Lange sah er dem Auto noch hinterher, dann schüttelte er resigniert den Kopf und lief die wenigen hundert Meter nach Hause.
Noch während des Laufens zog er mit zittrigen Fingern das Smartphone aus seiner Tasche und entdeckte neben einer Nachricht von Theresa, die einzig und allein „Und?“ ohne jeglichen Zusammenhang lautete, sage und schreibe vier neuerlich verpasste Anrufe von Gabriel.
In der Straße lungerten ja öfters einmal irgendwelche Jugendlichen ohne Ziel und ohne Grund herum, aber dass direkt vor seiner Tür eine große und eine weitaus kleinere Gestalt standen, machte ihm in diesem Moment doch arg zu schaffen.
Schnell verstaute er das Telefon wieder sicher in der Tasche.
Darius spürte die Panik in sich hochkochen, sein Herz raste diesmal gefährlich, es schnürte ihm komplett die Kehle zu und er fühlte sich nach diesem anstrengenden Tag wirklich so nah einer Ohnmacht, dass er anscheinend schon Sinnestäuschungen hatte.
„Ja, sieh mal einer an!“, sagte nämlich schon Gabriels Stimme in seinen Wahnvorstellungen und passte exakt zu der größeren, sich mit einem Mal hastig nähernden Gestalt im Schatten vor seiner Tür, „Da bist du ja endlich.“
Alles drehte sich um ihn herum, seine zitternden Beine schienen ihn nicht mehr halten zu wollen.
Darius bemerkte noch, dass ihm der Koffer aus der Hand rutschte und sein linkes Knie eine schmerzhafte Begegnung mit der Bordsteinkante machte, dann lag er plötzlich mit dem Rücken auf seinem Sofa und starrte panisch in zwei sehr große, sehr dunkle und sehr besorgte Augen.
„Onkel Darius?“, fragte eine helle Kinderstimme.
Er schloss die Augen noch bevor er bemerkte, dass er sie überhaupt geöffnet hatte. Sein Kopf dröhnte schmerzhaft und das weiche Sofapolster unter ihm schien gefährlich zu schwanken.
„Der ist selbst schuld“, sagte Gabriel und legte lieblos einen kühlen Waschlappen auf seine Stirn, „Hätte ja auch vorher mal ans Telefon gehen können, als ich uns ankündigen wollte!“
„Nn-“, versuchte Darius, etwas mehr als ein leidendes Geräusch von sich zu geben, was ihm aber erst beim zweiten Anlauf gelang.
„Nina?“
Ein Strahlen legte sich auf die zarten, kindlichen Züge und kurz darauf presste ihm ein gar nicht mal so geringes Gewicht auf seinem Köper sämtliche Luft aus den Lungen.
„Du lebst!“, rief die betreffende Person fröhlich, wenngleich auch unerträglich laut, direkt in sein Ohr.
Mit einem Büschel langer Haare im Gesicht versuchte er zumindest, sich ob der überschwänglichen Umarmung zu beschweren, aber ganz schaffte er es nicht.
Dafür fühlte er sich mit einem Mal viel zu froh, auch wenn es weder gegen sein allgemeines Unwohlsein noch gegen all die Fragen half, die sich panisch in sein langsam wieder erwachendes Bewusstsein drängten.
Sein Knie schmerzte höllisch. Es war also kein Traum gewesen.
„Klar lebt der noch“, konnte er wieder Gabriels Stimme hören, „Unkraut vergeht nicht. Trotzdem hätte es ein einfaches ‚Hallo‘ zur Begrüßung auch getan, kein Grund dich mir gleich vor die Füße zu werfen!“
Darius holte tief Luft, als er dies wieder konnte, weil der kleine, aufdringliche Mensch sich glücklicherweise wieder aus seiner Wohlfühlzone entfernte.
„Was zum Teufel habt ihr vor meiner Haustür gemacht?“
Es klang um einiges abweisender als geplant, aber Nina lachte nur und grinste ihn dann frech an.
„Eigentlich war geplant, dass wir nur warten, bis du nach Hause kommst, aber da wussten wir noch nicht, dass du plötzlich tot umfällst“, plapperte sie schon eifrig los und erinnerte Darius daran, warum er Kinder nicht leiden konnte, „Also letzten Endes hab ich dann deine Tasche nach einem Schlüssel durchsucht und die Türen aufgeschlossen, während Papa dich vom Boden aufgesammelt und aufs Sofa getragen hat!“
Darius stöhnte leidend.
