Obwohl sich Vater und Sohn beeilten, den Saal recht zügig zu verlassen, herrschte draußen in der Eingangshalle schon wieder dichtes Gedränge.
Großen Ansturm erlebten vor allem Garderobe und Ausschank – die Massen schienen sich zu teilen in solche Leute, die schnell nach Hause wollten, und wiederum andere, die erst einmal noch zu bleiben gedachten.
Und auch wenn Alfred zuvor von sich selbst erwartet hatte, dass er zumindest versuchen würde, den Vater zum Gehen zu überreden, war ihm nun gar nicht mehr danach, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Einem Spaziergang mit Theresa Berentz stand er zwar nach wie vor kritisch gegenüber, aber vielleicht würde sogar sein Vater sich dazu entscheiden, lieber zurück zum Auto zu gehen, anstatt in diesem Gedränge gezielt nach zwei Personen zu suchen.
„Magst noch was trinken?“, fragte Kurt mit lauter Stimme, um sich über den Lärmpegel hinweg durchzusetzen, obwohl die beiden dicht nebeneinander gedrängt versuchten, sich einen Weg zu bahnen.
„Sehr ungern“, rief Alfred als Antwort nach einem Blick auf die Menschentraube vor dem Ausschank.
Die Vorsilbe „un-“ schien allerdings ebenfalls im allgemeinen Gerede und Gerufe unterzugehen, denn sein Vater nickte ihm kurz zu und bedeutete ihm, sich einen runden Tische zu ergattern, während er die Getränke besorgte – und schon war auch er komplett im Gedränge verschwunden.
Alfred seufzte tief, schüttelte aber nur schmunzelnd den Kopf.
Dann steuerte er tatsächlich die Richtung der Stehtische an, wobei er es eher ein gegenseitiges Schieben und Geschobenwerden darstellte, statt wirklich zu gehen.
So war es eben, wenn man sich nach dem Fahrer richten musste, weil man kein eigenes Auto besaß. Wirklich wütend konnte er sich gerade aber gar nicht fühlen und wenn sich nicht unzählige Menschen an ihm vorbeiquetschen würden, wäre er vermutlich viel zu gut drauf, um seinem Vater noch immer Unmut über Brahms überzeugend verkaufen zu können.
Erst als genügend Zeit vergangen war, dass sich zumindest ein Teil der Hinausströmenden zu den Türen nach draußen vorgearbeitet hatte, lichtete sich das allgmeine Gedränge wieder ein wenig; oder besser gesagt: es verteilte sich einfach in den großzügigen Räumlichkeiten. Von seinem Vater war immer noch keine Spur, wahrscheinlich waren noch sehr viele andere Menschen auf den Gedanken gekommen, dass sie jetzt nach dem Konzert noch etwas trinken wollten.
Scheinbar hatte sich aber zumindest das Servicepersonal während der Vorführung mit den Flaschen von Berentz auseinandergesetzt – Alfred wollte sich den Unmut gar nicht ausmalen, der in solchen Situationen unter den Mitarbeitern herrschte, aber zumindest schienen die Tische allesamt frei von den Spuren der öffentlich zur Schau gestellten Alkoholabhängigkeit des Direktors.
Allerdings auch von Berentz selbst keine Spur hier – an den schon jetzt komplett belegten Tischen standen gänzlich andere Personen, dabei hatte Alfred ja vermutet, dass wo er Berentz finden würde, bald auch sein Vater mit den Getränken auftauchen würde.
Zumindest aber die dröhnende Stimme des immerzu lauten Mannes konnte er von diesem Standort aus deutlich vernehmen und sie führte ihn tatsächlich zielsicher zu ihrer ursprünglichen Quelle.
Da standen sie beide, Berentz und seine hübsche Ehefrau; scheinbar waren auch sie nicht schnell genug gewesen, noch einen freien Tisch zu ergattern und nahmen nun wohl oder übel damit Vorlieb, sich zumindest ein ruhigeres Eckchen zwischen Ausschank und den Türen zu Künstlergarderoben gesucht zu haben, um noch zu verweilen.
Schon von weitem winkte Theresa ihm freudig zu, als sie Alfred erblickte. So konnte er gar nichts anderes tun, als sich zu den beiden zu gesellen.
„Wo hast du denn deinen Vater gelassen?“, fragte Ferdinand Berentz und Alfred schaffte es nicht einmal, sich darüber zu empören, so plötzlich und vollkommen ungefragt von ihm geduzt zu werden.
