Im Laufschritt erwischte Darius gerade noch die überfüllte Straßenbahn und stolperte so hektisch hinein, dass er beinahe eine adrette Dame mit seiner Aktentasche erwischte, bevor sich die Türen schlossen und sich der Zug auch schon in Bewegung setzte.
„Pardon“, entschuldigte er sich schnell in ihre Richtung, ehe er sich schon auf der Suche nach einem freien Platz umdrehte und weiterhasten wollte.
Mitten in seiner Bewegung fror er jedoch ein und drehte sich verwundert um.
Sie schien ebenso erstaunt, aber schnell legte sich ein überraschtes Lächeln auf ihr Gesicht und als sie einige Schritte näher kam, stolperte sie ihm auf den hohen Absätzen in einer Kurve beinahe wie in einem schlechten Film entgegen, hielt sich aber gerade noch an einer der Haltestangen fest.
„Luise?“, fragte er wenig charmant, aber wie vom Donner gerührt.
Sie schien trotz ihres Lächelns noch immer recht verwirrt und er konnte nicht ganz deuten, ob sie wirklich erfreut war oder einfach nur so tat.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie lachend, aber auch nicht sonderlich höflich, „Ich glaube, du bist die letzte Person, die ich erwartet hätte, in einer Wiener Straßenbahn zu treffen!“
Luise Frey sah überraschend offiziell in Bleistiftrock und Bluse mit passender Weste aus, das kupferrote Haar zu einem strengen Dutt gebunden. In seiner Erinnerung trug sie immer noch ein verspieltes Sommerkleid und ihre wilden Locken waren nicht zu bändigen gewesen, aber ohne Zweifel war es dieselbe Person, wenngleich ihr Gesicht auch nicht leugnen konnte, dass fünf oder sechs Jahre zwischen der heutigen und der letzten Begegnung lagen.
Darius hatte schon eine passende Bemerkung zu eben diesem Umstand auf der Zunge, ehe er sich an Theresas Worte erinnerte und wie ungehalten sie gewesen war, als er erwähnt hatte, dass der Moment gekommen war, an dem sie sich wohl besser eine gute Anti-Falten-Creme zulegen sollte.
Er machte sich also eine mentale Notiz, den Mund zu halten, Frauen nur auf ihr Aussehen anzusprechen, wenn sie gezielt danach fragten – und dabei vielleicht bisweilen auch ein bisschen zu flunkern. Nicht mehr als eine kleine Notlüge für die eigene Sicherheit.
„Ich fahre zur Arbeit“, antwortete er wahrheitsgemäß und Luises Augen weiteten sich ebenso schnell wie ihr Lächeln.
„Das heißt, du warst nicht nur für das Brahms-Requiem auf der Durchreise?“
Schon fast etwas peinlich berührt strich Darius sich auf der Suche nach den richtigen Worten den Scheitel zurecht und stolperte nun seinerseits in der nächsten Kurve fast in ihre Arme.
„Ich habe dich gar nicht gesehen“, sagte er verlegen.
Luise lachte und winkte ab, „Ich war ja auch nicht dort! Ich habe lediglich davon gehört. Würdest du mir glauben, wenn ich behaupte, keine Karte mehr bekommen zu haben?“
Darius musste unwillkürlich schmunzeln, „Du bist mir keinerlei Rechtfertigung schuldig. Ich würde dir auch nicht übel nehmen, wenn du einfach keine Lust gehabt hättest.“
Zwei Schüler drängten sich an den beiden vorbei, um beim nächsten Halt auszusteigen und ehe Darius einen frei gewordenen Platz ergattern konnte, hatte sich Luise schon gesetzt und bedeutete ihm, dass er sich neben ihr niederlassen sollte.
Darius reckte hastig den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen, setzte sich dann aber doch widerwillig, auch wenn er sich nicht so sicher war, ob er wirklich Lust auf eine längere Unterhaltung mit ihr hatte.
Seine Tasche platzierte er auf seinem Schoß, damit niemand der Stehenden darüberstolpern konnte und ein bisschen verkrampft hielt er sich am geschmeidigen Leder fest.
„Sag nicht, dass die Gerüchte um Helge Marquardt wahr sind und du für ihn eingesprungen bist?“, Luise sah nun fast schon schockiert aus.
Mit einem aufgezwungenen Lächeln zuckte Darius nur kurz mit den Schultern und versuchte, sich im Sinne der Höflichkeit nur sehr unauffällig umzusehen und immer wieder einmal zufällig den Kopf zu den Türen schweifen zu lassen,
„Ich habe gehört, er soll fast fluchtartig nach Deutschland aufgebrochen sein. Man sagt, Renate Sigmund sei nach einer doch eher unglücklichen Geschichte sehr plötzlich entlassen worden und nun hätte er seine Chance genutzt. In Berlin gab es allerdings noch kein offizielles Statement und-“
Darius konnte sich auf ihren Wasserfall an Worten gar nicht so recht konzentrieren. Klatsch und Tratsch hatte ihn nie besonders interessiert und noch dazu hielt der Zug gerade und er reckte nun doch sehr merklich den Kopf, um die Zusteigenden besser im Blick zu haben.
