Nachdem sowohl Gabriel und Nina nach Hause gegangen waren, als auch kurze Zeit später Jasper sich mit dem Vorwand verabschiedet hatte, dass er sich doch am besten noch ein bisschen ausruhen sollte, war für Darius an Schlaf nicht zu denken.
Er war müde und gleichzeitig aufgekratzt. Die letzten Stunden waren wie im Fluge vergangen und sie hatten allesamt in dieser kuriosen Situation erstaunlich viel gelacht und Spaß gehabt, doch er fand keine Ruhe.
Stattdessen griff er nach dem Telefon, um Alfred anzurufen.
All das Hadern mit sich selbst brachte nichts. Er hatte sich geschworen, ihn in Frieden zu lassen, seine Nachrichten nicht zu beantworten und den Kontakt lieber komplett abzubrechen, als doch wieder schwach zu werden –aber genau das wurde er nun, da seine Sehnsucht ihn beinahe verrückt werden ließ.
Das Freizeichen ertönte mehrere Male und schnürte Darius die Kehle zu. Als sich lediglich die Mailbox meldete, fluchte er leise, legte auf und versuchte es noch einmal. Er wollte nur kurz seine Stimme hören. Sich vergewissern, dass er wohlauf war.
Warum zur Hölle ging er nicht ans Telefon?
Darius würde lügen, hätte er behauptet, keine Panik zu haben.
Vielleicht war es übertrieben, sofort zu vermuten, dass Kristian es geschafft hatte, seine Adresse und den momentanen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, um ihm aufzulauern. Immerhin war er kein psychopathischer Axtmörder, sondern nur sein eifersüchtiger Exfreund, aber-
Womöglich wäre aber eben gerade auch nachlässig, darauf zu vertrauen, dass er so etwas nicht tun würde. Manchmal war er wirklich unberechenbar und ihm in diesen Situationen das gesunde Urteilsvermögen eines normalen Menschen zuzuschreiben, grenzte an Unterschätzung. Darius ertappte sich bei dem Gedanken, dass er Kristian momentan alles zutraute.
Sein Herz raste, als er zum dritten Mal Alfreds Nummer wählte.
Wieder nichts. Darius sank zurück ins Kissen und starrte Löcher in die Luft.
Solange, bis die Schwester ins Zimmer kam.
„Na, ist der Besuch wieder fort?“, fragte sie und wirkte unangebracht gut gelaunt, während sie irgendwelche Papiere in ihren Händen sortierte, „Ich habe hier noch einige Adressen und Telefonnummern für Sie, damit Sie sich schon einmal für die Nachbehandlung einen niedergelassenen Psychotherapeuten und einen Facharzt suchen können.“
Sie trat zu ihm ans Bett, stellte ein kleines ominöses Fläschchen auf den Tisch daneben und reichte ihm dann einen Stapel bedruckter Blätter.
„Den Entlassbrief habe ich auch schon hier, aber den nehm ich wieder mit, nicht dass Sie noch auf den Gedanken kommen, einfach abzuhauen“, sie schmunzelte und zwinkerte ihm zu, „Na, Schmarrn, aber der Herr Doktor meinte, dass ich Ihnen nochmals sagen soll, dass alles wie geplant laufen wird. Wissen’s schon, wann Sie morgen jemand abholen kommen kann?“
Darius schluckte das Unwohlsein herunter, zusammen mit allen verzweifelten und hilfesuchenden Worten, die ihm auf der Zunge lagen. Er schüttelte nur den Kopf, weil er das Gefühl hatte, ansonsten in Tränen auszubrechen.
„Aber eins wollt ich Ihnen noch an Herz legen“, fuhr sie schließlich fort, „Wenn’s zuhause sind und das Gefühl bekommen, dass es doch nicht geht, rufen’s bitte bei uns an. Wir finden da sicher noch ein Plätzchen, wo’s die Zeit überbrücken können, alles kein Problem, Sie müssen nur mit uns reden.“
Darius lächelte schwach.
„Danke“, meinte er kläglich, „Ich komme schon zurecht.“
Sie deutete auf die kleine Flasche, „Der Herr Doktor meinte, Sie wissen bescheid. Das ist dann sozusagen die Fahrkarte nach Hause.“
Die Schwester hatte wohl geplant, bei ihm zu bleiben, bis er das Zeug ausgetrunken hatte und zu überwachen, dass er es nicht einfach wegkippte.
Stattdessen lief es darauf hinaus, dass sie solange blieb, bis er nach dem zweiten gequälten Schluck in Tränen ausbrach und ihn nur die Undeutlichkeit seiner Worte durch das vehemente Schluchzen davon abhielt, ihr einfach alles von Anfang bis Ende anzuvertrauen.
