste, dass er ihm danach geradezu aus dem Weg gegangen war, hätte ihn vermutlich in den Wahnsinn getrieben, wenn nicht unerwartet Gabriel wieder angerufen und sich selbst für ein klärendes Gespräch eingeladen hätte.
Vielleicht hatte Theresa keine schlechte Idee gehabt, wenn sie diese Sache aus diesem Grund ins Rollen gebracht hatte. Es bestand eindeutig Redebedarf, ein Nobelrestaurant schien allerdings nicht die richtige Kulisse zu sein.
Einige Momente schwiegen sie beide etwas betreten und schafften es nicht ganz, einander in die Augen zu sehen.
Es war Alfred, der sich als erstes getraute, wieder zu sprechen.
„Ich hoffe sehr, es erweckt keinen falschen Eindruck bei dir, dass ich mich mit Theresa verabredet habe“, meinte er unsicher, „Sie schlug es einfach vor, ich hatte zuvor nichts anderes geplant und dachte, man könnte eine alte Freundschaft wieder aufleben lassen.“
Darius musste zugeben, dass er erst jetzt bemerkte, wie sehr er diese Sache unter anderen Umständen hätte missverstehen können. In diesem Moment war Alfreds schüchternes Lächeln und der Rotschimmer auf seinen Wangen aber das einzige, was für ihn zählte.
„Ohne Theresa allerdings beleidigen zu wollen, muss ich aber wirklich sagen, dass ich jetzt ohnehin viel lieber- also in diesem Moment- ich meine-“
Er stockte und Darius schenkte ihm ein kleines, hoffnungsvolles Lächeln.
Alfred wirkte ganz nervös, wie er sich kurz auf seine Unterlippe biss und auf der Stelle hin- und hertrat, dann aber wohl die Worte fand, die er gesucht hatte.
„Ich bin froh, dich zu sehen“, sagte er leise und sah ihm so tief ehrlich in die Augen, dass Darius sich nicht mehr an sich halten konnte.
Es war ihm einerlei, dass sie mitten auf dem Gehsteig standen.
Er fiel Alfred um den Hals und hielt sich an ihm fest, als gäbe es kein Morgen.
Dessen ganzer Körper versteifte sich kurz als wäre er erschrocken, dann aber legte er sanft die Arme um ihn und Darius schloss selig die Augen.
Wozu die ganzen Worte? Wer musste noch um irgendwelche Formulierungen ringen, wenn das Herz doch in einer ganz eindeutigen Sprache kommunizierte?
Es stand so vieles zwischen ihnen. Nicht nur der vergangene Tag des Schweigens, nicht nur über zehn Jahre Altersunterschied und die gemeinsame Arbeit, sondern vielleicht eine ganze Welt.
So viel Unausgesprochenes, so viele Dinge die sie besser klären sollten, bevor es weitere Missverständnisse geben würde.
Doch in diesem Augenblick zählte das alles nicht.
Es war, als hätte diese Umarmung mehr als nur die räumliche Distanz überbrückt, denn als Alfred sich wieder von ihm löste, hielt er ihn noch kurz ganz sanft an beiden Armen fest und strahlte über das ganze Gesicht.
„Ich bin zutiefst entrüstet, dass du heimlich mit meiner verheirateten Schwester zum Essen ausgehst“, meinte Darius grinsend und zwinkerte Alfred zu.
Dieser errötete noch mehr, schmunzelte aber vergnügt.
„Es wäre mir eine Ehre, wenn du dich dazu entscheiden solltest, für sie einzuspringen“, sagte er leise, „Ich muss zwar gestehen, dass ich zuvor noch bei meinem Vater war, der sehr einheitliche Zeiten beim Abendessen pflegt. Dementsprechend habe ich bereits gegessen, aber-“
„Das macht nichts“, meinte Darius schnell.
Mit einem Mal fühlte er sich sehr erleichtert und entschied sich für eine Notlüge, „Ich habe ebenfalls schon zu Abend gegessen!“
Alfred lachte und zuckte mit den Schultern.
„Nun, wollen wir dann zumindest etwas trinken? Die Leute erwarten sicher, dass wir langsam eintreten, anstatt vor der Tür zu stehen“, schlug er vor.
Darius hob eine Augenbraue und warf einen kurzen Blick auf die Tür.
„Du willst wirklich da rein?“, fragte er zweifelnd, „Ich könnte mir etwas Netteres vorstellen, aber wenn du darauf bestehst, zu den feinen Leuten zu gehören-“
„Nicht im Geringsten“, sagte Alfred lächelnd.
Er sah sich kurz etwas gehemmt um, als wäre er ebenfalls nicht erpicht darauf, dann wandte er sich wieder Darius zu und grinste.