Das konnte doch einfach alles nicht wahr sein.
„Aber ich bin froh, dass du doch nicht ganz tot bist“, fügte Nina dann noch zumindest etwas gnädiger bezüglich des penetranten Umfangs ihrer Lautstärke und dem nervtötend aufgedrehten Tonfalls ihrer Stimme hinzu.
„Darf ich jetzt auf deinem Klavier spielen? Tante Theresa hat gesagt, das stört hier niemanden, selbst wenn es mitten in der Nacht ist. Das muss ich ausnutzen!“
Auch wenn Darius komplett überfordert mit der Gesamtsituation war, schaffte er es nicht schnell genug, ihr zu verbieten, sein geliebtes Klavier mit ihren kleinen, sicherlich irgendwie dreckigen Patschehändchen überhaupt anzufassen.
„Nichts da“, sagte stattdessen Gabriel, „Du gehst jetzt schlafen, junge Dame! Onkel Darius steht jetzt nämlich auf, setzt sich mit mir an den Küchentisch und du legst dich auf die Couch. Es ist echt schon wahnsinnig spät!“
Darius wollte sich eigentlich darüber beschweren, dass Gabriel anscheinend vorhatte, die beiden hier einfach ohne Rücksprache mit ihm einzuquartieren, aber dazu fühlte er sich kaum in der Lage.
Er wollte am liebsten einfach nur mehrere Tage durchschlafen oder am besten in eine tiefe Bewusstlosigkeit fallen, bis all das hier vorbei war.
Vielleicht aber würde es wirklich einige Fragen beantworten, würde er sich mit ihm an den Tisch setzen und erst einmal über alles sprechen, während Nina schlief.
Schlafende Kinder waren zumindest nicht so penetrant und anhänglich.
„Aber Papa!“, empörte sich eben jenes Kind allerdings vorwurfsvoll, „Es ist noch nicht einmal Mitternacht und morgen ist doch gar keine Schule!“
Während Darius sich benommen aufrappelte und schmerzerfüllt zusammenzuckte, als er fast schon vergeblich versuchte, sein Knie in eine zumindest sitzende Position zu beugen, kannte Gabriel keine Gnade:
„Keine Widerrede. Morgen Abend darfst du von mir aus so lange wach bleiben wie du willst, aber heute wird pünktlich geschlafen!“
Nina versuchte vergeblich, einen Mitstreiter in ihrer Sache zu finden.
„Aber ich hab Onkel Darius schon so lange nicht mehr gesehen!“, sagte sie in fast schon weinerlicher Stimme und schlang wieder erdrückend fest ihre Arme um ihn, den Kopf ungefragt an seine Schulter gelegt, „Und außerdem hast du mir gar nichts zu sagen, ich bin kein Baby mehr, sondern fast erwachsen!“
Gabriel schnaufte und für einen Moment tat er Darius fast schon leid in dieser Sache, „Erwachsen, ja? Warte mal noch gut vier Jahre, dann bist du zumindest mal volljährig. Bis dahin hab allerdings ich das Sagen und ich sage, der Onkel Darius bewegt jetzt seinen knochigen Arsch und du legst dich schlafen!“
Aber eigentlich war er auch selbst schuld daran, wenn er unbedingt ein Kind hatte zeugen müssen, ohne die nötigen Grundvoraussetzungen dafür zu erfüllen.
Vorsichtig versuchte Darius, das Bein mit dem betroffenen Knie zu belasten, um sich aus dem Würgegriff zu winden und tatsächlich aufzustehen. Davon abgesehen, dass es sich anfühlte, als hätte ihm jemand mit einem Hammer brutal die Kniescheibe zertrümmert, funktionierte es aber sogar und er konnte sich zumindest an der nächsten Wand abstützen, während Gabriel Kissen und Wolldecke zu einer netten Schlafstätte für seine Tochter zusammensuchte.
Darius beobachtete noch immer vollkommen neben sich stehend diese Szene und fragte sich, wann aus dem kleinem süßen Fratz nur eine so große Nervensäge geworden war. Fast schon eine junge Dame, wenn man es richtig bedachte.
Wie alt musste Nina jetzt sein, wenn man es ausrechnete? Dreizehn? Vierzehn? Die Zeit war ohne ihn ins Land gezogen und beinahe stimmte es ihn schon melancholisch, dass seine Nichte, die ihm so fremd schien, trotz der Beschwerden ihres Vaters noch einmal schnell zu ihm eilte und ihn abermals in eine erdrückende Umarmung zog.
