Mit einem Mal war es dunkel um ihn herum.
„Alfred?“
Dabei hatte es doch eben erst zu dämmern begonnen.
Seine Augen waren offen und doch konnte er nichts erkennen. Als er versuchte, vorsichtig nach dem so zärtlich geliebten Körper in seinen Armen zu tasten, griff er ins Leere und wusste nicht mehr, wo er überhaupt war.
„Alfred!“
Die Stimme fuhr ihm durch Mark und Bein, Alfred bekam keine Luft mehr und schaffte es nicht einmal, zu husten. Nein.
Eben war doch noch Darius da gewesen- er war hier gewesen, er war bei ihm gewesen, warum um alles in der Welt- Nein. Nein, nein, nein!
Das Bettlaken. Sein Bettlaken- nein, das Laken auf Darius‘ Bett im Krankenhaus, nein. Nein- Er schlief gar nicht. Und die Wand war doch frisch tapeziert!
„Alfred-“
Ein Schmetterling. Ein Schmetterling, der nicht mehr fliegen konnte, leblos hinter Glas. Oder doch ein unförmiger, farbloser Nachtfalter?
Jemand schluchzte. Jemand wimmerte. Jemand weinte.
Die Stimme klang fremd. Es war nicht Darius. Es war nicht Onkel Ralf. Erst nach endlos scheinender Zeit fiel ihm auf, dass es seine eigene war.
„Alfred- Alfred, hörst du mich? Was ist passiert?“
Noch im selben Moment, in dem er wieder atmen konnte, musste Alfred husten. Um ihn herum wurde es heller, die Sonne versank gerade hinter den Dächern der größeren Gebäude am anderen Flussufer.
Er bekam die Lehne der Parkbank zu fassen und wollte sich darauf niederlassen, bis ihm auffiel, dass er sich daran wohl lediglich wieder nach oben in eine sitzende Position ziehen konnte.
Ein zaghafter Kuss auf seiner Stirn. Zarte, schmale und eiskalte Hände, die sein Gesicht streichelten. Der Duft von Lavendel. Alles war gut.
„Alfred- Liebling- Was ist mit dir?“
Darius war bei ihm. Es war doch alles gut. Er war immer noch hier.
Es dauerte eine ganze Weile bis Alfred wieder einigermaßen zu sich kam.
Darius blieb. Er saß geduldig neben ihm, nachdem Alfred sich etwas aufgerichtet hatte, hielt ihn fest, streichelte ihn und küsste seine Wange.
„Es tut mir leid“, hauchte Darius schließlich erstickt.
Alfred blinzelte weitere Tränen aus seinen Augen und schüttelte den Kopf.
„Mir tut es leid“, wisperte er und nahm einen tiefen Atemzug, „Ich hatte nicht gewusst, dass man auch Alpträume bekommen kann, wenn man wach ist.“
Darius sah ihn zutiefst besorgt an, dann küsste er seine Nasenspitze.
„Alpträume als Tagträume?“, fragte er verwirrt, schien jedoch eingehender darüber nachzudenken, als Alfred es überhaupt beabsichtigt hatte, „Wovon denn?“
Alfred schnaufte, „Ich habe keinen blassen Schimmer. Aber- Es ist auch nicht weiter wichtig. Es tut mir leid, dass ich dich so erschreckt habe.“
„Unsinn“, Darius runzelte die Stirn, „Natürlich ist das wichtig. Sehr wichtig sogar – Vor allem, wenn du so etwas noch nie zuvor erlebt hast.“
Etwas unbeholfen griff Alfred nach Darius‘ Hand und schaffte es endlich, ihm seinerseits wieder einen kleinen Kuss zu geben.
„Lass uns noch einige Schritte laufen und dann ins Café“, bat Alfred ihn.
Darius nickte, er sah so zutiefst besorgt aus, als würde er ihm in diesem Moment jeden erdenklichen Gefallen tun, um den er ihn bitten würde.
Er wirkte komplett vor den Kopf gestoßen und Alfred konnte es ihm nicht verübeln. Während sie am Ufer entlang schlenderten, waren ihre Hände wieder ineinander verflochten. Alfred fiel es schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Mit der Zeit wurde es einfacher, aber Darius schien lange noch nicht beruhigt.
