Es war einer dieser Tage, an denen man selbst nach genügend Stunden erholsamen Schlafes am Morgen beim besten Willen nicht aufstehen wollte.
Das Bett war kuschlig warm, die Sonne schien fröhlich zum Fenster hinein und ohne jeglichen Zeitdruck im Nacken fühlte sich Alfred beinahe schon, als wäre es nun aber wirklich sein gutes Recht, nach dem Aufwachen einfach noch liegen zu bleiben und die Ruhe zu genießen.
Sein Wecker hatte bereits dreimal geklingelt, als er sich mit einem wohligen Seufzen nur noch einmal auf die andere Seite drehte und allen erdenklichen Göttern dankte, dass er erst heute Abend wieder ein Mensch sein musste.
Vorher konnte er sich gern damit begnügen, sich schlafend zu stellen und alles andere als fein säuberlich herausgeputzt zu sein.
Kein Trubel, kein Stress, keine Menschen.
Keine cholerischen Direktoren, keine vorlauten Hornisten, keine gar nicht mal immer so schüchternen Virtuosen.
Und vor allem keine äußerst charismatischen, aber dennoch immer noch absolut unmöglichen Dirigenten, die sich mit ihrem etwas unbeholfenem Charme einfach so und ohne vorher zu fragen viel tiefer unter seine Haut geschlichen hatten, als es angebracht gewesen wäre.
Einfach nur für ein paar Stunden lang Pause von dem alltäglichen Wahnsinn, Zeit für sich selbst und keine anderen Menschen.
Gar keine.
Außer vielleicht seinem Vater, der draußen im Garten mit durchdringender Stimme verlauten, dass es wahrlich eine Wonne wäre, könnte ihm irgendjemand zumindest für ein paar Minuten mal zur Hand gehen.
Aber das hörte niemand, immerhin schlief irgendjemand noch tief und fest und wurde eben nicht mit jedem dieser grausigen Schimpfwörter, mit denen er in den folgenden Minuten ohne sein eigenes Wissen da draußen noch bedacht wurde, doch immer wacher.
Irgendwie wünschte er sich ja noch aus dem Gästezimmer hinaus und in sein eigenes Bett in das Haus ohne Garten und vor allem ohne Gartenarbeit, in dem er eine wundervoll gemütliche, sehr einsame und ruhige Wohnung hatte.
Dann aber schälte er sich doch seufzend aus der Decke, um sich seinem leidvollen Schicksal zu stellen und verfluchte sein eigenes Pflichtbewusstsein.
Das sogenannte Gästezimmer war einmal sein Kinderzimmer gewesen.
Heute erinnerte daran nur noch ein sehr großes Stück abgekratzter Tapete, die sein Vater im Schweiße seines Angesichts versucht hatte, durch darüber gestrichene Farbe mit einem ähnlichen Granulat aus Rauhfaser zu überdecken – mit mäßigem Erfolg, deswegen stand nun ein Gummibaum davor, um davon abzulenken.
Alfred aber erinnerte sich noch gut daran, wie damals dort sein Bett gestanden hatte und er vor dem Schlafen immer noch ganz zerstreut in Gedanken verloren an der Tapete herumgeknibbelt hatte, bis sich ganze Fetzen davon abgelöst hatten.
Als Kurt dieser Umstand dann zum ersten Mal aufgefallen war, hatte es ordentlich Prügel gesetzt.
Immerhin hatte Alfreds Urgroßvater dieses Haus mit seinen bloßen Händen erbaut und sein Großvater hatte es zusammen mit seinem Vater damals komplett renoviert, als Alfred noch nicht einmal geboren gewesen war.
Ein wundervolles Erbstück also, auf das Kurt nichts kommen ließ, auch wenn die obere Etage kaum noch begehbar und eher zu einem erweiterten Speicher verkommen war.
Alfred konnte sich noch gut an vieles entsinnen, das er eigentlich längst hatte vergessen wollen, wohingegen so zahlreiche wunderschöne Erinnerungen schon beinahe mit der Zeit verblasst waren. Aber damit wollte er sich nun wirklich nicht beschäftigen, darum stand er doch auf und schob die Vorhänge zur Seite.
Nachdem er sich kurz über die Fensterbank gelehnt und seinem Vater zugerufen hatte, dass der faule Hornochse ja gleich da sein würde, fiel sein Blick auf das Nachtkästchen neben dem Bett.