Theresa sagte wohl etwas dazu, was Alfred über den Lärm hinweg nicht verstehen konnte, und Berentz lachte schallend und klopfte ihm unangenehm fest auf die Schulter, „Ach, der Alfred weiß schon wie ich das meine! Heute ist die perfekte Gelegenheit, da müssen wir doch mal alle miteinander anstoßen – so jung kommen wir ja nicht mehr zusammen!“
Davon abgesehen, dass zumindest Alfred dem Direktor fast täglich über den Weg lief und dabei entweder kaum beachtet oder seit Jahren zumindest distanziert gesiezt wurde, hatte er sich sowieso längst dazu entschlossen, das alles hier einfach über sich ergehen zu lassen. Seinem Vater zuliebe – und weil er entschieden keine Lust darauf hatte, sich die gnädig gestimmte Laune wieder verderben zu lassen.
So schenkte er beiden ein etwas schiefes Lächeln und wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen. Ja, er stellte gar die Vermutung auf, dass die Menschen in Gesellschaft nur tranken, um etwas zu haben, mit dem sie ihren Körper beschäftigen konnten, damit das Beisammensein nicht so erzwungen wirkte.
„Wie hat es dir gefallen?“, fragte Theresa.
Alfred musste wohl oder übel die Wahrheit zugeben.
„Es hat mir sehr gut gefallen“, sagte er und sie nickte mit einem zustimmenden Lächeln.
Ihre dunklen Augen leuchteten ganz angetan, ihr Gatte neben den beiden schien schon wieder komplett zur Nebensache zu verkommen.
„Ein wirklich gelungenes Konzert“, fügte Alfred noch hinzu.
„Nicht wahr?“, Theresa schien ganz seiner Meinung zu sein, „Ich muss gestehen, mich lange nicht mehr eingehend mit Brahms auseinandergesetzt zu haben, aber meiner Meinung nach war es dennoch eine geradezu außergewöhnlich wundervolle Darbietung des Werks! Der perfekte Start für einen ebenso wundervollen Abend.“
Kurz fragte sich Alfred, wieso sie das Wort „Start“ anstelle von „Ausklang“ verwendet hatte, obwohl die beiden Begriffe doch sehr gegensätzlich waren – dann dämmerte ihm, dass sie es womöglich genau so meinte und auch über Brahms ihre Absichten von zuvor mitnichten vergessen hatte.
„Ich-“, begann Alfred mit einem entschuldigenden Lächeln, als ihm die Sache nun doch etwas unangenehm wurde, „Ich schaue mal eben nach meinem Vater – vielleicht braucht er ja Hilfe bei, ähm- beim Tragen der Getränke!“
„Ach! Nein, nein“, Theresa lachte, „Mach dir da keine Umstände. Mein Mann kann für uns alle doch gleich zwei Flaschen und ein paar Gläser bringen lassen. Nicht wahr, Ferdi?“
Sie stupste Berentz mit dem Ellenbogen an, da dieser gar nicht zuzuhören schien, sondern über ein paar Köpfe hinweg starrte, als suche er ebenfalls nach Alfreds verschollenem Vater. Oder nach einer Ausflucht, um nicht mehr tatenlos dabei zu stehen, während seine Frau einem anderen Mann schöne Augen machte?
Alfred war sich nicht ganz sicher, ob zwei Flaschen Wein für vier Leute eine auch nur im Geringsten angebrachte Menge war, aber vermutlich trank allein Berentz eine davon schon gegen den Durst; Theresa musste es ja wissen.
„Bitte was?“, fragte Berentz knapp, als wäre er gar nicht bei der Sache und sah sie nur einen kurzen Moment verständnislos an, ehe er den Kopf schon wieder in die Richtung von zuvor reckte und dann hastig den Arm hob, als wolle er jemandem zuwinken.
„Darius!“, donnerte seine Stimme sogleich über mehrere Köpfe hinweg und ließ Alfred nicht nur der Lautstärke wegen zusammenzucken, „Darius, gesell dich zu uns!“
Aber aus irgendeinem Grund erwischte sich Alfred dabei, dass er sich in diesem Moment vielmehr erlöst fühlte, anstatt erneut den Unmut in sich aufkochen zu spüren.
Wie erwartet wandte sich sofort auch Theresas Kopf in die Richtung, in der eben jener Angesprochene sich noch schnell von irgendeiner Person zu verabschieden schien, ehe er sich an ein paar Leuten vorbei den Weg zu ihnen bahnte.