„Wartest du auf jemanden?“, fragte Luise.
„Nein, nein“, Darius errötete merklich und schüttelte hastig den Kopf.
Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu ihr zu wenden und sich zumindest höflich interessiert zu zeigen, auch wenn er es nur bedingt war: „Wie sieht es bei dir aus? Bist du immer noch so oft auf Reisen und stattest nur eben deiner Heimat einen kleinen Besuch ab?“
Luise lachte, „Nein, das war einmal! Ich habe nun doch beschlossen, ein wenig sesshafter zu werden – Vor vier Jahren habe ich tatsächlich die Zulassung bekommen, mir meinen großen Traum zu erfüllen!“
Darius war schon im Begriff, einen eleganten Weg zu suchen, davon abzulenken, dass er sich an Luise Freys Zukunftswünsche beim besten Willen nicht erinnern konnte, aber das Erspähen einer wohlbekannten Jacke lenkte ihn merklich ab.
Als er kurze Zeit später das passende Gesicht dazu erblickte und sich eines unwillkürlichen Lächelns nicht erwehren konnte, plauderte Luise schon weiter.
„Die Anfänge waren zugegebenermaßen wirklich schwierig, immerhin muss sich eine neue Einrichtung erst mal einen Namen machen und gerade ohne einen guten Ruf kann man die Gebühren einfach nicht gewinnbringend hoch ansetzen.“
Luise wurde des Redens wohl nicht so schnell müde.
Darius achtete gar nicht darauf, ob er irgendeinen Hinweis aus ihren Worten hätte ziehen können, als Alfred ihn auf ein verhaltenes Handzeichen hin entdeckte und sich ein Lächeln auf seine zuvor noch extrem niedergeschlagen und unendlich erschöpft wirkenden Züge legte.
„Was wiederum die Suche nach fachlich kompetenten, aber auch pädagogisch ausgebildeten Lehrkräften schwieriger gestaltete als gedacht. Die Schule steckt noch in ihren Kinderschuhen, die meisten Dinge manage ich noch allein, aber so langsam kann ich mit Stolz behaupten, dass die Sache ins Rollen kommt.“
Darius biss sich auf die Unterlippe, um Luises wirklich unangebrachten Rededrang nicht allzu garstig zu unterbrechen und musste sich beherrschen, nicht einfach die Augen zu verdrehen.
Auf Durchzug geschaltet hatte er ohnehin längst, aber sie erzählte mit Händen und Füßen, einem riesigen Lächeln auf dem Gesicht und einer sehr aufgeregten Stimme. Vollkommen eingenommen von ihrer Sache strahlte sie so viel Hingabe aus, dass er es nicht übers Herz brachte, ihr zu verstehen zu geben, dass es ihn in diesem Moment eigentlich gar nicht sonderlich interessierte.
„Natürlich gibt es weiterhin noch einige Steine auf dem Weg, die man überwinden muss, aber ich bin guter Dinge für die Zukunft. Du kennst nicht zufällig jemanden, der Interesse an der Leitung eines Jugendchors hätte?“
Alfred hatte sich mittlerweile durch die Stehenden geschoben und als Darius schon aufstehen wollte, um ihm seinen Platz anzubieten, fing er gerade noch einen Bruchteil der letzten Worte von Luise auf.
„Ich kann nicht mit Kindern, tut mir leid“, sagte er nur knapp.
Luise lachte, „Dich meinte ich auch gar nicht! Hörst du mir überhaupt zu? Ich fragte, ob du mir vielleicht einen Tipp geben kannst, wen ich eventuell kontaktieren könnte.“
Beim nächsten Ruck, der durch die Bahn ging, fiel nun Alfred fast auf seinen Schoß und fing sich gerade noch mit hochrotem Kopf an der Lehne des Sitzes ab.
„Guten Morgen, Maestro“, sagte er lachend, „Ich weiß ja nicht, wer heute die Bahn fährt, aber derjenige hat einen sehr abenteuerlichen Fahrstil!“
Luises Kopf fuhr ruckartig herum. Sie starrte und sagte einige Momente lang überhaupt nichts. Darius erwischte sich bei dem Gedanken, wie wundervoll die Stille war, aber ehe er Alfred antworten konnte, war es damit schon wieder vorbei.
„Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, aber- Sind Sie nicht Alfred Wunderlich?“, fragte Luise überrascht.
„Nicht doch“, Alfred lachte verlegen und kratzte sich am Kinn, „Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss, ich wollte keineswegs stören!“
Luise aber war sofort wieder in ihrem Element.
„Was für eine Überraschung – Sie stören doch nicht, im Gegenteil!“, entfuhr es ihr und auf ihren Zügen lag ein freudestrahlendes Lächeln, „Es ist mir eine Ehre, Sie zu treffen und eine große Freude, dass es Ihnen gut geht! Ich hatte ja schon die schlimmsten Befürchtungen, als es plötzlich so still um Sie wurde.“
Auch wenn er vielleicht nicht der feinfühligste Mensch der Erde war, konnte Darius geradezu sehen, dass Alfred am liebsten vor dieser Konversation reißaus nehmen würde. Dennoch blieb er stehen und lächelte etwas hilflos.