„Gute Nacht, Onkel Darius“, sagte sie und schmatzte ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, bevor sie es sich endlich auf seinem Sofa gemütlich machte.
„Schlaf schön, Nina“, sagte er verdattert.
Kurz nach Mitternacht herrschte längst dunkle Stille im Wohnzimmer und Darius saß mit Gabriel, höllischen Schmerzen und einer Kanne frisch aufgebrühten Kaffee am Küchentisch.
„Es war eine sehr kurzfristige Entscheidung, aber ich bereue sie nicht“, erklärte Gabriel mittlerweile erschöpft und händeringend um Verständnis, „Alles hinter mir zu lassen, was mich von meiner Familie entfernt hat, war das einzig Richtige, was ich tun konnte. Wir müssen zusammenhalten. Jetzt mehr denn je und die Auflösung der Wohnung reicht zusammen mit dem Erbe sicherlich für ein kleines Glück hier!“
Darius schaffte es nicht einmal, irgendeine Art von Schock oder gar Trauer bei diesen Worten zu empfinden.
„Erbe“, wiederholte er nur, ohne dass es nach einer Frage klang.
Gabriel nickte, „Ja. Es war absehbar, aber trotzdem hat es mich sehr nachdenklich gestimmt. Ich habe viel nachgedacht, Darius. Über alles, nicht nur über ihn. Über mein Leben, über Nina, über Theresa und über Mutter. Über dich, über uns und alles was ich falsch gemacht habe.“
Darius seufzte schwer und rieb sich die Schläfen.
„Sobald das mit der Kaution für unsere Wohnung hier endlich geklärt ist, kann ich dir deinen Anteil zusammen mit meinen Schulden bar ausbezahlen“, sagte Gabriel.
Darius runzelte die Stirn.
„Es geht also um Geld“, das war wieder keine Frage.
„Zwei Monate, Darius“, sagte Gabriel fast schon flehend, „Höchstens drei, dann bekommst du die gesamte Summe, wenn du willst sogar mit Zinsen!“
Darius schüttelte fast schon angewidert den Kopf über diese Frechheit.
Gabriel öffnete schon den Mund, um etwas hinzuzufügen, aber da platzte Darius dann doch der Kragen.
„Ich will kein Geld“, sagte er aufgebracht und musste sich zusammenreißen, leise zu reden, weil die kleine Nervensäge am Schlafen war, „Nicht von dir und nicht von diesem Mann. Das kannst du behalten. Ich hoffe, du investierst es in Ninas Zukunft, aber ich will es nicht.“
Gabriel wollte unterbrechen, aber Darius fuhr ihm sofort mit leiser, zittriger Stimme dazwischen, während das Blut in seinen Ohren rauschte, „Oh nein, jetzt rede ich! Weißt du, was ich dachte, als ich deine Nummer gesehen habe?“
Er sah ihn anklagend an und schaffte es nicht, seine Stimme so klar und schneidend klingen zu lassen wie beabsichtigt.
„An alles habe ich gedacht, aber nicht daran, dass du wegen irgendwelchem beschissenen Geld vor meiner Haustür wartest“, Darius spürte einen dicken Kloß im Hals, der ihm das Sprechen fast unmöglich machte und seinen Worten viel weniger Eindruck verlieh.
„Scheiße, Gabriel. Verflucht nochmal, scheiße!“
So vieles wollte er sagen, so vieles wollte er ihm an den Kopf werfen, aber in diesem Moment konnte er nicht mehr tun, als einfach nur zu fluchen und seiner Enttäuschung Luft zu machen.
Darius‘ Stimme war immer dünner und kläglicher geworden, bevor sie nun verstummte und er mit brennenden Augen und zusammengekniffenen Lippen in seinen Kaffee starrte. Er konnte und wollte Gabriel jetzt nicht ansehen.
Und noch weniger hatte er die Lust oder gar die Kraft dazu, sich mit seinen blöden Ausreden auseinander zu setzen.
„Ich bitte dich, Darius“, sagte Gabriel leise, aber Darius sah ihn nicht an, „Kein Grund, dich so aufzuregen, du bekommst es doch, es dauert nur etwas länger-“
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Darius.
Einige Momente lang sahen sich die beiden in die Augen, als würden sie ein stummes Blickduell austragen. Aber im Gegensatz zu Theresas Blick konnte er dem von Gabriel mühelos standhalten.