Da lag noch dieser kleine ominöse Zettel, komplett zerknickt, aber mit einer unmissverständlichen Botschaft darauf.
Zwar war neben einer Zahlenreihe kein einziges Wort darauf geschrieben, aber doch konnte Alfred im Zusammenhang die Nachricht verstehen. Es war mitnichten lediglich eine Information auf einer solchen Ebene.
Es war eine Aufforderung, zu seinem eigenen Wort zu stehen.
Und so sehr er auch versucht hatte, das alles zu verdrängen, kam nun doch wieder eine fast an Angst grenzende Nervosität in ihm hoch.
Vielleicht sollte er sich selbst einmal darüber im Klaren werden, was er eigentlich wollte, bevor er weitere Schritte in die Wege leitete, ohne darüber nachzudenken. Er hatte sich viel zu sehr dem Lauf der Dinge hingegeben und einfach nur getan, was sich in den entsprechenden Momenten richtig angefühlt hatte.
Nun würde er die Konsequenzen dieses unbedachten Handelns tragen müssen.
Während er noch darüber sinnierte, wie er überhaupt in diese Situation hatte kommen können und während er sich noch fragte, ob der Innenraum des Autos noch immer so betörend nach Lavendel duftete wie am Tag zuvor, fiel ihm ein, dass er sich nun wohl besser anziehen und im Garten nützlich machen sollte.
Kurt Wunderlich hatte anscheinend beschlossen, dass der Tag des Konzerts auch zufälligerweise genau der Tag war, an dem der gesamte Garten umgegraben und für Frühling und Sommer vorbereitet werden musste.
Es war wärmer als die letzten Tage zuvor und Alfred kam gehörig ins Schwitzen, war er diese Art von Anstrengung doch überhaupt nicht mehr gewohnt.
Erst insgesamt geschlagene drei Stunden später stieg er letztendlich aus der Dusche, suchte einigermaßen ordentliche Kleidung aus dem zum Großteil mit seinen eigenen Sachen gefüllten Schrank im Gästezimmer und schlich sich an seinem kreuzworträtselnden Vater vorbei zum Telefon.
„Mit wem hast’s denn so wichtig?“, wollte Kurt wissen, ohne aufzublicken.
Alfred schwieg und versteckte den kleinen Zettel in der Faust.
„Mhm?“, machte er dann unsicher.
„Hast hier überhaupt die Nummer von der Renate dabei?“, fragte Kurt.
„Mhm“, machte Alfred.
„Oder wohin willst anrufen?“, fragte Kurt weiter, „Mit unserem Tarif ist Deutschland immer noch teuer, also fasse dich kurz!“
Alfred verdrehte die Augen.
„Ich habe mitnichten vor, dir mit einem Telefonat nach Berlin das Geld aus der Tasche zu ziehen, Vater“, versuchte er sich zu erklären, „Des weiteren bin ich der festen Überzeugung, dass ich alt genug bin, um ohne deine Aufsicht zu telefonieren!“
Die Zeitschrift raschelte, als Kurt sie zur Seite legte und sich zu ihm wandte.
„Ist aber immer noch mein Telefon!“, gab er zu bedenken, „Sag amal, Alfred. Man könnt grad meinen, du bist zur Zeit doch ein bisschen durch den Wind.“
Alfred umklammerte den Zettel in seiner Faust, bis seine Knöchel weiß wurden.
Eigentlich sollte es ihm zu denken geben.
Ja, eigentlich sollte es ihn zur Vernunft rufen, dass er seinem Vater nicht einfach mit reinem Gewissen sagen konnte: Hör zu, ich gehe mit dem Herrn Kapellmeister frühstücken! - ohne dass es Fragen aufwerfen würde.
Und irgendwie war es auch ernüchternd, sich vorzustellen, wie sein Vater wohl darauf reagieren würde, wenn er schon sowas zu hören bekam, nur weil er überhaupt einmal das Telefon benutzen wollte.
Vielleicht wäre es ja auch gar nicht mal so schlimm für ihn gewesen, wenn sein Sohn mit dem Herrn Kapellmeister vom Beethovengang gefrühstückt hätte. Vielleicht hätte er sich gar gefreut, dass Alfred es geschafft hatte, seine sozialen Kontakte über die Arbeitszeit hinaus auszudehnen.
