Die Bahn war zwar gut besetzt, aber nicht so überfüllt wie zur morgendlichen Zeit. Entgegen des auf dem Weg besprochenen Plans, sich diesmal gegenüber voneinander zu setzen, um ordentlich miteinander sprechen zu können, waren nur noch Zweierreihen zu Genüge frei.
Alfred scherzte noch darüber, dass sie heute ja wohl hoffentlich nicht wieder Luise Frey über den Weg liefen, aber Darius schien von der kurzen Strecke in diesem hastigen Tempo doch etwas erschöpft.
Vermutlich waren allein die Treppen dem Zustand seines verletzten Bein nicht gerade zuträglich gewesen, aber da er nichts dergleichen hatte verlauten lassen, fiel es Alfred erst wieder wirklich ein, als er neben ihn auf den Sitz sank und einige Male tief durchatmete, als würde er um Fassung ringen.
„Hast du Schmerzen?“, fragte Alfred besorgt.
Darius schenkte ihm ein schiefes Lächeln, aber es konnte nicht über den verkrampften Ausdruck auf seinem Gesicht hinwegtäuschen.
„Es geht schon“, meinte er schnell, aber es klang nicht überzeugend.
Er kramte in der Tasche auf seinem Schoß, bevor er zwei kleine Döschen ans Tageslicht beförderte. Das eine kannte Alfred zu Genüge und es roch schon mit geschlossenem Deckel nach Lavendel. Das andere war etwas kleiner und klapperte bei jeder Bewegung.
„Minzbonbons“, erklärte Darius und Alfred wurde rot, weil er ihn auf frischer Tat beim neugierigen Starren erwischt hatte.
Er nahm wohl eins aus der Dose, steckte es sich in den Mund, bot Alfred aber keines davon an, was ihn zugegeben gleich etwas beruhigte. Irgendwann einmal hatte er sich schon gefragt, ob Menschen wirklich aus Höflichkeit anderen zum Beispiel ein Kaugummi anboten oder ob es eine unterschwellige Botschaft und gleichermaßen die Lösung der damit angesprochenen Problematik darstellte.
Den Geruch von Minze konnte er zwar keine Sekunde lang vernehmen, der wurde aber sicherlich auch bereits vom Lavendel erstickt, bevor er hätte zu ihm durchdringen können. Darius cremte sich sorgfältig die Hände ein, dann packte er alles wieder weg und sank mit einem Seufzen wieder zurück ins Polster des Sitzes.
Alfred sah für einen Moment aus dem Fenster, immerhin fühlte er sich langsam wirklich ungehobelt, ihn bei jeder seiner Bewegungen zu beobachten.
Als er jedoch eine plötzliche, nicht einmal sonderlich sanfte Berührung an seiner Schulter spürte, wandte sich Alfred fast alarmiert wieder um – nur um auf Augenhöhe erst einmal komplett ins Leere zu blicken.
Es dauerte einige Momente, bis ihm auffiel, dass das Gewicht noch immer auf seiner Schulter ruhte und er beim Senken seines verwirrten Blickes direkt auf den wohlbekannten Scheitel schaute, diesmal jedoch aus einer anderen Perspektive.
Alfred räusperte sich diskret, weil ein paar neugierige Blicke von anderen Passagieren diese mitten in der Öffentlichkeit doch wahrscheinlich durch und durch unangebrachte Geste schon überwachten.
Im Prinzip hätte Alfred ja absolut nichts dagegen einzuwenden gehabt.
Tatsächlich wurde ihm sogar ein bisschen warm ums Herz, wenn es Darius in dieser Situation das Liebste war, sich einfach kurz an Alfreds Schulter auszuruhen, doch je länger er so gegen ihn gelehnt auf dem Sitz hing, desto mehr war sein Herzklopfen wohl dem Umstand geschuldet, dass sie nicht allein waren.
„Darius“, flüsterte er, erntete aber keine Reaktion.
Ein bisschen mulmig wurde ihm dabei, immerhin konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es Darius egal war, wenn andere sie sehen konnten.