Mit einer verwundert nach oben gezogenen Augenbraue beobachtete Alfred verwirrt das sich ihm bietende Schauspiel, als Theresa sich an ihrem Ehemann gar nicht zu stören schien, sondern Ottesen schon freudig entgegenlief und mit offenen Armen empfing, um ihn in eine innige Umarmung zu ziehen.
Alfred warf Berentz einen prüfenden Seitenblick zu, als sich die beiden in aller Öffentlichkeit mit Küsschen links, Küsschen rechts begrüßten und Theresa ihn am Arm fasste, um ihn die restlichen Schritte lachend mit sich zu ziehen.
Ottesen schien es ja noch einigermaßen unangenehm zu sein, aber Theresa hatte wohl keine Bedenken bei der Sache. Entgegen aller Erwartungen strahlte sie nun wieder Alfred an.
„Ich würde euch einander ja vorstellen - aber ich glaube, ihr kennt euch bereits?“
Sie zwinkerte Alfred grinsend zu, was dieser so gar nicht einordnen konnte. Und als würde die Sache schon nicht mehr seltsamer werden können, legte sich auf Ottesens Gesicht ein Ausdruck der verblüfften Freude, als er Alfred erblickte.
„Herr Wunderlich!“, es ging so schnell, dass nicht einmal Alfred vermuten konnte, dass er hier irgendein Schauspiel für die Öffentlichkeit zum besten gab, sondern sich ehrlich freute, ihn zu sehen, „Was für eine angenehme Überraschung! Ich hatte gar nicht erwartet, Sie hier zu treffen.“
Alfred fühlte sich ertappt, musste aber dennoch lächeln.
„Wie gesagt“, meinte er mit einem verhaltenen Lachen, „Ich hatte bereits etwas für diesen Abend geplant!“
Ottesen schien untypisch beschwingt und strahlte über das ganze Gesicht.
Aber Alfred verstand, er selbst kannte dieses Gefühl der zufriedenen Überschwänglichkeit, wenn man sich nach einem gelungenen Konzert unter die Leute mischen und gleich aus erster Hand noch ein paar Meinungen und Reaktionen erfahren konnte.
Ottesen reichte ihm eine der ungewöhnlich zarten Hände, die sicherlich noch nie im Leben harte Arbeit verrichten musste, und nicht einmal Alfred konnte diese höfliche Geste abschlagen.
„Ich freue mich!“, sagte Ottesen freudestrahlend und klang dabei so ehrlich, dass es Alfred durch Mark und Bein fuhr, als er seine Hand nahm.
„Die Freude ist ganz meinerseits“, antwortete Alfred mit einem zaghaften Lächeln und ertappte sich dabei, dass es gar nicht so pflichtbewusst erzwungen klang, wie er es zuerst beabsichtigt hatte.
Erst Ferdinand Berentz unterbrach diesen fast schon versöhnlichen Moment, indem diesmal Ottesen zum Opfer seines viel zu festen Schulterklopfens wurde und die lautstarke Bekundigung von wahren Lobeshymnen über sich ergehen lassen musste.
Und auch Ottesen schien es als ein notwendiges Übel zu empfinden, so verwirrt wie er einen Moment zusammenzuzucken schien und dann fast schon hilfesuchend um sich blickte.
Er wirkte geradezu peinlich berührt und Alfred konnte gut verstehen, dass er so aussah, als würde er versuchen, den väterlich um seine Schultern gelegten Arm schnell diskret loszuwerden. Die ganze Situation schien so absurd, dass Alfred am liebsten verständnislos den Kopf geschüttelt hätte, aber wie bei einem Unfall auf der Autobahn konnte man bei manch noch so schockierenden Dingen einfach den Blick nicht abwenden.
Theresa lachte nur glockenhell und sah kurz noch zu Alfred, ehe auch sie ihre Meinung kund tat, wie sehr sie ihrem Gatten doch bezüglich des Konzerts zustimmen musste – ihre Hand wiederum tätschelte sehr vertraulich Ottesens Brust.
„Da könnt man glatt meinen, die Leut haben seit Wochen nichts mehr zum Trinken gekriegt!“, mischte sich schließlich eine weitere erheiterte Stimme in die allgemeine Verwirrung ein und Alfred atmete erleichtert auf.