„Erleuchtet mich bitte, werter Herr Graf“, scherzte er dann, „An welchen Orten treibt man sich denn als Nachtschwärmer heutzutage herum?“
Darius musste lachen.
Von irgendwelchen hochmodernen Lokalitäten hatte er nicht die geringste Ahnung, doch einige spontane Ideen kamen ihm sofort in den Sinn.
„Ich kenne da ein schönes Lokal am Fluss“, meinte er lächelnd, „Wenn ich mich recht erinnere, bekommt man dort nicht nur Frühstück. Und wenn ich mich nicht täusche, könnte man unterwegs auch noch Schubert besuchen!“
Alfred lachte auf, „Du möchtest dorthin laufen? Warum das denn?“
„Warum nicht?“, fragte Darius unsicher, „Schmerzen habe ich keine mehr.“
Alfred sah ihn an, als wollte er sich dennoch über diesen unnötigen Fußweg beschweren, sagte aber nichts. Und als er ihm dann wieder so tief in die Augen sah, wich das Amüsement einem geradezu liebevollen kleinen Lächeln, das Darius‘ Herz aufgeregt höher schlagen ließ.
„Du hast Recht“, meinte er sanft, „Warum eigentlich nicht?“
Darius sah ihn lange an und musste aus vollstem Herzen Lächeln, ehe er mit dem Kopf in die Richtung des Weges nickte, „Wollen wir?“
„Sehr gern“, Alfred lächelte
„Außerdem-“, fügte er noch hinzu, „Wenn es dir doch zu viel wird mit deinem Bein, können wir ja auch unterwegs noch in eine Bahn einsteigen!“
Darius spürte keine Schmerzen mehr.
Er fühlte sich, als würde ihm die Welt gehören.
Nichts Schöneres konnte er sich vorstellen, als mit Alfred gemütlich durch den Park bis zum Fluss zu laufen und gemeinsam den Abend zu verbringen.
Trotzdem kamen sie niemals an ihrem Ziel an.
Alfred hatte zu Bedenken gegeben, dass Strauss und Bruckner es ihnen sicherlich übel nahmen, wenn sie nur Schubert einen Besuch abstatteten, darum dehnte sich der eigentlich geplante Weg zu einem nächtlichen Spaziergang im Park aus.
Es war viel zu dunkel, um zu behaupten, dass sie sich wirklich für die Anlage an sich interessierten, aber darüber verlor keiner von beiden ein Wort.
Den Weg bis zu Bruckner sprachen sie ohnehin wenig, als würden sie die Stille im Vergleich zum Trubel der Stadt einfach nur genießen.
Im Licht der aufgestellten Laternen warf Darius immer wieder verstohlene Blicke auf Alfred. Sobald dieser ihn erwischte, sahen sie einander an, lachten wie zwei bescheuerte Teenager und blickten dann wieder voneinander weg.
Darius trat mit klopfendem Herzen einen Schritt näher in Alfreds Richtung, sah aber mit einem verlegenenen Schmunzeln auf den Boden, als dieser ihn fast erwartungsvoll anblickte.
Es war, als würden sich beide ein bisschen gegen den magischen Bann dieser Situation wehren, obwohl die Ruhe und die idyllische Umgebung hier geradezu perfekt für die traute Zweisamkeit gemacht worden war.
Darius erwischte Alfred dabei, wie dieser nun ihn heimlich musterte.
Zum Glück konnte man bei diesen Lichtverhältnissen wohl nur erahnen, dass er mit Sicherheit längst unheimlich rot im Gesicht geworden war.
„Geht es mit dem Laufen?“, fragte Alfred schließlich in die Stille hinein.
Und Darius musste sich zumindest selbst eingestehen, dass auch wenn die Tabletten nicht wirken würden, er um keinen Preis mit der Bahn fahren wollte.
„Selbstverständlich“, meinte er mit einem zuversichtlichen Lächeln.
Denn egal, wie viel auch zwischen ihnen stehen mochte – ein Spaziergang gemeinsam im Mondschein besaß wohl auch in dieser schnelllebigen Zeit noch einen solchen Zauber, dass sie nicht länger dagegen ankämpfen konnten.
Es war nun Alfred, der mit einem weiteren Schritt in seine Richtung das letzte Stück der Entfernung überbrückte und statt weiteren Worten strich Darius mit seiner Hand sachte über Alfreds Arm, als würde er um Erlaubnis bitten.
Wofür wusste er selbst nicht genau, doch als Alfred ihn ansah, schien es egal.
Der Blick aus seinen warmen, guten Augen war in diesem Moment so intensiv, dass Darius‘ Herz vollkommen verrückt spielte.
