Wie er es bereits vorausgesehen hatte, fand sich Darius schon kurze Zeit später vollkommen vertieft in eine ganz andere Sache am Computer wieder.
Er konnte so nicht arbeiten, er brauchte dringend Ablenkung.
Die fand er im Internet massenweise, doch anstatt sich zumindest über irgendetwas Konstruktives zu informieren, schwelgte er in Erinnerung, indem er sich alte Aufnahmen von Konzerten ansah, die er zum größten Teil in Person miterlebt hatte.
Auch wenn er es größtenteils vermied, eigene Auftritte noch einmal anzusehen, fand er besonderen Gefallen an einigen Aufzeichnungen von Theresa. Das Internet war eine wahre Fundgrube, die ihn immer wieder überraschte.
Und so stöberte er mittlerweile in Zeiten herum, zu denen er noch zur Schule gegangen war und eher wenig von Theresas Schaffen in Wien mitbekommen hatte.
Zwischen den üblichen Videos, die sie ihm selbst schon zu Genüge vorgespielt hatte, fand er auch einige alte Mitschnitte von eher schlechter Qualität, die semi-offiziell oder gar heimlich vom Publikum aufgenommen und erst einige Zeit später veröffentlicht worden waren. Vermutlich etwa zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Name mehr Menschen ein Begriff geworden war, als es mit der Karriere steil bergauf gegangen war und die Leute interessiert an der Vergangenheit waren.
Irgendwo zwischen dieser Zeit und den besseren, professionellen Aufnahmen, stieß er auf einen doch sehr netten Mitschnitt von Mozarts Zauberflöte.
Mit der scherzhaften Notiz „nattens dronning ;)“ leitete das Video per Mail an Theresa weiter, bevor er sich zurücklehnte es sich noch einmal von vorn anschaute. Natürlich hatte sie damals nicht die Rolle der Königin der Nacht bekommen, das hatte sie seines Wissens nach bis heute nicht, doch der entzückende Anblick von Theresa in ihrem farbenfrohen Papagena-Federkleid war sowieso um einiges amüsanter.
Daran hatte er sich zwar recht schnell satt gesehen, doch mit der Untermalung der Tonspur auf Wiederholung konnte er die Anhäufung der ungelesenen Nachrichten in seinem eigenen Mail-Postfach um einiges besser bewältigen.
Kurz ärgerte er sich noch über ein paar geringfügige Patzer in der gesamtheitlichen Darbietung, die nicht hätten sein müssen, dann stockte er plötzlich. Über seine Konzentration auf Theresas Stimme hatte er den Papageno geflissentlich ignoriert, im weiteren Verlauf des Duetts durchdrang ihn diese zweite Stimme aber geradezu.
Schnell öffnete er das Video-Fenster und spielte die Aufnahme noch einmal von Anfang an ab, diesmal ohne den Blick vom Bild zu nehmen.
Tatsächlich.
Er musste nicht einmal in die Informationsbox unter dem Video schauen, es fiel ihm einfach wie Schuppen – oder in diesem Fall: Federn – von den Augen.
Nicht einmal hinter seinem fröhlich bunten Kostüm konnte der eigentlich gar nicht immer so lustige Papageno seine wahre Identität verstecken und Darius war schnell hin- und hergerissen zwischen Freude und Wehmut.
Davon abgesehen, dass die spontane Familienplanung der beiden Turteltäubchen erneut erschreckend schnell voranging und die beiden Stimmen miteinander so fabelhaft harmonierten, dass die Darbietung trotz des allgemein eher mittelmäßigen Orchesters einiges mehr an Aufmerksamkeit verdient hätte, würde er eben diesen Paradiesvogel unter Tausenden erkennen.
Wenn Darius sich nicht täuschte, war es damals sogar Theresa gewesen, die ihn auf ihren Sängerkollegen Alfred Wunderlich hatte aufmerksam gemacht.
Ihre Begeisterung über seine Stimme hatte sich über all die Jahre gehalten, auch nachdem er von der Bildfläche der Öffentlichkeit mit einem Mal verschwunden war und Darius hatte sie stets im Stillen für sich geteilt.
Zwar wurde es mittlerweile schon langsam hell draußen, aber nichts konnte ihn davon abhalten, nun doch etwas tiefer in der Materie zu graben.
Auch wenn es sich beinahe anfühlte, als würde er neugierig in Dingen wühlen, die ihn nichts angingen, waren die Aufzeichnungen doch jedem zugänglich, der das Internet nutzte, und so war dieses Gefühl von missachteter Privatsphäre sicherlich unangebracht.
