Die nächsten Stunden vergingen in professioneller Konzentration wie im Fluge.
Selbst Darius musste trotz all seiner Zweifel doch eingestehen, dass er sich nach der beendeten Generalprobe im großen Saal wirklich um einiges mehr bereit für das Konzert am nächsten Tag fühlte, als er jemals erwartet hätte.
Fast schon könnte er sagen, dass er sich gar darauf freute, aber da machten ihm die hinreichend bekannten Ängste über die eigene Unzulänglichkeit wieder einen Strich durch die Rechnung.
Als er gerade noch dabei war, sich mit einem persönlichen Händeschütteln von jedem der Musiker einzeln zu verabschieden und ihnen noch einige motivierende Worte mit auf den Weg zu geben, fiel sein Blick für einen kurzen Moment auf seine Armbanduhr.
Eher peinlich berührt bemerkte er dabei, dass es draußen längst stockfinster war und er sich viel eher für diesen bis zum Äußersten ausgedehnt langen Arbeitstag entschuldigen sollte, als ihnen eine angenehme Zeit bis dahin zu wünschen.
Jasper Sundström gab ihm nicht nur freudig strahlend die Hand, sondern fiel ihm zu einer überschwänglichen Umarmung direkt um den Hals und das Lachen auf Alfred Wunderlichs Gesicht anschließend wirkte so heiter und froh, dass es Darius‘ Herz mit einem Mal deutlich schneller schlagen ließ.
„Bis morgen, Darius“, sagte er leise und ließ sein Herz nicht nur durch die Berührung ihrer Hände für einen Schlag komplett aussetzen, „Ich kann es kaum erwarten, dieses Konzert mit Ihnen zu bestreiten!“
Darius musste sich beherrschen, ihm nicht fasziniert einige Momente lang noch nachzusehen, sondern den ernannten Solo-Cellisten, der sich an ihn wandte, mit dem verdienten Lob zu bedenken.
Es war schließlich kurz vor halb zehn am Abend, als er die Tür zum nun leeren Saal hinter sich verschloss und sich mit seiner Tasche und mit hastigen Schritten auf den Weg zu Ferdinands Büro machte, wo er eigentlich den Schlüssel wieder abgeben sollte. Die Frage war allerdings, ob der Direktor um diese Uhrzeit überhaupt noch anwesend war.
Während er nach dem Anklopfen vor der Tür noch einige Momente vorsichtshalber wartete, zog Darius schon das Telefon aus der Tasche und war doch fast schon schockiert, überhaupt keinen verpassten Rückruf von Gabriel darauf entdecken zu können.
Kurz nur ärgerte er sich darüber, jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen zu bekommen, dass er sich so lange hatte Zeit gelassen, dass es ihm jetzt schon leid tat, dass er scheinbar aufgegeben hatte.
Dann rief er Ferdinand einfach an und vereinbarte mit ihm, den Schlüssel zu behalten, weil dieser bereits gemütlich zuhause auf dem Sofa saß und auch während des kurzen Gesprächs nicht mehr besonders ansprechbar klang.
Darius hatte ohnehin geplant, am nächsten Tag um einiges früher zu erscheinen als es vielleicht nötig gewesen wäre, immerhin würde das Warten in seiner stillen, leeren Wohnung die morgen mit Sicherheit aufkommende Nervosität erfahrungsgemäß wieder komplett überspitzen. Es sei denn – Darius ertappte sich bei dem Gedanken daran, ob er von einer anderen Telefonnummer vielleicht Gebrauch machen sollte.
Aber das wäre am Tag des lang erwarteten Konzerts sicherlich nicht nur sehr unangebracht, sondern würde wahrscheinlich auch alles ein weiteres Mal komplett durcheinander bringen.
Außerdem würde er nicht frühstücken können, wenn er am selben Abend einen Auftritt hatte, da spielte sein Magen nicht mit.
Mit etwas Eile würde er die Bahn noch erwischen.
Gerade als er aber aus der Tür in die kühle Nachtluft trat, trug der gar nicht mal mehr so eisige Wind ihm die vertraute Stimme einer Person zu Ohren, die sich wohl draußen noch mit jemandem unterhielt.