Als sein Telefon klingelte, hatte er längst vergessen, dass er eigentlich noch auf den Rückruf wartete und das Geräusch ließ ihn zusammenfahren.
„J-ja?“, meldete er sich, ohne vorher auch nur einen Blick auf das Display geworfen zu haben und seine Stimme war ebenso zittrig wie seine Hände.
„Darius?“, fragte die wohl allerletzte Person, mit der er nun gerechnet hatte und nach der Erleichterung darüber, dass es nicht Kristian gewesen war, kam wieder die Sorge um Alfred hoch, den er sich eigentlich als Anrufer erhofft hatte.
„Entschuldige bitte“, Luise klang, als hätte sie nun selbst bemerkt, wie unpassend es war, bei ihm anzurufen, „Wenn ich störe, kann ich mich auch ein anderes Mal melden, aber Nina meinte, dass-“
Darius schloss kurz entnervt die Augen und seufzte tonlos. Die Schwester bedeutete ihm, dass sie ihn in Ruhe sprechen lassen würde, er aber jederzeit Gebrauch von dem roten Notfallknopf am Bett machen konnte.
„Sie ist nicht mehr hier“, meinte er knapp und bemühte sich um Fassung, damit er nicht allzu deutlich danach klang, gerade während einem Heulkrampf gestört worden zu sein, „Die beiden sind vor etwa einer halben Stunde gegangen.“
„Ach“, meinte Luise, „Das macht nichts. Ich wollte eh nicht mit Nina sprechen, sondern mit dir. Hast du eine Minute?“
Davon abgesehen, dass er hier alle Zeit der Welt hatte, sollte sie besser fragen, ob er überhaupt Lust auf dieses Telefonat hatte oder womöglich Besseres zu tun. Aber streng genommen konnte sie weder etwas für diese Situation noch etwas daran ändern, darum sollte er seine miese Laune nicht an ihr auslassen.
„Worum geht es?“, fragte er stattdessen direkt.
Glücklicherweise war Luise Frey ein Mensch, der Informationen ebenfalls dem typischen Smalltalk vorzog – wenngleich die beiden auch extrem unterschiedliche Ansprüche an einen Fakt hatten, damit dieser als solcher gewertet werden konnte.
„Ich habe gehört, dass du jetzt doch nicht mehr-“, begann sie sofort ganz eifrig und Darius konnte es nicht fassen.
Sie rief ihn allen Ernstes im Krankenhaus an, um die Gerüchte über seine plötzliche Entlassung auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen? So wenig Feingefühl hatte er nicht einmal von ihr erwartet.
„Ist das dein Ernst?“, unterbrach er sie so aufgebracht, dass sie keine Chance hatte, ihren Satz zu beenden, „Deswegen rufst du an? Seit wann interessiert dich überhaupt, ob Klatsch und Tratsch der Realität entsprechen?“
Kurze Zeit war es still am anderen Ende.
Ihm wurde nun erst so wirklich bewusst, was er ihr gerade an den Kopf geworfen hatte. Aber erst als sie weiter sprach, verfluchte er sich selbst dafür, dass er sie nicht hatte ausreden lassen, sondern den Rest des Satzes nur vermutet hatte.
„Aber sonst geht’s noch, oder?“, fragte sie nämlich und Darius traute seinen Ohren kaum, „Eigentlich wollte ich dich lediglich fragen, ob du bereits eine neue Perspektive hast oder auf der Suche danach bist.“
Er schwieg. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort und klang alles andere als amüsiert über seine vorschnelle Reaktion.
„Ich wollte dir anbieten, dass wir beide einmal in Ruhe darüber reden, ob du dir prinzipiell nicht vielleicht doch die Arbeit mit den Kindern vorstellen kannst. Was du erwartest, was meine Anforderungen sind, um welche offiziellen Dinge man sich im Idealfall noch kümmern müsste-“, ihre Stimme klang fast bitter, „Aber wenn deine Meinung darüber ebenso gefestigt ist wie dein Bild von mir, können wir uns beide die kostbare Zeit sparen!“
Darius wusste eigentlich, dass es nun an der Zeit war, an der er sich entschuldigen sollte. Dass es durchaus angebracht wäre, würde er sie bitten, ihm sein vorschnelles Urteil zu verzeihen und sie fragen, ob sie dieses Gespräch womöglich doch noch führen konnten.
Dass sich alles in ihm dagegen sträubte, lag nicht an den Kindern. Es lag nicht einmal an seiner grundsätzlichen Abneigung gegenüber ihr als Person, aber er schwieg nur etwas betreten und bracht keinen Ton heraus.