Aber vielleicht war da eben noch etwas anderes, tief in Alfred drin, was die Sache zumindest in seiner eigenen Wahrnehmung erheblich erschweren würde.
Womöglich würde Kurt sich freuen, wenn er mit einem Arbeitskollegen – oder streng genommen sogar seinem Vorgesetzten – etwas essen ging. Am Ende würde er nur einen Kommentar über den verschwenderischen Umgang mit Geld und Alfreds seiner Meinung nach aus der Kontrolle geratene Figur verlieren, nicht aber über das betreffende Gegenüber.
Der entscheidende Punkt war, dass es sich für Alfred in diesem eben nicht so anfühlte, als träfe er sich mit einer beliebigen Person zum Frühstück.
Es fühlte sich an, als würde er mit einem Mann ausgehen.
Und auch wenn sein Vater das nicht einmal wissen konnte, hielt es ihn doch davon ab, einfach den Hörer in die Hand zu nehmen und die Nummer zu wählen. Denn das war ja eigentlich nicht, was er damit unterschwellig ausdrücken wollte. Oder?
Als Kurt nach einer schweigsamen halben Stunde gemeinsamen Fernsehens aber leise zu schnarchen begann und sein Kopf immer wieder von seiner aufgestützten Hand rutschte und gegen die Rückenlehne des Sofas fiel, witterte Alfred die Chance, seine Entscheidung gegen ein Treffen noch einmal umzuwerfen.
Auf leisen Sohlen stand er auf und wählte mit zitternden Fingern die Nummer.
Dreimal überprüfte er, ob er sie auch wirklich richtig eingegeben hatte.
Alfred hielt die Luft an, um nicht husten zu müssen.
Das Freizeichen dröhnte unzählige Male ohrenbetäubend laut durch das gesamte Haus, aber vielleicht kam es ihm auch nur so vor, denn sein Vater schlief unbeirrt weiter und dann hörte es schlagartig auf.
Alfred war, als würde er keine Luft mehr bekommen.
„Ottesen“, meldete sich eine bekannte Stimme leicht durch die Leitung verzerrt, aber eindeutig unverkennbar.
Alfreds Herz klopfte bis zum Hals und er bekam kein Wort heraus.
„Hier Ottesen, mit wem spreche ich bitte?“, fragte es aus dem Hörer.
„Ähm. Ja, hier Wunderlich! Einen schönen guten Tag“, entfuhr es ihm hastig und fast so geschäftlich, als würde er auf dem Amt anrufen.
Alfred verfluchte sich im Stillen, denn am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Schweigen.
„Alfred?“, fragte es dann aus dem Hörer.
„J-ja, genau der!“, sagte er schnell und fühlte sich erbärmlich.
Er wusste nicht, wie lange es wieder still war, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, ehe er es schaffte, weiterzusprechen.
„Ich dachte- also, ich wollte fragen- Ähm“, er räusperte sich und sandte Stoßgebete zum Himmel, „Es ist bereits nach Mittag, aber ich bin mir sicher, am Wochenende bekommt man um diese Zeit sicherlich doch noch ein Frühstück serviert.“
Es dauerte wieder eine ganze Weile, bis er eine Antwort bekam.
Und wenn er sich nicht ganz täuschte, war diese Antwort ebenso unbeholfen, wie Alfred sich gerade selbst bei diesem Telefonat fühlte.
„Frühstück. Ah. Nun, also- Sehr gern. Ich meine- Ja, gern“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die in diesem Fall gar keine mehr war, sondern ein sehr neumodisches Telefon ohne jegliche Schnur.
Kurz herrschte vollkommene Stille.
„Wann- ich meine wo- also“, hörte er dann, „Wir könnten- also ich meine, ich könnte zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Stelle sein.“
Er fühlte sich ertappt, als sich sein Vater auf dem Sofa regte.
„Alfred?“, fragte Kurt.
„Am Schwedenplatz“, sagte Alfred hastig mit leicht gedämpfter Stimme, „Das Motto am Fluss. Wir sehen uns! Ich- Ich freue mich!“
Und kurz bevor er den Hörer im Affekt fast schon hektisch ohne ein weiteres Wort auf die Gabel knallte, hörte er noch eine kleine aber entscheidende Frage, die sein Herz komplett in die Hose rutschen ließ:
„Und wann?“