„Ach nein! Ich bitte dich“, lachte eindeutig Theresa, „Das hast du vollkommen falsch verstanden! So ein Unsinn, also wirklich.“
Die andere Stimme erkannte er ebenso und Darius erstarrte, sein Herz raste so heftig, dass er es nicht einmal schaffte, das Gesprochene auch zu verstehen.
Egal worüber sie sprachen. Egal wie es dazu gekommen war. Allein die Tatsache, dass es Theresa war, ließ brennende Wut in Darius hochkochen.
Anscheinend wusste nicht einmal Ferdinand auf ihrem heimischen Sofa, dass sie überhaupt noch hier war, sonst hätte er ihm sicherlich vorgeschlagen, einfach ihr den Schlüssel mitzugeben. Was sie ihm wohl wieder erzählt hatte, wo sie sich herumtrieb, wenn sie sich in Wirklichkeit mit Alfred Wunderlich traf?
Davon abgesehen, dass Darius sich bestimmt nicht eingestehen würde, auf irgendeine Art und Weise eifersüchtig zu sein, hatte Theresa diese alberne Behauptung selbst aufgestellt und somit auch wirklich nicht das Recht, ihm Alfreds Gesellschaft streitig zu machen!
Und auch wenn es auf jeglicher Ebene vollkommen albern und unangebracht war, so zu fühlen, konnte doch nicht einmal die Vernunft etwas daran ändern, dass er eben in diesem Moment so empfand. Denn wie bereits hinreichend erörtert fanden doch die meisten Männer eher Gefallen an einer Dame als an einem anderen Mann, ganz gleich wie dieser auch geartet sein mochte.
Wenn also eine charmante und adrette Frau wie Theresa jemandem schöne Augen machte – und das war in der Vergangenheit nur schon zu häufig geschehen – hatte der blasse kleine Junge neben ihr absolut keine Chance mehr, überhaupt auf sich aufmerksam zu machen.
Er hatte lediglich den Vorteil, mittlerweile erwachsen geworden zu sein.
„Ach, wie gut dich hier zu treffen!“, wandte sich Darius mit fast schon schneidender Stimme an Theresa und überbrückte die wenigen Meter zu den beiden mit langen, federnden Schritten.
Sie starrte ihn kurz überrascht an, lachte dann aber glockenhell.
„Sieh mal einer an, wenn man vom Teufel spricht!“, meinte sie belustigt.
Das nahm Darius zugeben etwas Wind aus seinen Segeln.
Über was in aller Welt hatte sie mit Alfred gesprochen, wenn sie dabei anscheinend ihn thematisiert hatten? Es wollte ihm nicht so ganz einleuchten.
Dennoch zog er rasch den Schlüssel aus der Jackentasche und reichte ihn an die seit Jahren rechtmäßig angetraute Frau Berentz weiter.
„Das könntest du deinem Ferdinand zukommen lassen, falls du nach Hause gehst“, sagte er und versuchte, Alfred neben ihr erst einmal zu ignorieren, bis zumindest diese Sache erledigt war.
„Anfängerfehler“, zischte Theresa, nahm den Schlüssel an sich und wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so amüsiert, „Es heißt nicht ‚falls‘, sondern ‚wenn‘ in diesem Zusammenhang.“
Darius hob unbeeindruckt eine Augenbraue.
„Du hast mich schon richtig verstanden“, sagte er knapp.
Alfred Wunderlich sah aus, als wolle er sich am liebsten in Luft auflösen.
Er konnte es ihm auch nicht verübeln, immerhin schien Theresa intuitiv seine eigene Feindseligkeit angenommen zu haben und musste sich allen Anschein nach sehr zusammenreißen, um ihm ob seiner schnippischen Bemerkung nicht an die Gurgel zu gehen.
Vielleicht hatte er kein Recht, über sie zu urteilen. Womöglich hatten sie sich gar nicht verabredet, sondern nur zufällig getroffen.
Sie jedoch sollte sich darüber im Klaren sein, dass zuhause ihr Ehemann auf sie wartete, während Darius in eine leere, dunkle Wohnung zurückkehren würde, die ihm noch immer so fremd war, dass er sie nicht einmal emotional als sein Zuhause empfand.