„Das heißt, du warst für einen Moment komplett weg und innerlich haben sich ganz andere Dinge in deinem Bewusstsein abgespielt?“, wollte er besorgt wissen, „Meinst du eine Art Flashback?“
Alfred zuckte hilflos mit den Schultern, „Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung. Aber lassen wir das- Ich wollte noch ein bisschen die Zeit mit dir genießen, nicht über solche absurden Dinge grübeln.“
Darius schnaufte, nickte aber leicht, als übe er sich in Verständnis.
„Wenn du meinst-“, stimmte er ihm zaghaft zu und streichelte mit seinem Daumen sanft über Alfreds Handrücken, als wollte er ihn beruhigen.
Entgegen seiner eigenen guten Vorsätze war es nach einigen hundert Metern, die sie gemeinsam am Ufer entlang liefen, doch wieder Alfred, der zumindest das vorher Geschehene wieder aufgriff.
„Du sagtest, du wolltest über etwas reden“, erinnerte er Darius an sein eigentliches Vorhaben, „Du hast geschrieben, du würdest mir alles erklären.“
Darius sah ihn zweifelnd an, dann biss er sich auf die Unterlippe und senkte den Blick, als wollte er ausweichen.
Vielleicht war es das. Vielleicht war es das, was Alfred so aus der Bahn geworfen hatte. Dass sich seine Küsse nicht so angefühlt hatten, als wären sie seinetwillen geschehen, sondern lediglich als Ablenkungsmanöber gedacht gewesen, um doch nicht zu seinem Wort stehen zu müssen.
Womöglich machte er es sich damit zu einfach. Letzten Endes lief es aber darauf hinaus, dass Darius‘ betretenes Schweigen Alfred viel mehr verletzte, als es Worte je können würden – dachte er zumindest kurz.
„Was gibt es denn noch zu erklären?“, fragte Darius nämlich nur.
Alfred schnaufte.
Das machte es nicht besser. Im Gegenteil.
„Einiges“, begann er mit einer ausladenden Handbewegung, „Vieles. Alles?“
Natürlich würde er nicht so weit gehen, um zu vermuten, dass Darius ihn zum Narren halten wollte. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sie auf der Stelle traten und so nicht weiterkommen würden.
Aber würden sie das jemals?
Alfred zweifelte und schloss für einen Moment die Augen, um nicht weiterhin der fast steinern verhärteten Mimik des Mannes ausgeliefert zu sein, von dem er sich so vieles wünschte, was dieser ihm anscheinend nicht geben konnte.
Er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass es für sie beide eine sehr frustrierende Situation war, über alles zu reden, was zuvor niemals ausgesprochen worden war, sondern nur als grübelnde Vermutungen in zwei verschiedenen Köpfen existierte.
Tat es das überhaupt? Oder hatte er sich das alles eingebildet und für Darius war es nicht mehr als ein netter, von vielen anderen Dingen ablenkender Zeitvertreib gewesen, den er nun loswerden wollte, bevor er zu viel Platz einnahm?
Alfred atmete tief durch, dann begann er, „Zum Beispiel warum du-“
Darius hob fast herausfordernd die Augenbrauen.
Mit einem Kopfschütteln brach Alfred ab.
Er schnaufte und lenkte ein, „Nein, das klingt falsch.“
Dann rang er nach weiteren Worten, stockte aber wieder.
Was er tun sollte, war ihm schleierhaft, sodass er erst einmal versuchte, in sich hineinzufühlen, worum es gerade überhaupt in erster Linie ging. Er war traurig, ja.
Ein bisschen wurde er gerade sogar wütend, das gab er zu.
Vor allem aber machte sich bittere Enttäuschung in ihm breit.
War es vielleicht genau dieselbe Ernüchterung, die auch Darius dazu gebracht hatte, sich zu distanzieren? Der Moment, in dem die rosarote Brille einen Sprung bekam und die zuvor noch gottesgleiche Person vor einem plötzlich ungeschönt und mit all ihren nur allzu menschlichen Fehlern in all ihrer Unvollkommenheit vor einem stand? Die Ecken und Kanten, die kleinen und großen Makel, die man plötzlich wahrnehmen konnte, vor denen man die Augen verschlossen hatte?
Alfred wusste, dass er selbst nicht perfekt war.