Zaghaft fasste er ihn am Arm und Alfred lächelte sanft.
„Deine Jacke habe ich schon wieder vergessen“, meinte er verlegen.
Darius schaffte es nicht schnell genug, ihm klarzumachen, dass das nicht weiter von Belang war und dass er sie sehr gern bei ihm persönlich abholen würde, bevor Alfred ihn nun komplett aus dem Konzept brachte.
Er hatte sich vorgenommen, ihn nicht zu überrumpeln. Er hatte immer das Gefühl gehabt, wenn er sich nicht langsam herantasten würde, hätte sein überstürztes Handeln eher gegenteilige Konsequenzen.
Dennoch schrie alles in ihm danach, dass es nur eines gab, was er wollte – und das war Alfred.
Und eigentlich hatte er ja vorgehabt, vorsichtig herauszufinden, wie weit er mit seinen kleinen Annäherungsversuchen gehen konnte, ehe Alfred einen Rückzieher machen würde.
Soweit kam es allerdings gar nicht erst.
„Dir ist sicher kalt“, flüsterte Alfred nämlich, während er noch beim Laufen seinen Arm nun um seine Schulter legte und ihn sanft zu sich zog.
Erst als er den warmen Körper so nah neben sich spürte, fiel Darius überhaupt auf, dass es mittlerweile doch sehr kühl geworden war und er in seinem sorgfältig ausgewählten, aber doch viel zu leichten Outfit zu zittern begonnen hatte.
„Unsinn“, meinte er dennoch schmunzelnd und fügte noch leise hinzu, „Jetzt zumindest nicht mehr.“
Es war mehr als die Tatsache, dass Alfred durch seine Anzugsjacke hindurch eine wohlige Wärme ausstrahlte und der Arm um seine Schultern sich nach einer Geborgenheit anfühlte, die er so lange schon vermisste hatte.
Es war, als würde allein diese liebevolle Geste ihn von innen heraus wärmen.
Als sie kurze Zeit später am Bruckner-Denkmal ankamen und lachend feststellten, dass man bei dieser Dunkelheit eigentlich kaum etwas davon sehen konnte, vermisste Darius die Nähe schon sofort in dem Moment, in dem Alfred sich von ihm löste. Dass er sich lediglich seine Jacke auszog, ehe er sie über Darius‘ Schultern legte, trieb ihm wieder die Röte ins Gesicht.
„So fabelhaft dir dein schicker Anzug heute Abend auch stehen mag – so ist es sicherlich besser“, meinte er und wirkte ebenso verlegen.
Das schüchterne, unterschwellige Kompliment traf Darius so unerwartet, dass er kurz auflachen musste.
Eigentlich war es zu absurd, wenn man bedachte, dass er sich hatte für Theresa herausputzen wollen und nun dankbar sein sollte, dass sie ihn gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Aber daran verschwendete er nur einen halben Gedanken.
„Was für ein Kavalier du bist“, neckte er ihn stattdessen mit einem Augenzwinkern, „Da darf ich mich wirklich nicht beschweren – auch wenn es mir zuvor doch ein bisschen besser gefallen hat!“
Darius konnte selbst im Halbdunkel sehen, dass Alfred errötete und es mit einem unsicheren Lachen wohl überspielen wollte.
„Mhm“, machte er schmunzelnd, ehe er seinen Arm wieder um ihn legte und leise hinzufügte, „Das eine muss das andere ja nicht zwingend ausschließen.“
Darius war so glücklich in diesem Moment, dass er sich nicht nur an mit einem seligen Seufzen ihn lehnte, sondern ihn kurz darauf nun selbst in eine deutlich innigere Umarmung zog.
Er legte seinen Kopf auf Alfreds Schulter, als dieser nun beide Arme um ihn schlang und flüsterte grinsend in sein Ohr, „Ob ich Direktor Berentz wohl besser erzählen sollte, dass du solche Dinge anscheinend für Theresa geplant hattest?“
Alfred schnaufte amüsiert, aber für einen Moment dachte Darius schon, dass er mit diesem Scherz zu weit gegangen war, denn er löste sich wieder ein bisschen von ihm.
Als er ihn dabei aber nur wieder so fasziniert ansah, als könne er es kaum glauben, dass dies alles wirklich passierte, nahmen seine nächsten Worte Darius für einen Moment den Atem.
„Das hast du vollkommen falsch verstanden“, meinte er nämlich schmunzelnd, bevor sein Blick wieder so tief und ehrlich wurde.
„Mit Theresa war ich zum Essen verabredet. Das hier-“, er machte eine kleine Pause, in der er Darius wieder näher an sich zog.
„Das hier ist einzig und allein für dich bestimmt.“