Vielleicht übertrieb er maßlos in der Hinsicht, aber er kannte Theresa mittlerweile einfach zu gut, um keine schlechten Gedanken in diesem Moment zu haben.
Alfred blickte auf seine Uhr und meldete sich zögerlich zu Wort.
„Mein Vater müsste eigentlich gleich da sein“, meinte er, „Ich gehe schon einmal zum Parkplatz.“
Das schien Theresa wohl von ihrem Vorhaben abzubringen, Darius mit bloßen Händen zu erwürgen, nicht aber davon, ihn zumindest vor Alfred bloßzustellen.
„Fahrt ihr nicht immer zusammen mit der Bahn?“, fragte sie überrascht.
Darius knirschte mit den Zähnen und riss sich zusammen, ihr nicht den Ellenbogen in die Seite zu stoßen. Natürlich machte sie das mit Absicht.
Alfred schien durchaus peinlich berührt, dass Theresa davon wusste.
„Nicht immer“, sagte er mit einem schiefen Lächeln, „Manchmal holt mich auch mein Vater mit dem Auto ab. Herr Gebauer war so freundlich, mir sein Telefon zu überlassen, damit ich ihn anrufen konnte.“
Theresa wirkte wieder belustigt, „Bist du nicht etwas zu alt, um dich von deinem Vater abholen zu lassen, mein Guter?“
Alfred lachte verlegen.
„Ich besitze keinen Führerschein“, gestand er, „Und meist brauche ich einen solchen auch nicht. Ich leiste meinem Vater lediglich ein paar Mal in der Woche etwas Gesellschaft nach der Arbeit.“
Theresa warf bei ihrem charmant geschauspielerten Lachen den Kopf zurück und Darius ertrug in diesem Moment weder ihre Stimme noch ihren Anblick.
Sie jedoch zwinkerte ihm fast schon lieblich zu, „Das klingt immerhin besser, als zwar einen Führerschein gemacht zu haben, aber dennoch zu geizig für ein Auto zu sein!“
„Man braucht kein Auto in einer Großstadt“, verteidigte sich Darius verbissen, „Schon allein der Verkehr in der Innenstadt ist zu den Stoßzeiten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln um einiges entspannter zu bestreiten!“
Alfred nickte verständnisvoll und Darius ertappte sich beim leichten Gefühl von Triumph, dass er nun doch von ihm Notiz zu nehmen schien, obwohl Theresa dabei war.
„Da stimme ich Ihnen eindeutig zu“, sagte er, „Ich will gar nicht näher erläutern, was mein Vater beim Autofahren manchmal von sich gibt!“
Theresa mischte sich jedoch ungeachtet von Darius‘ Glücksgefühlen wieder penetrant in die Unterhaltung ein.
„Ihr müsst doch etwa in dieselbe Richtung, nicht wahr?“, fragte sie zuckersüß und Darius konnte es einfach nicht fassen, „Dein Vater kann Darius doch sicherlich mitnehmen. Es ist schon so spät, da möchte ich ihn ungern in einer Straßenbahn voller zwielichtiger Gestalten wissen!“
Er wusste nicht ganz, was sie damit bezwecken wollte.
Allerdings glaubte er beim besten Willen nicht, dass sie ihm damit zu einer Mitfahrgelegenheit und somit auch ein wenig gemeinsamer Zeit mit Alfred verhelfen wollte, sondern viel eher, dass sie sich besorgt aufspielte, um ihm auch noch den letzten Rest seiner Würde zu nehmen.
„Wir haben in jedem Fall noch einen Platz im Auto frei“, sagte Alfred und sah ihn mit einem so durch und durch freundlichen Lächeln an, dass Darius es nicht einmal schaffte, zu widersprechen.
Er dankte ihm im Stillen, dass er nicht darauf eingegangen war, dass Theresa so rührend vorgab, sich um ihn zu sorgen. Wahrscheinlich hatte er ebenso wenig Lust auf dieses Theater einzulassen.
Dann aber fühlte sich Darius schon wieder beinahe vor den Kopf gestoßen, als Alfred nun Theresa anbot, „Mit Sicherheit auch zwei, falls du auch noch eine Mitfahrgelegenheit brauchst?“
Theresa aber schüttelte lachend den Kopf.