Dass aber auch Darius nicht immer ein liebenswerter Mensch war, fühlte sich gerade für ihn wie ein Schock an. Dass es eben nicht immer charmant war, wenn er sich unmöglich verhielt, dass es eben nicht sein Herz erwärmte, wenn sich äußerte, dass er eben doch in seiner eigenen Welt lebte.
Alfred schluckte die Tränen hinunter.
Darius sah ihn die ganze Zeit über aufmerksam an, ob er sich nicht äußern wollte oder Alfred tatsächlich die Chance gab, endlich ordentlich zu formulieren, vermochte er nicht zu sagen, doch in dem Moment war er trotzdem dankbar.
„Ich möchte dir keine Vorwürfe machen, Darius“, begann Alfred und verfluchte sich selbst dafür, dass seine Stimme immer brüchiger wurde, „Ich möchte es einfach nur verstehen- Dich verstehen. Du musst dich nicht rechtfertigen, du bist mir keine Erklärung schuldig, aber bitte- bitte sprich mit mir.“
Darius sah aus, als würde er kämpfen.
Womit oder wogegen, das vermochte Alfred nicht zu sagen und er traute sich auch längst nicht mehr, irgendeine Vermutung anzustellen.
Schließlich schaffte er es wohl, über seinen Schatten zu springen.
„Es wäre einfacher, wenn du mir Vorwürfe machen würdest“, meinte Darius und raufte sich das Haar, „Vielleicht würde ich mich dann dazu genötigt fühlen, mich zu verteidigen. Dann würden wir einander Dinge an den Kopf werfen, uns streiten bis die Fetzen fliegen. Dabei würden wir alles erfahren, was den anderen beschäftigt und könnten etwas damit anfangen!“
Alfred starrte ihn an.
„Streiten?“, wiederholte er, „Ich möchte nicht mit dir streiten. Wir können doch einfach miteinander reden. Ganz normal, ganz sachlich und-“
„Ach, mach dir doch selbst nichts vor, Alfred“, mit einem Mal klang Darius‘ Stimme eiskalt, „Wie oft haben wir das schon behauptet und dann doch bloß an der Oberfläche der Themen gekratzt, um die es wirklich geht? Wir haben über Enten geredet, statt uns kennen zu lernen. Wir haben alberne Pläne geschmiedet, statt einander Fragen zu stellen und lieber geschmust, statt über Antworten nachzudenken. Wir haben uns geküsst, statt miteinander zu reden- und ich kaufe dir einfach nicht ab, dass du so naiv bist, nicht selbst schon bemerkt zu haben, dass wir hier einem Hirngespinst hinterherjagen!“
Alfred stockte der Atem.
Die Worte trafen ihn stechend, schneidend, schmerzend direkt ins Herz.
„Ich wusste es schon, bevor mir die Entscheidung quasi abgenommen wurde“, fuhr Darius fort, „Und vertrau mir, du willst gar nicht wissen, was ich damit meine. Tatsache bleibt, dass das mit uns von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Jetzt stehen wir hier und wissen nicht wohin- nach nicht einmal vier gemeinsamen Wochen stehen wir vor einem Scherbenhaufen, das kann einfach nicht gut gehen.“
Alfred war, als würden Darius‘ Worte ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Und obwohl er in jedem Punkt recht hatte, kam es unerwartet.
Vielleicht war es genau deswegen so schlimm, weil es die Wahrheit war.
Es dauerte einige Augenblicke, bis Alfred wieder atmen konnte.
Dennoch fand er keine Worte, aber die Maske, die auf Darius‘ Gesicht gelegen war, schien langsam zu bröckeln. Er bemerkte es zuerst an seiner Stimme.
„Und es wäre so verflucht einfach, wenn ich mir das selbst zu Herzen nehmen könnte“, fuhr er nämlich zittrig fort, „Es wäre so verdammt einfach, wenn ich einfach sagen könnte, dass ich dich nicht mehr sehen möchte und wir beide unserer Wege gehen sollten. So wie vorher. So als wären wir uns nie begegnet.“
Alfred spürte, wie diese Worte ihm das Herz brachen.