Unter anderen Umständen wäre er wohl überglücklich gewesen, jetzt allerdings war er hin- und hergerissen zwischen Scham und plötzlich aufkommender Panik.
„Darius“, flüsterte er noch einmal eindringlicher, „Die Leute schauen schon.“
Dass er sich nicht einmal regte, sondern nur schwer atmete, bestätigte Alfreds schleichenden Verdacht, dass es sich vielleicht doch nicht um eine zärtliche Geste handelte, sondern dass Darius sich mit der Belastung seines verletzten Beins etwas überschätzt hatte.
„Darius?“, wisperte er nun fast panisch und fasste ihn unwillkürlich sanft am Arm, „Ist alles in Ordnung?“
Es schien eine halbe Unendlichkeit zu dauern, ehe er sich wieder regte.
„Es geht schon wieder“, hauchte Darius zittrig und setzte sich etwas auf, um den Kopf stattdessen gegen das Polster des Sitzes zu lehnen.
Er war leichenblass und wirkte ganz benommen, während er tiefe Atemzüge nahm und mit den Händen seine Tasche umklammerte.
„Bist du dir sicher, dass du heute schon wieder zur Arbeit kannst?“, fragte Alfred vorsichtig.
Darius sah ihn kurz verwirrt an, dann rieb er sich mit einer fahrigen Handbewegung über das Gesicht und schüttelte den Kopf, bevor er nickte.
„Selbstverständlich“, war seine Antwort, die Alfred besorgt eine Augenbraue heben ließ, „Ist alles halb so wild. Die Krankmeldung gilt nur für gestern. Außerdem bin ich sowieso unterwegs. Und mir geht es gut.“
Alfred wagte es, an seiner letzten Aussage zu zweifeln, schenkte ihm aber ein schiefes Lächeln. Vielleicht wäre es unangebracht, den Vorfall vom Konzert zu erwähnen, doch er musste sich sehr beherrschen, nicht darauf zurückzukommen.
Zumindest würde Darius heute immer mal wieder sitzen können, anstatt stundenlang am Stück stehen zu müssen. Vermutlich würde die sogenannte Probe sowieso nur auf einige hitzige Diskussionen über das Programm der Saison hinauslaufen und eigentlich wollte er sich ja auch nicht in seine Angelegenheiten einmischen. Er sorgte sich, aber letzten Endes war Darius Ottesen ein erwachsener Mensch, der für sich selbst sorgen musste.
„Alfred-“, begann Darius schließlich, „Denkst du, dass-“
Er brach ab und Alfred sah ihn fragend an.
„Denke ich, dass?“, wiederholte er, „Was denke ich?“
Darius schüttelte den Kopf, „Nein, schon gut. Vergiss es wieder.“
Alfred sah ihn einige Momente lang durchdringend an und konnte nicht behaupten, dass seine Sorge dabei weniger wurde. Irgendetwas schien absolut nicht in Ordnung zu sein und die Sache mit der Verletzung trieb Darius wohl um einiges mehr um, als dass er einfach nur unter den Schmerzen litt.
Er überlegte einige Momente angestrengt, wie er diese Situation irgendwie unter Kontrolle bekommen konnte. Dann gab er auf, weil ihm auffiel, dass er irgendeine Art von Kontrolle in Darius‘ Gegenwart sowieso nie besessen hatte.
„Hast du dein Telefon dabei?“, fragte Alfred und Darius sah ihn mit großen, fast panischen Augen an.
„Natürlich“, sagte er und seine Stimme klang fast kläglich, „Wieso?“
Alfred lächelte, als Darius die Tasche öffnete und das Telefon herauszog.