„Nein, nein“, flötete sie, „Ich habe es nicht weit, aber es ist eine ganz andere Richtung – und außerdem bin ich mit Ferdinands Auto da! Er würde sich doch sehr ärgern, würde ich es nicht wieder mit nach Hause bringen.“
Darius rollte mit den Augen.
„Dann bringen wir dich zumindest noch zum Wagen“, beschloss er als kleine persönliche Rache, „Immerhin schickt es sich nicht, eine Dame allein durch die Nacht laufen zu lassen!“
Theresa bedachte ihn mit einem warnenden Blick, „Ich denke nicht, dass mir auf dieser kurzen Strecke etwas zustoßen wird. Aber über die Gesellschaft von zwei so netten Herren bin ich natürlich stets dankbar!“
Alfred sah aus, als würde er sich in diesem wahrhaftigen Kreuzfeuer von fast schon zickigen Bemerkungen zunehmend unbehaglicher fühlen.
Trotzdem machte er gute Miene zu bösem Spiel und lächelte auffordernd in die kleine Runde, „Na, dann wollen wir doch mal!“
Theresa hakte sich ungefragt bei Darius unter und ehe er protestieren konnte, zog sie ihn auch schon mit sich in Richtung der Parkplätze.
Scheinbar hatte sie gehofft, dass Alfred ein wenig langsamer gewesen wäre, denn nach einem Blick über ihre Schulter und der Gewissheit, dass er ihnen gleich nachfolgte, seufzte sie leise. Fast wirkte es so als hätte sie Bedarf, ihm noch etwas unter vier Augen anvertrauen zu können, aber da war sie jetzt wirklich selbst schuld nach dieser ganzen Aktion.
Nun aber, als sie an Ferdinands Auto angekommen waren, wandte sie sich erschreckend nah zu ihm, legte beide Arme um seine Schultern und ging wirklich extrem auf Kuschelkurs.
„Du brauchst dich nicht zu bedanken“, flüsterte Theresa fast schon vorwurfsvoll in sein Ohr, „Für dich hab ich das ja gern gemacht!“
Damit drückte sie ihm einen sicherlich sehr rot abfärbenden Kuss auf die Wange, stieg in den schicken Wagen und ließ Darius einige Momente später unter dem doch etwas besorgniserregenden Aufheulen des Motors sich vollkommen perplex die Wange reibend mit Alfred zurück.
Alfred lächelte ihn an, wenngleich auch etwas verunsichert.
„Es tut mir leid, dass ich diese Idee nicht schon selbst hatte“, sagte er unsicher, „Immerhin haben wir ja wirklich einen ähnlichen Heimweg!“
Darius winkte hastig ab.
Die Situation war sowieso schon kurios genug, deswegen musste Alfred sich nun nicht auch noch schlecht fühlen.
„Nicht doch“, sagte Darius mit einem schiefen Lächeln, „Für gewöhnlich bin ich doch recht selbstständig. Außerdem hätte ich auch fragen können, wäre mir diese Möglichkeit in den Sinn gekommen.“
Alfred sah sich wohl betont ausgiebig suchend um, als ob man ein nahendes Auto auf dem Parkplatz nicht sofort sehen oder hören würde.
Und Darius fühlte sich mit einem Mal wieder wie ein kompletter Idiot.
Hatte Theresa wirklich nur für diesen Zweck auf Alfred gelauert, um ihm mit irgendeiner Verkupplungsaktion auf die Sprünge zu helfen? Hatte sie ihn hingehalten, bis er nach draußen gekommen war, um ihn kurzerhand zu Alfreds Vater ins Auto einzuladen?
Davon abgesehen, dass er das überhaupt nicht gewollt hatte, war an der Sache doch etwas faul! Das konnte er sich bei aller Liebe zu Theresa nämlich beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie hatte viel eher gewirkt, als hätte sie jegliche Chance beim Schopf gepackt, wäre sie nicht ohnehin schon verheiratet gewesen.
Das Schlimmste an der Sache war wohl, dass sogar Darius ihr bei all seiner unendlichen Liebe zu ihr einen Ehebruch mitnichten für komplett ausgeschlossen hielt. Und so sehr ihm Ferdinand in diesem Fall leid tun würde, ertappte sich Darius bei dem Gedanken, dass ihm selbst eine solche Liebelei aus sehr viel persönlicheren Gründen missfallen würde.
„Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen“, riss Alfred ihn mit einem Mal aus seinem verdrossenen inneren Monolog und verriet so, dass er wohl ganz andere Gründe für die plötzliche Unsicherheit hatte, als Darius vermutete.
Allein deswegen musste er schmunzeln.
„Das haben Sie nicht, keine Sorge“, versicherte er ihm, „Ich war nur eben kurz in Gedanken, Verzeihung!“
Alfred lächelte sanft.
„Es war ja auch ein langer Tag. Und morgen steht ein noch längerer bevor!“, sinnierte er vor sich hin, dann nahm er Darius wieder mit einem einzigen Satz jegliche Souveränität, von der er dachte, sie zu besitzen.
„Werden Sie vor dem Konzert noch einmal die Partitur zur Hand nehmen oder haben Sie sich bereits hinreichend damit beschäftigt?“
Darius spürte die Röte in sein Gesicht zurückkehren und war einige Momente lang einfach nur sprachlos.
Was eine komplett unschuldige und professionelle Frage sein könnte, klang in seinen Ohren wie die Frage danach, ob er versuchen würde, Alfred telefonisch zu erreichen.
Fast so, als würde er es sich diesen Anruf gar erhoffen, aber das konnte nicht sein; dafür klang es doch im Zusammenhang viel zu sehr danach, dass er händeringend nach einem Gesprächsthema suchte, weil ihm seine Gesellschaft langsam zum Halse heraus hing.
Bevor er allerdings etwas sagen konnte, hörte er das Motorengeräusch eines nahenden Autos und Alfred hob den Blick.
„Ah, da kommt er schon!“, sagte er, als wäre es erlösend.
Und schon hielt Kurt Wunderlich in seinem dunkelgrünen Mercedes neben ihnen und kurbelte das Fenster herunter.
„Grüß Gott, Herr Kapellmeister!“, begrüßte er ihn sogleich, noch bevor er Alfred eines Blickes würdigte, „Ist aber gehörig spät geworden heute!“
Er schien gute Laune zu haben und Darius hoffte, dass ihm diese nicht gleich wieder verging, wenn er davon erfuhr, dass er einen kleinen Umweg nehmen sollte.
„Der Herr Kapellmeister fährt mit uns nach Hause“, setzte Alfred seinen Vater in Kenntnis, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Wieso, hat der denn kein eigenes Zuhause?“, fragte Kurt Wunderlich und Darius konnte nicht ganz abschätzen, ob er es spaßig oder ernst meinte.
Nun war es Darius, der im Boden versinken wollte.
„Mit uns zu sich nach Hause. Das ist nicht weit, das kann höchstens Nußdorf sein, das sind sicherlich nur ein paar Minuten, das ist-“, versuchte Alfred zu erklären, ohne seinen genauen Wohnort zu kennen.
„Direkt am Beethovengang“, half Darius ihm, „Ich kann aber auch noch einige Haltestellen weit laufen, ich möchte keine Umstände bereiten.“
Kurt Wunderlich jedoch lachte nur und öffnete schmunzelnd die Beifahrertür.
„Steigen’s einfach ein, werter Herr Kapellmeister vom Beethovengang! Na, wenn das amal kein Zufall ist, aber Umstände sind das doch keine.“
Darius kam sich vor, als würde er eine gewisse Grenze der Privatsphäre empfindlich überschreiten, als er sich neben Kurt Wunderlich setzte und Alfred auf der Rückbank platz nahm.
Während Alfreds Vater den Motor startete und das Auto vom Parkplatz auf die Straßen lenkte, sagte lange Zeit niemand auch nur ein einziges Wort.
Im Radio lief auf einer kaum wahrnehmbaren Lautstärke irgendein Textbeitrag, von dem Darius nichts verstehen konnte. Ansonsten hätte man sicherlich fast eine Stecknadel fallen hören und er umklammerte die Tasche auf seinem Schoß für ein bisschen Halt.