Nachdem er sich sämtliche Papageno-Szenen von eben diesem Auftritt zu Gemüte geführt hatte, suchte Darius weiter nach anderen Darbietungen von Alfred.
Es gab Sänger wie Sand am Meer, und wenn man nur von einem Bruchteil immer mal wieder hörte, dann lag die Vermutung nahe, dass eben diese auf technischer Ebene fehlerfrei arbeiteten.
Und eigentlich sollte das genügen, immerhin hatte Darius schon oft zu hören bekommen, der Rest sei lediglich persönliche Geschmackssache und wäre nicht nur inkonsistent, sondern auch irrelevant. Und trotzdem maßte sich Darius an, die Leidenschaft in einem Sänger zu erkennen und sofort zu bemerken, wenn jemand Emotionen und Gefühl durch die Stimme transportieren konnte.
Natürlich wäre auch dies irrelevant, wenn dadurch die technische Qualität leiden würde, aber eben dies war nicht der Fall.
So hatte schon allein die Tatsache, wie Alfred Wunderlich trotz der nicht zu unterschätzenden körperlichen Anstrengung und Konzentration, die ein Sänger grundsätzlich aufbringen musste, noch seine eigene persönliche Note in die längst bekannten Stücke einfließen ließ, doch unheimlich viel für sich.
Als ob er jede Sekunde dieser Tätigkeit unendlich genoss, als ob er für das Licht der Scheinwerfer geboren wäre, war der Vortrag nicht nur fehlerfrei, sondern wirkte durch kleine Details auch noch unheimlich lebendig.
Ganz abgesehen von der teilweise fast schon überragenden schauspielerischen Leistung und den glaubhaften Regungen seiner Mimik, als würde er den Inhalt des Textes am eigenen Leib erfahren, lag doch allgemein immer ein so fröhliches Funkeln in seinen Augen, als würde er einfach genau das tun, was er schon immer hatte tun wollte.
Es war doch Ironie, dass sie sich nun auf diese Art und Weise begegnet waren.
Jetzt, wo dieses Funkeln fast erloschen schien und nur in seltenen Situationen noch durchschimmerte. Darius wollte sich nicht anmaßen, Vermutungen anzustellen. Man hatte ja ein paar Dinge gehört, die nie bestätigt worden waren und Alfred danach zu fragen schien noch unangebrachter als alles zuvor.
Erst als die Weckfunktion seines Smartphones sich schon einige Male bemerkbar gemacht hatte, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht doch langsam in die Gänge kommen sollte, wollte er nicht zu spät zur Arbeit kommen und über den ganzen Aufnahmen von damals die Chance verpassen, den echten Menschen in der Straßenbahn zu treffen.
Was für eine Nacht! Darius vermied weitere Gedanken an Gabriel, auch als er auf seinem Telefon zwei weitere verpasste Anrufe von ihm entdeckte.
Stattdessen spülte er das aufkommende Unwohlsein über den fehlenden Schlaf mit dem restlichen Kaffee hinunter und machte sich auf den Weg ins Badezimmer, um zumindest von außen präsentabel zu wirken, wenn er wieder vor dem Orchester stehen würde.
Vielleicht sollte er sich fest vornehmen, in der nächsten Nacht einige Stunden zu schlafen – auf Dauer ging diese Sache sonst wohl wirklich nicht gut.
Tatsächlich nickte er mehrere Male beinahe auf dem gepolsterten Sitz in der Bahn ein, als diese sich in Bewegung gesetzt hatte.
Das Telefon hatte er nun komplett abgeschaltet, um weitere Störungen vor allem während der Arbeit zu vermeiden und irgendwie fehlte doch die musikalische Untermalung seiner Straßenbahnfahrt aus den Kopfhörern.
Nach einigen Minuten aber raffte er sich auf, sich zumindest wieder aufrecht hinzusetzen und die Musik im Ohr wäre ja auch nur störend, sobald nach ein paar weiteren Haltestellen dann wieder Alfred zusteigen würde.
Sicherlich würden sie sich wieder unterhalten.
Da brauchte er dann wirklich keine Kopfhörer.
Schnell strich Darius noch seine Hose glatt und überprüfte den Kragen seines Hemdes, dann cremte er sich noch hastig in einem Anflug plötzlicher Nervosität die Hände ein und reckte er an der betreffenden Haltestelle fast schon ungeduldig den Kopf, um rechtzeitig den Koffer vom Sitz nehmen zu können.
Einige Leute stiegen zu und liefen an ihm vorbei, um sich hektisch einen Platz zu suchen. Andere gaben sich gleich damit zufrieden, lieber gleich zu stehen und gar nicht darauf zu hoffen.