Statt zwei Gläsern Sekt wie Alfred befürchtet hatte, brachte sein Vater aber tatsächlich eine ganze Flasche von selbigem mit und ehe er sich überhaupt versehen konnte, winkte einer der Kellner die kuriose Gesellschaft an einen frei gewordenen Tisch, auf dem wie bestellt schon einige Gläser warteten.
Berentz ließ sich tatsächlich von diesem geschickten Manöver ablenken und hielt den gestresst wirkenden Mann vom Personal auf, um scheinbar gleich Nachschub zu bestellen – zumindest hörten sich die bestimmt nicht einfach nur zusammenhangslos zum Spaß aus dem Gedächtnis aufgezählten Weinsorten stark danach an.
Anscheinend dankbar über die plötzliche Freiheit löste sich Ottesen schnell auch von Theresa, um sich an Alfreds Vater zu wenden und ihm ebenso zur Begrüßung die Hand zu reichen.
„Ach, der Herr Kapellmeister!“, Kurt nickte anerkennend beim Händeschütteln und schmunzelte amüsiert, „Über Sie hab ich ja schon einiges gehört!“
Alfred wollte am liebsten im Erdboden versinken, als er Ottesens Blick auf sich spürte. Zwar weniger anklagend als hauptsächlich fragend und fast schon hilfesuchend, aber wie immer hatte sein Vater die Situation vollkommen im Griff und lenkte den Verdacht schnell von ihm ab, wenngleich auch nicht ganz auf Tatsachen basierend:
„Selbstverständlich nur Gutes – da wollt ich mir als alter Freund vom Helge Marquardt natürlich dann auch noch selbst ein Bild machen!“
Ottesen überraschte Alfred zutiefst damit, wie gesprächig er heute zu sein schien.
„Leider habe ich Doktor Marquardt nicht selbst kennen gelernt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass er sich mit seiner Arbeit einiges an Loyalität verschafft hat“, ließ Ottesen die ersten Reaktionen auf den Wechsel erstaunlich positiv klingen und Alfred konnte nicht länger zuhören.
Ihm war ein wenig unbehaglich zumute, so wandte er den Blick von den beiden ab und sah für einen Moment gedankenverloren Theresa dabei zu, wie sie alle Gläser auf dem Tisch mit Sekt füllte. Natürlich kam er erst auf den Gedanken, ihr Hilfe anzubieten, als sie längst fertig war; so machte er sich zumindest ein bisschen nützlich, indem er seinem Vater ein gefülltes Glas reichte und ein anderes Ottesen anbot.
Der schüttelte nur hastig den Kopf und lehnte dankend ab, ehe er sich wieder der Unterhaltung widmete, die schnell erneut auf das Deutsche Requiem zu sprechen kam.
Alfred nutzte einen – wie er dachte – unbeobachteten Moment, um das verschmähte Glas wieder heimlich auf dem Tisch abzustellen, damit er nicht auch noch in die Situation kam, die Großzügigkeit anzulehnen, aber Ferdinand Berentz erwischte ihn sofort.
„Aber, aber!“, rief er beschwingt und schüttelte tadelnd den Kopf, „Lasst uns doch allesamt gemeinsam anstoßen, meine Freunde!“
Davon abgesehen, dass er sich selbst nicht gerade als Berentz‘ Freund bezeichnen würde, fühlte sich Alfred ertappt und zumindest eine knappe Erklärung schuldig, weswegen er sich schnell verteidigen wollte.
„Ich trinke nicht“, sagten Alfred und Ottesen fast gleichzeitig.
Theresa lachte glockenhell und hob ermunternd ihr eigenes Glas, „Ach, so ein kleines Schlückchen kann doch nicht schaden!“
Alfred nahm noch wahr, wie sein Vater neben ihn getreten war und spürte, dass er ihm unauffällig mit dem Ellenbogen gegen die Rippen stieß.
Es war nun Ottesen, der die beiden übrigen Gläser an sich nahm und eines davon mit einem schiefen Lächeln Alfred reichte. Bevor er sich aber beschweren konnte, hatte Berentz schon das eigene Glas erhoben und begann feierlich mit einer kleinen Rede:
„Meine lieben Freunde, wir haben Grund zu feiern. Lasst uns anstoßen – auf die guten alten Zeiten, auf einen gelungenen Abend und auf eine wunderbare Zukunft!“
Schon als anschließend die Gläser klirrten, vermutete Alfred, dass es eine schlechte Idee war, sich auf diesen kleinen Umtrunk einzulassen.
Aber was tat man nicht alles um des lieben Friedens willen?