„Sag amal, Alfred“, Kurt Wunderlich unterbrach die Stille, „Bleibst dann aber schon bei mir heute Nacht.“
Es war viel weniger eine Frage, als eine Feststellung und Darius rutschte das Herz in die Hose, ehe er sich mit Vernunft dagegen wehren konnte.
Das war es dann wohl mit der Möglichkeit zu der Umsetzung seines albernen Gedanken, am nächsten Morgen Gebrauch von der Telefonnummer zu machen, die er sich auf der Partitur notiert hatte.
Kurioserweise schien Alfred ebenso schockiert von diesem Angebot, bei seinem Vater übernachten zu können.
„Das muss wirklich nicht sein“, sagte er nämlich schnell, „Aber wenn du später nicht mehr fahren willst, kann ich auch die Bahn nehmen. Oder du lässt mich einfach gleich bei mir aussteigen und-“
„Hat dir wer ins Hirn geschissen?“, fragte Kurt unverblümt, „Hast mal auf die Uhr geschaut? Ich fahre jetzt garantiert nicht durch die Gegend, damit du doch noch die Bahn nimmst! Außerdem wolltest mir morgen im Garten helfen.“
Darius fühlte sich durchaus fehl am Platz, bei solch einer privaten Unterhaltung dabei zu sein.
Draußen sah man nicht viel außer den vorbeihuschenden Lichtern der Stadt und er wagte es nicht, den Kopf in Alfreds Richtung über seine Schulter zu wenden.
Stattdessen kramte er hastig in seiner Tasche und versuchte, geräuschlos ein kleines Stück vom nächstbesten Notizblatt abzureißen, das ihm in die Hände fiel. Als doch ein leises Rascheln ertönte, bemerkte er etwas zu spät, dass es die Partitur gewesen war und konnte sich gerade noch davon abhalten, lautstark zu fluchen.
Wahnsinnig professionell, wirklich.
Fast blind in der Dunkelheit fand er aber doch noch einen Bleistift und kritzelte so lesbar wie möglich seine Telefonnummer darauf.
Dann faltete er das kleine Zettelchen so oft wie es nur ging, schaffte es aber mit rasendem Herzen nicht einmal, es an Alfred auch wie geplant weiterzureichen.
Der Rest der Fahrt versank in Stille, die Theresa sich bestimmt so nicht ausgedacht hatte. Erst als Darius schon die Haltestelle am Beethovengang erkennen konnte, sprach Kurt wieder.
„Wohin jetzt?“, fragte er.
Darius schloss eilig seinen Koffer, das zerknickte Zettelchen in der Faust und dabei fühlte er sich wie ein kleiner dummer Schuljunge.
„Gleich da vorn die Ecke, da können Sie mich aussteigen lasse“, sagte er schnell, weil er sich nicht sicher war, ob er wirklich bis zur Haustür gefahren werden wollte.
Kurt Wunderlich schaltete den Motor nicht aus, aber Alfred öffnete seine Tür, wahrscheinlich um den frei gewordenen Beifahrersitz in Beschlag zu nehmen.
Darius wartete einen Moment neben dem Wagen, als er ausgestiegen war und kam sich bescheuert vor.
Als sich ihre Blicke trafen, glänzten Alfreds Augen so unwiderstehlich, dass Darius sich jedoch nicht mehr an sich halten konnte.
Jetzt oder nie.
Das war übertrieben und stimmte nicht ganz, aber es fühlte sich so an. Und während Alfreds Vater ihm einen „Schönen Abend noch, Herr Kapellmeister“ wünschte und er sich geistesabwesend noch höflich für die Fahrt bedankte, stand Alfred ein bisschen unsicher vor ihm und lächelte sein sanftes, gütiges Lächeln.
Darius reichte ihm die Hand zur Verabschiedung.
Alfreds Blick wirkte kurz fragend, aber Darius sah ihn eindringlich an, sodass er gar keine andere Wahl hatte, als dass die kleine Notiz während dieses Händeschüttelns unauffällig ihren Besitzer wechselte.
„Bis morgen, Maestro“, sagte Alfred mit einem Augenzwinkern.
„Gute Nacht, Alfred“, flüsterte Darius leise, als er die Tür zum Beifahrersitz schon hinter sich geschlossen hatte.