Davon abgesehen, dass er sich weder in der Lage sah, weit in die Zukunft vorauszuplanen, noch überhaupt gerade in der Stimmung war, sich damit auseinanderzusetzen, dass er einen neuen Job brauchte, wenn er wieder aus der Klinik kam, weil er am besten gar nicht darüber nachdenken wollte, dass er dort überhaupt hin musste – vielleicht war es einfach nur sein Stolz, der ihn in dieser Hinsicht so sehr blockierte, dass er nicht einfach einräumen konnte, sich geirrt zu haben.
Ihr nur schlechte Gedanken und niedrige Beweggründe zu unterstellen, war vielleicht wirklich nicht gerechtfertigt. Und eigentlich sollte es auch nicht schwer sein, vier ganz einfache Worte verlauten zu lassen. Vielleicht war diese Kombination von Worten sogar eine der schwierigsten überhaupt. Es tut mir leid – natürlich tat es ihm leid, doch er brachte es nicht über die Lippen.
„Bist du noch am Apparat?“, fragte Luise.
Darius gab sich einen Ruck.
„Ja“, meinte er betreten, „Ja, das bin ich.“
Vielleicht hätte sie das Gespräch anders beginnen können, doch sich einfach nur nach seinem Befinden zu erkundigen, war Luise Frey wohl nicht der richtige Typ Mensch. Ihm eine Arbeitsstelle in einer Musikschule anzubeten hatte er ebenfalls nicht von ihr erwartet und eigentlich sprach nichts dagegen, die versäumte Entschuldigung in genau diesem Moment nachzuholen.
Prinzipiell wollte er auch gerade dazu ansetzen, aber sie meldete sich schon wieder zu Wort und irgendwie hatte er das ja geahnt, was ihn wieder daran zweifeln ließ, ob er es überhaupt getan hätte, wenn er die Chance bekommen hätte.
„Wenn du deine Meinung änderst, kannst du dich ja melden“, sagte sie schließlich, „Meine Nummer darfst du gern abspeichern. Ich will dich auch gar nicht weiter belästigen, ich dachte nur, ich würde dir damit einen Gefallen tun.“
Darius biss sich auf die Unterlippe und bereute es sofort in diesem Moment – die Schwellung an seinem Mund tat immer noch höllisch weh und seine Augen tränten für einen Augenblick. Er wischte sich hastig über das Gesicht.
„J-ja“, meinte er schnell, „Ich- ich meine- Danke. Ich danke dir.“
Luise schnaufte und er glaubte, ein gewisses Amüsement in ihrer Stimmlage durchscheinen zu hören, „Ich bin mir sicher, Nina würde sich sehr freuen. Aus mir unerfindliche Gründen hält sie ja hohe Stücke auf dich – wie dem auch sei. Pass auf dich auf und werd' schnell wieder gesund.“
Darius bemerkte, wie sich ein leichtes Lächeln auf seine Züge schlich.
„Danke“, sagte er abermals, „Ich werde bei Bedarf darauf zurückkommen. Hab noch einen schönen Tag und grüß sie ganz lieb, wenn du sie siehst.“
„Ach“, Luise klang beinahe bitter, „In der letzten Zeit hast du sie öfters zu Gesicht bekommen als ich, da bin ich mir sicher.“
Er stockte und wägte gerade ab, ob es sich lohnen würde, nachzufragen oder ob es ohnehin wie eine falsch formulierte Version des Vorwurfs rüberkommen würde, dass sie daran wohl selbst nicht sehr unschuldig sein konnte.
„Wie dem auch sei“, fuhr sie aber schon fort und beendete das Gespräch auf äußerst geschäftige Art und Weise, die Darius ihr nicht einmal so sehr übel nahm wie er es eigentlich hätte tun wollen, „Ich habe noch einige weitere Telefonate zu erledigen. Wir hören uns!“
Als die Krankenschwester wieder ins Zimmer kam, um nochmal nach ihm zu sehen, hatte Darius bereits einen Notizblock mit zugehörigem Stift in einer der Taschen gefunden, die Theresa ans Bett gestellt hatte.
„Na, das scheint mir ja ein aufbauendes Telefonat gewesen zu sein“, meinte die ältere Dame und klang dabei beinahe erleichtert.
Darius nickte geistesabwesend und blickte nicht einmal von seinen Notizen auf.
Irgendwie hatte es ihn gepackt. Manchmal passierten unvorhergesehen eben doch noch Dinge, die besser waren, als man es erwartete. Und auf eine ganz und gar unangebrachte Art und Weise hatte er längst beschlossen, nach dem Klinikaufenthalt womöglich doch in Erwägung zu ziehen, wieder nach Wien zurückzukommen.
Es war bereits dunkel, als das Geräusch seines Telefons Darius aus dem unverhofften kreativen Fluss riss und er erst einmal ein paar Momente brauchte, bis er auf die Idee kam, dass er eventuell den Anruf annehmen könnte.