„Mir geht dein Geld am Arsch vorbei“, wiederholte Darius seinen Standpunkt, diesmal vielleicht etwas deutlicher und in Gabriels Sprache, sodass auch er es endlich verstehen würde, „Ich hatte lediglich gehofft, dass du wirklich über uns nachgedacht hättest, statt dir nur über deine Schulden den Kopf zu zerbrechen!“
Nun kam der lang erwartete Moment, an dem Gabriel wütend wurde. Es war eben doch immer noch dieselbe Situation und nicht, aber auch rein gar nichts hatte sich geändert. Da konnte er reden, so viel er wollte.
„Du bist doch nicht mal ans Telefon gegangen, als ich dich angerufen habe!“, holte Gabriel nun zum verbalen Gegenschlag aus.
Darius verzog keine Miene, auch wenn ihm elend zumute war.
„Du hast wahrscheinlich nicht mal daran gedacht, dass wir beide Fehler gemacht haben, weil du zu beschäftigt warst, die Schuld bei mir zu suchen!“, warf er ihm dann lautstark gegen den Kopf und Darius erhob sich so hastig, dass ihm durch den neuerlichen Schmerz fast schwarz vor Augen wurde.
Er stützte sich am Tisch ab, auch wenn es viel weniger bedrohlich als mitleidserregend wirken musste, wie er sich über die Tischplatte beugte.
„Deine Tochter schläft“, zischte Darius warnend, „Ich frage mich ohnehin, warum du nicht zu Theresa gegangen bist! Sie besitzt ein riesiges Gästezimmer und sicherlich auch mehr Verständnis. Und ich muss verdammt nochmal schlafen, da ich morgen einen wichtigen Auftritt habe!“
Er selbst war zu den letzen Worten seiner Ausführung auch etwas lauter geworden, weswegen Gabriel nun wohl gar nichts mehr im Zaum halten konnte.
„Dann geh doch schlafen! Ich halte dich nicht davon ab“, zeterte er, „Ja, ich würde auch sehr gern wieder verschwinden, aber meine Tochter braucht verdammt nochmal auch ihren Schlaf, ich kann sie ja wohl schlecht nochmal aufwecken!“
„Das machst du aber gerade, wenn du hier so rumschreist“, zischte Darius durch zusammengebissene Zähne, „Außerdem kann ich nicht schlafen, wenn sie auf meinem Sofa liegt!“
Gabriel starrte ihn einige Momente lang an.
„Wie wäre es mit deinem Bett?“, fragte er knapp.
Darius musste sich beherrschen, nicht einfach die Fassung zu verlieren.
„Ich habe kein Bett“, sagte er ebenso knapp, „Und ich brauche für gewöhnlich auch keins, immerhin habe ich ein Sofa und nur sehr selten unangekündigten Übernachtungsbesuch!“
Gabriel deutete auf die Tür zum Musikzimmer.
„Sag mir nicht, dass du statt eines Schlafzimmers tatsächlich-“, er schnaubte wütend, dann fasste er sich an den Kopf, „In Ordnung. Ich verstehe. Es tut mir wirklich leid, dass wir dich in deinem kleinen Universum hier belästigt haben. Ich vergaß, dass mein Bruder nicht nur kein Herz hat, sondern auch in einer vollkommen anderen Welt fernab von jeglicher Realität lebt!“
Darius kam gar nicht mehr zu Wort, Gabriel war anscheinend so geladen, dass er die schlafende Nervensäge nun doch zu wecken versuchte, um beleidigt abzurauschen.
Und noch ehe Darius einlenken oder anderweitig irgendeinen Versuch zur Streitschlichtung starten konnte, hing auch wieder Nina an seinem Hals und sah ihn aus großen, flehenden Augen an.
„Du besuchst uns doch bald mal, nicht wahr?“, fragte sie, als Gabriel schon ungeduldig in der Tür stand.
Darius nickte hastig und klopfte der Kleinen unbeholfen auf den Rücken, als sie sich kurz ganz verschmust an ihn kuschelte, ehe sie wieder zu ihm aufsah.
„Wir gehen!“, ließ Gabriel verlauten.
Ninas ausgesprochen treudoofer, aber doch so ehrlicher und bedingungslos liebevoller Blick brachte Darius fast dazu, all seine wohlbehüteten Prinzipien über den Haufen zu werfen.
„Versprochen?“, fragte sie.
Darius lächelte schief und nickte unsicher.
„Versprochen!“
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