Luise aber war noch nicht fertig.
„Man munkelte sogar teilweise, Sie hätten es nicht geschafft – was für eine Tragödie für die Welt der Musik das gewesen wäre!“, sagte sie und Darius konnte dabei zusehen, wie sich Alfreds Mimik mit einem Stirnrunzeln verfinsterte und er gar nicht mehr so gezwungen höflich aussah.
„Ja, das wäre sehr bedauerlich für die Welt der Musik gewesen“, sagte er ruhig und Darius konnte nicht sofort deuten, was für ein Unterton in seiner Stimme lag, „Da bin ich ja wirklich froh, dass ich mir diesen unverzeihlichen gesellschaftlichen Faux-pas erspart habe und noch lebe!“
Nicht einmal Luise schien überhören zu können, dass sie ein falsches Thema gewählt hatte, so schien sie es abrupt wechseln zu wollen.
„Ach, wenn ich Sie nun schon einmal persönlich treffe“, begann sie und Darius war kurz davor, sich für sie fremdzuschämen, „Ich habe vor einigen Jahren meine eigene Musikschule hier ins Leben gerufen und suche noch immer nach einigen qualifizierten Lehrkräften für Kinder und Jugendliche!“
Wo Alfreds Mimik zuerst einer versteinerten Maske geglichen hatte, entspannten sich seine Züge mit einem Mal wieder merklich.
Im Gegensatz zu Darius schien er durchaus angetan von der Idee, aber Luise schaffte es, auch dieses Lächeln auf seinem Gesicht systematisch im Keim zu ersticken:
„Könnten Sie mir den Gefallen tun und Ihren Vater fragen, ob er vielleicht Interesse daran hätte, diesbezüglich mit mir Kontakt aufzunehmen?“
Alfred schwieg einige Momente und der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte fast schon bitter.
„Selbstverständlich“, sagte er knapp, „Ich werde es ihm ausrichten.“
Darius biss sich auf die Unterlippe, warf Alfred einen entschuldigenden Blick zu und verfluchte für einen Moment diesen seltsamen Zufall, der Luise in gerade diese Bahn hatte steigen lassen. Er hätte gut und gern auf diese Begegnung verzichten können und etwas sagte ihm, dass es Alfred ebenso ging.
Noch dazu hatte die doch sehr einnehmende Art der adretten Dame alle erhofften Spekulationen auf ein Gespräch zwischen ihm und Alfred zunichte gemacht. Kurz fiel ihm sein Traum wieder ein und er musste unwillkürlich schlucken.
Alfred stand noch immer zwischen den Sitzreihen und hielt sich nurmehr verkrampft am Sitz fest. Er wirkte blasser als sonst und Darius erinnerte sich an sein Vorhaben, dass er ihn doch eigentlich hatte Platz nehmen lassen wollen.
„Nächster Halt: Augasse“
Die Bandansage schien die beiden erlösen zu wollen, denn Luise sprang in jenem Moment geschäftig vom Sitz auf, strich sich den Rock ihres Kostüms glatt und drängte sich empörend nah an Alfred vorbei.
„Oh entschuldigen Sie vielmals!“, sagte sie und lachte, „Wie die Zeit vergeht – Hier muss ich umsteigen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und hoffe, wir treffen uns bald wieder!“
Dann wandte sie sich noch schnell zu Darius, winkte ihm zu und verabschiedete sich mit den Worten, „Und grüß mir die Theresa!“
Dass Alfred tief und sehr erleichtert aufseufzte, als sie außer Sicht- und vor allem Hörweite war, und er sich schließlich neben Darius niederließ, bildete er sich bestimmt nicht nur ein.
Als sich ihre Blicke trafen, musste Alfred aber lachen.
„Zuerst fragte ich mich ja, ob ich überhaupt stören sollte“, meinte er belustigt, „Jetzt scheint es mir aber mehr so, dass ich Sie vielleicht eher erlöst als unterbrochen habe?“
Darius schmunzelte leicht, „Ich entschuldige mich sehr für diese Unannehmlichkeit. Hätte ich gewusst, dass Fräulein Frey auch bei Ihnen nicht vor der Auslebung ihres immensen Mitteilungsdranges Halt macht, hätte ich mich sicherlich bedeckt gehalten.“
„Ach, das ist halb so wild!“, Alfred winkte lächelnd ab und danach traute Darius seinen Ohren kaum, „Ich hatte mich ohnehin schon nach Ihnen umgesehen – Wir haben die Tradition der kuriosen Eskapaden beim Bahnfahren schon viel zu lange nicht mehr gepflegt!“
Wie auf sein Stichwort ging ein erneuter heftiger Ruck durch die Bahn, der die Schultern der beiden enger gegeneinander presste und Darius seine Tasche instinktiv fester umklammern ließ.
Dann blieb der Zug abrupt stehen und die Beleuchtung des Innenraums erlosch ebenso plötzlich wie das Geräusch der Motoren.