Fast schon ungnädig gestimmt über die Unterbrechung griff er nach seinem Smartphone- und dann fiel es ihm beinahe aus der Hand, denn auf dem Bildschirm stand in großen, gut lesbaren Buchstaben: Alfred. Er rief zurück. Er hatte womöglich vorhin nur zu tun gehabt und hatte nun den verpassten Anruf entdeckt. Vielleicht hatte er sich doch umsonst gesorgt.
Um das in Erfahrung zu bringen, sollte er allerdings langsam reagieren und kurz bevor nach dem wiederholten Klingeln die Mailbox antworten würde, schaffte Darius es, den Anruf anzunehmen.
Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er das Handy ans Ohr hielt und sich bemühte, ruhig und gefasst, vor allem aber so distanziert wie möglich zu klingen.
„Ottesen“, meldete er sich professionell.
Er konnte hören, wie Alfred stockte und dann Luft holte.
„Darius-“, begann er mit zittriger Stimme, „Ich bin’s, Alfred. Ich war vorhin- ich meine, ich hatte- also – du hattest angerufen?“
Darius schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch.
„Ja“, meinte er knapp, „Das hatte ich.“
Kurze Zeit herrschte Stille.
Natürlich hatte Alfred verstanden, was er ihm bei seinem letzten Besuch alles an den Kopf geworfen hatte. Womöglich war es nicht nur eine bewusste Entscheidung, sondern auch sein gutes Recht gewesen, die Anrufe zuerst nicht entgegen zu nehmen. Dass er sich nun anders entschieden hatte, beruhigte Darius nur bedingt. Natürlich wusste er so, dass ihm nichts geschehen war. Doch vielleicht hätte Darius die Sache einfach ruhen lassen sollen, anstatt wieder Salz in ihre Wunden zu streuen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte Alfred dann sanft, „Ich freue mich dich zu hören.“
Darius spürte einen dicken Kloß in seinem Hals.
„Mir geht es gut“, entschied er sich für die einzige richtige Antwort, dann wagte er doch zu fragen, „Geht es dir auch gut?“
Vielleicht war es unwahrscheinlich, dass Alfred nun davon anfing, dass ihn ein Fremder auf der Straße verfolgt hatte und er sich seit Tagen beobachtet fühlte, selbst wenn es denn so wäre – dennoch konnte Darius nicht leugnen, dass ihn Alfreds Befinden interessierte.
Er vermisste ihn. Und wie er ihn vermisste.
Aber Alfred schwieg eine ganze Weile, als wüsste er nicht, wie er schönreden konnte, dass er sich vor den Kopf gestoßen fühlte – zu recht. Doch je weniger er von der ganzen Situation wusste, desto sicherer war es bestimmt für ihn, redete Darius sich zumindest ein.
„Ich vermisse dich“, hauchte Alfred dann erstickt, „Ich möchte dich sehen.“
Darius biss die Zähne fest aufeinander.
Alles in ihm schrie danach, ihm die Wahrheit zu sagen. Sich mit ihm zu treffen, in seinen Armen zu liegen und einfach nur den Moment zu genießen, egal was danach kommen würde. Doch es ging nicht. Es ging einfach nicht.
Er wusste nicht, was er sagen sollte, doch noch bevor er in der Not irgendetwas vorgeben konnte, warum er überhaupt angerufen hatte, sprach Alfred weiter.
„Hast du meine Nachricht erhalten?“, fragte er.
Darius schluckte die Tränen hinunter.
„Ja, ich habe sie gelesen“, sagte er leise und fügte hinzu, „Beide.“
Er konnte hören, wie Alfred die Nase hochzog, als würde er still weinen.
„Ich würde dich so gern sehen“, flüsterte er und es klang wie ein Flehen.
Darius schwieg. Er sagte bei weitem nicht immer die Wahrheit. Doch eine Lüge, die das Gegenteil von dem behaupten würde, was er wirklich fühlte, brachte er in diesem Fall einfach nicht über die Lippen.
Er hoffte, dass das Schweigen genügen würde. Er hoffte es inständig.
„Darius-“, begann Alfred und es hörte sich kläglich an.
Was auch immer er sagen würde- Darius würde es nicht ertragen, das wusste er.
„Ich muss auflegen“, sagte Darius schnell, „Es- es tut mir leid.“
„Darius-“, begann Alfred abermals.
„Ich lege jetzt auf-“ unterbrach Darius ihn hastig mit kratziger Stimme, ehe er noch etwas sagen konnte, „Leb wohl, Alfred.“
Ihm war, als würde er Alfred noch schluchzen hören, als er das Telefon vom Ohr nahm, auflegte und auf dem Bett zusammen sank.
Danach weinte er sich in den Schlaf.