„Was ist mit diesen-“, Alfred deutete auf sein Ohr, „Mit diesen Knöpfen?“
Darius lachte leise und zog das Kabel mit den Kopfhörern aus seiner Tasche, um sie an Alfred weiterzureichen, „Bitte sehr. Was auch immer du damit vorhast – du brauchst meinen Fingerabdruck zum Entsperren des Bildschirms!“
„Ich hatte gedacht-“, begann Alfred und nahm einen der beiden Knöpfchen an sich und reichte den anderen an Darius weiter, „Ich dachte, du könntest mir ja eventuell einmal die Vorzüge der modernen Technik näherbringen.“
Die Verwirrung auf Darius‘ Gesicht wich einer tiefen Dankbarkeit. Auf seinen Lippen lag ein kleines, feines Lächeln und seine Augen strahlten.
„Sehr gern“, meinte er sanft und kramte wieder in seiner Tasche, ehe er sich an seinem Telefon zu schaffen machte.
Es ging um einiges schneller, als Alfred wirklich verfolgen konnte, was Darius da mit dem kleinen Gerät machte, bevor er ihm den Stöpsel für die Ohren wieder abnahm, beide mit einem nach Desinfektionsmittel riechenden Tuch abrieb und ihm dafür den anderen reichte.
„Das ist links und das ist rechts“, erklärte er und deutete auf winzig kleine Buchstaben, die Alfred gar nicht entdeckt hatte.
Der Knopf im Ohr fühlte sich ein bisschen unangenehm an, aber dafür war Darius wieder ein bisschen näher gerückt, um ihn mit auf den Bildschirm schauen zu lassen und um das Kabel nicht allzu sehr zu spannen, was bei Alfred wieder für aufgeregtes Herzklopfen sorgte.
„Was möchtest du hören?“, fragte Darius dann und als er den Blick vom Bildschirm kurz in Alfreds Augen hob, flatterten seine Wimpern betörend.
Nie zuvor war ihm aufgefallen, dass sie so wahnsinnig lang und dicht waren. Nie war ihm aufgefallen, dass das Muttermal unter seinem Auge eigentlich aus zwei kleinen direkt nebeneinander bestand. Und nie hatte Alfred auch nur einen bewussten Gedanken daran verschwendet, wie unheimlich schön er war.
„Das kommt darauf an, welche Auswahl mir zu Verfügung steht“, meinte Alfred verlegen und wandte den Blick schnell wieder auf den Bildschirm, um ganz fasziniert zu beobachten, wie das Darius dieses Gerät bediente.
Dieser lachte nur, „Was immer du möchtest!“
„Ja?“, fragte Alfred verlegen und kratzte sich an der Nase, „Ich wage zu bezweifeln, dass deine telefoneigene Musikbibliothek mit Joe Dassin ausgerüstet ist, aber ich lasse mich auch gern bezüglich der Wahl von dir überraschen.“
„Ich habe tatsächlich keine Musikdateien auf dem Telefon gespeichert“, Darius schmunzelte hintergründig, „Nun siehe und staune. Ich stelle dir nun eine große Errungenschaft der Menschheit vor – das Internet. Sämtliche Musik, die jemals aufgenommen und digitalisiert wurde, auf Knopfdruck.“
Alfred lachte und zuckte mit den Schultern.
„Davon gehört habe ich wohl, nur gebraucht habe ich es bislang nicht“, meinte er verlegen, aber Darius lächelte nur verständnisvoll.
„Wenn man einmal damit anfängt, möchte man es nicht mehr missen“, warnte Darius ihn noch, aber Alfred konnte gar nicht damit beginnen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als das euphorische Glücksgefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte.
Auf dem kleinen Bildschirm prangte sogar schon das Antlitz von Joe Dassin und darunter einige Cover seiner veröffentlichten Platten, als Darius noch wissen wollte, was genau er denn von ihm hören wollte.
Unangenehm schnitt just in diesem Moment jedoch eine wohlbekannt klingende Stimme durch die ausgelassene Atmosphäre:
„Nächster Halt: Karlsplatz“
Beide zuckten zusammen und sahen sich dann an, ehe sie wie auf Kommando lachen mussten.
„Na“, meinte Alfred schmunzelnd, „Dann müssen wir das wohl aufschieben!“
Darius lächelte, während er alles wieder sorgfältig in seiner Tasche verstaute, hastig aufstand und sich noch kurz am Sitz festhielt, während er zu Alfred sah.