Wieder andere schüttelten kurz den Kopf über seinen Aktenkoffer auf dem Sitz, sagten aber nichts weiter dazu. Das hatte sich wohl nur Alfred vor einigen Tagen getraut.
Schnell ebbte der Strom an Zusteigenden ab und die Türen schlossen sich, ohne dass Darius das bekannte Gesicht erspäht hatte.
Kein Alfred.
Mehrmals sah sich Darius noch um, ob er nicht irgendwo anders saß oder stand, ihn einfach nicht entdeckt hatte oder ihm doch aus dem Weg ging. Aber er konnte ihn wirklich nirgendwo sehen, keine Spur von ihm.
Kein Alfred weit und breit.
Während Darius sich Gedanken machte, was in aller Welt geschehen sein konnte, fiel ihm wieder ein, dass er ihn gar nicht regelmäßig morgens zu Gesicht bekam und er dennoch immer pünktlich bei der Probe anwesend war, aber dennoch:
Irgendwie hatte er sich nun komplett darauf eingestellt, dass sie sich hier wieder treffen würden. Sein Fehlen traf Darius mehr, als es auf logischer Ebene erklärbar gewesen wäre. Vielleicht war es ja sogar eine Ausnahme gewesen, dass Alfred morgens überhaupt mit der Bahn fuhr.
Am Ende nutzte er sie einfach nur, um nach Hause zu kommen oder sowieso nur ab und an. Ja, womöglich war einfach nur kürzlich sein Auto kaputt gewesen, oder sonst etwas, woher sollte Darius das wissen?
Und ehrlich gesagt ging es ihn ja auch nichts an, was Alfred Wunderlich außerhalb der Proben tat und wie er zur Arbeit kam.
Sie hatten ja ansonsten nicht viel miteinander zu tun und irgendwie war es sowieso äußerst seltsam, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass er sich auf dieses ausgemalte Gespräch vor dem üblichen Tagesablauf doch sehr gefreut hatte.
Er hatte kein Recht dazu, sich solche Gedanken anzumaßen. Er hatte nicht einmal Grund dazu, anzunehmen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Dennoch blieb er etwas benommen zurück.
Der fehlende Schlaf, ja vielleicht sogar die komplette Abwesenheit von Abendessen und Frühstück machten sich wohl doch bemerkbar. Ein paar Tage lang ging es immer recht gut, aber irgendwann holten ihn die Bedürfnisse seines Körpers dann doch ein.
So schaltete er im weiteren Verlauf der Fahrt einfach nur das Telefon wieder an und hörte wie gewohnt Musik, als wäre nichts gewesen. Alfred darauf ansprechen würde er ja sowieso nicht können, selbst wenn er schon längst da war.
Als er schließlich die Oper erreichte und ausstieg, hatte Darius die ganze Sache mit Gabriel über alle anderen Überlegungen längst wieder verdrängt. Es interessierte ihn nun lediglich, ob Alfred wie erhofft an seinem Platz sitzen würde und so beschleunigte er seine eh schon recht hektischen Schritte noch etwas mehr.
Selbst die übliche Tasse Kaffee gemeinsam mit Ferdinand zum Start des Arbeitstages vergaß er über seine Sorge, dass sich irgendetwas außer der Reihe bei Alfred ereignet haben könnte.
Es war einfach nur wichtig, dass er schnell im großen Saal ankommen würde, in dem die Proben wie gewohnt stattfinden würden.
Und irgendwie ertappte sich Darius bei dem Gedanken, dass sich seine Angst dabei nicht einmal um den Probenplan und das bevorstehende Konzert drehte, sondern um den Mann selbst.
Erst als ihn ein fast schon gähnend leerer Saal erwartete, in dem etwas verloren einzig und allein Jasper Sundström ganz zittrig mit seiner Violine stand und ihn fast schon ängstlich aber doch erwartungsvoll anstarrte, fiel Darius seine eigene Planung wieder ein.
Der arme Mann musste wohl denken, dass das verärgerte Zucken seiner Mundwinkel ihm galt, dabei regte sich Darius nur über sich selbst auf. Es war keine vierundzwanzig Stunden her, dass er hier gestanden war und selbst den veränderten Plan vorgetragen hatte.
So etwas musste wirklich nicht sein und war auch sehr einfach zu vermeiden, wenn man nur ein winziges Bisschen den Überblick behielt, indem man gedanklich bei der Sache blieb.
Kein Wunder, dass Alfred nicht in dieser Bahn gesessen hatte, wenn er doch erst zwei Stunden später erscheinen musste.
Vielleicht sollte sich Darius doch angewöhnen, wie jeder normale Mensch nachts einfach zu schlafen.