„Ich würde mir sogar wünschen, dass ich reines Gewissen sagen könnte, dass ich nicht weiß, was ich selbst eigentlich will“, Darius klang mittlerweile heiser, „Aber das stimmt nicht. Ich will dich, Alfred. Ich will mit dir zusammen sein. Aber ich will auch, dass es nicht nur für einige Momente ist, in denen wir alles andere vergessen und in einer unrealistsichen Parallelwelt leben.“
Alfred schluchzte und musste sich mit aller Macht davon abhalten, einfach seine Arme um Darius zu legen und ihn fest an sich zu pressen.
„Ich will, dass es für uns eine Zukunft gibt“, sagte Darius mit brüchiger Stimme, „Aber momentan weiß ich nicht einmal selbst, was die Zukunft bringt.“
Alfred nickte zaghaft. Einige Augenblicke konnte er nichts anderes tun als zu weinen. Erst als er es wieder schaffte, Darius anzusehen, war ihm als könnte er klar und deutlich auf seinen todtraurigen, blassen Zügen ablesen, was in ihm vorging.
Er kämpfte.
Er kämpfte gegen sich selbst und genauso wie Alfred in der Vergangenheit schon hatte immer wieder feststellen müssen, war dies ein Kampf, den man nicht gewinnen konnte.
Vorsichtig streckte Alfred den Arm aus und war selbst überrascht, dass Darius nicht sofort die Hand wegzog, als er sie berührte. Kurz konnte er nicht glauben, dass kaum eine nennenswerte Zeit verstrich, nachdem sich ihre Finger ineinander verflochten hatten. Ehe sich Alfred versah, schloss Darius ihn fest in seine Arme.
Und in diesem Moment verstand er.
Es ging momentan nicht miteinander. Aber es ging auch nicht ohneeinander.
Vielleicht hatte sein erster Eindruck von Darius getäuscht. Vielleicht hatte er viele seiner Verhaltensweisen lange Zeit bagatellisiert oder die Augen vor allem verschlossen, was er an ihm nicht hatte sehen wollen.
Natürlich war kein Mensch perfekt, natürlich hatte jeder auch seine hässlichen Seiten, die Momente, in denen man sich wirklich unausstehlich verhielt und kaum Rücksicht auf die Gefühle von anderen nahm.
Es war keine Schande, sich einzugestehen, dass Darius ihn gerade wahnsinnig verletzt hatte. So sehr, dass Alfred nicht sicher war, ob er diesen Schmerz jemals vergessen können würde. Dass er ihn gleichermaßen wütend und traurig gemacht hatte, indem er ihre gemeinsame Zeit so herablassend rezitiert und vollkommen nüchtern zusammengefasst hatte, als wäre ihm nichts daran gelegen.
Es wäre gelogen zu sagen, dass Alfred einfach so über diese fast eiskalt wirkende Art hinwegsehen oder die Weise schönreden konnte, mit der er über sie beide gesprochen hatte, selbst wenn er danach noch eingelenkt hatte.
Natürlich hatte Darius gewusst, dass diese Worte ihn treffen würden.
Trotzdem hatte er sie ausgesprochen, auch wenn sie Alfred verletzen würden.
Doch es änderte nichts.
Nichts an seinen Gefühlen, nichts an seinen Wünschen für die Zukunft.
Es war gleichermaßen erleichternd und beängstigend, wie wenig es änderte.
Alfred liebte diesen Mann. Mit eben jenen Ecken und Kanten, kleinen und großen Makeln, seinen Fehlern und seiner meist unmöglichen, manchmal gar unausstehlichen Art. Darius war ein Mensch.
Und Alfred liebte ihn nicht trotzdem, sondern genau deswegen.
„Wir schaffen das“, flüsterte er in Darius‘ Ohr und hielt sich selbst davon ab, ihn danach so liebevoll zu küssen, wie er es sich ersehnte, „Vielleicht nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben und ganz sicher auch nicht mehr heute, aber ich habe die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben.“
Darius klammerte sich fester an ihn, als wäre Alfred das einzige, was ihm Halt gab. Er nickte zaghaft und Alfred atmete tief durch, um nicht seinerseits schwach zu werden und über die Sprachlosigkeit mit Zärtlichkeiten hinwegzuhelfen.
„Ich werde nicht aufgeben, Darius“, wisperte Alfred, „Weder dich noch uns.“