„Danke“, sagte er leise und in seinen Augen lag wieder dieser besondere Blick.
Kurz musste Alfred überlegen, wofür ihm diese Dankbarkeit galt.
Womöglich war es nicht die klügste Entscheidung gewesen, über Darius‘ offensichtliche Problematik mit kurzfristiger Ablenkung hinwegzuhelfen. Am Ende gab es ihm gar das Gefühl, dass Alfred sich nicht damit auseinandersetzen wollte. Vielleicht aber wusste er es auch zu schätzen, dass er ihn nicht in die Enge getrieben hatte, sondern versucht hatte, aus der Situation das beste zu machen.
Zumindest hatte er wieder ein bisschen Farbe im Gesicht und als die Bahn hielt, wirkten seine Schritte auch wieder um einiges sicherer.
Alfred konnte nicht einschätzen, ob Darius wirklich nur einige Momente gebraucht hatte, um sich wieder zu fangen oder ob er ihm tatsächlich ein bisschen hatte helfen können. Er maßte sich nicht an, so etwas zu vermuten, und doch hoffte er es im Stillen.
Er erwischte sich noch bei ausgesprochen unangebrachten Gründen für die Tatsache, wie sehr ihm sein Wohl am Herzen lag, aber als sie schließlich an der Oper ankamen, blieb Darius kurz vor der Tür stehen und sah noch einmal zu ihm.
„Alfred-“, begann er und dem Angesprochenen rutschte das Herz in die Hose.
Er lächelte schief, denn er konnte vermuten, worauf es hinauslaufen würde.
Vielleicht war nun tatsächlich der Moment gekommen, in dem ein stilles Einverständnis nicht mehr ausreichte, sondern man tatsächliche Regeln aussprechen musste. Und so sehr Alfred eigentlich gedacht hatte, dass er absolut keine anderen Prioritäten setzen würde, sondern genau dasselbe bevorzugen würde, versetzte es ihm doch einen Stich, als Darius sich an ihn wandte.
„Ich- Ich möchte wirklich nicht, dass wir unsere- unsere professionelle Zusammenarbeit mit diesen persönlichen Angelegenheiten durcheinanderbringen“, sagte er nämlich und Alfred spürte einen Kloß im Hals, als er nickte.
„Selbstverständlich“, hörte er sich sagen, „Das bleibt natürlich alles unter uns.“
Kurz sahen sie einander schweigend an und Darius‘ Lippen zuckten zu einem kleinen, schiefen Lächeln.
„Ich möchte nicht noch mehr Unruhe stiften“, sagte er leise, „Die letzte Woche habe ich wohl zu Genüge schon alles durcheinander gebracht und für die ein oder andere Unannehmlichkeit für die gesamte Gruppe gesorgt.“
Alfred war im Begriff, zu widersprechen.
Er wollte ihm sagen, wie sehr er davon überzeugt war, dass der Mann vor ihm das Beste war, das diesem Orchester hatte passieren können. Dass er nicht nur den lange benötigten frischen Wind hinein brachte, schüchterne Violinisten zu Höchstform auflaufen ließ und das alljährliche Konzert zu einem unvergesslichen Erlebnis hatte werden lassen.
Aber als Darius schon die Tür öffnete und das Gespräch damit beendete, blieben ihm sämtliche Worte im Hals stecken und er erwischte sich dabei, wie er vielleicht doch nicht mehr ganz objektiv an die Sache heranging.
Er schaffte es nicht schnell genug, sich in Bewegung zu setzen.
Es war, als hätte diese kleine, sehr ernüchternde Ansprache ihm sämtliche Energie genommen, die er geglaubt hatte, wiedergewonnen zu haben. Wie angewurzelt starrte er Darius hinterher, bis dieser einen kurzen Blick hinter sich warf und auffordernd in Richtung Tür nickte.
„Kommen Sie nach, Herr Wunderlich?“