Draußen in der Eingangshalle herrschte ein wahres Aufkommen an Menschen, die scheinbar noch lange nicht vorhatten, nach Hause zu gehen.
Viele standen mit ihren Getränken noch in Grüppchen beisammen und der allgemeine Geräuschpegel übertraf gut und gern so einige Passagen des Konzerts zuvor. Dass Erwin Gebauer allen voran in Richtung Bar stolzierte und nicht viel dazu gefehlt hätte, dass er mit den Ellenbogen einen Keil in die Menschenmasse trieb, kam Darius da fast gelegen.
Er ließ sich aus der kleinen Versammlung der verbliebenen Musiker einige Schritte zurückfallen und bedeutete Alfred, der sich mit fragendem Blick zu ihm drehte, dass er nachkommen würde.
Immerhin hatte er im Getümmel der Leute gerade zumindest Nina entdeckt, die sofort auf ihn zustürmte und mit einer wahrhaft grenzwertigen Umarmungsattacke sämtliche Luft aus seinen Lungen presste.
„Onkel Darius!“, brüllte sie dabei geradezu in sein Ohr.
Der kleine Wirbelwind mochte zwar an diesem Abend mit Rock und Bluse wie eine junge Dame gekleidet sein, verhielt sich aber doch immer noch wie das unsagbar verzogene Gör, das sie in seinen Augen wohl stets bleiben würde.
Trotzdem konnte nichts ihm diese überaus ausgelassene Stimmung nehmen, so tätschelte er nur kurz hilflos ihren Rücken, bis sie ihn wieder freigab und sah sie dann mit einem fast schon ergebenen Lächeln an.
„Hat es dir gefallen?“, wollte er wissen und sie nickte heftig.
„Ja, und wie!“, sagte Nina begeistert, „Ein supertolles Konzert!“
Darius schmunzelte, während er sich möglichst unauffällig nach Theresa und Ferdinand umsah, damit sie ihm den kleinen Quälgeist schnell wieder abnehmen konnten. Immerhin wollte er sich ja noch zu den anderen gesellen.
Nina tippte ihn aber an der Schulter, sodass er sie wieder ansehen musste.
Einen Moment lang hatte er Angst, dass sie ihm nun klar machen wollte, dass sie auf die Toilette musste und er ihr helfen sollte, aber dann fiel ihm auf, dass sie das glücklicherweise in diesem Alter sicherlich schon selbst auf die Reihe bekam.
Stattdessen war ihr allerdings wohl etwas anderes eingefallen.
„Wobei ich wirklich sagen muss, dass mir vor allem die Interpretation der Serenade zu Anfang recht abenteuerlich vorkam. Im Vergleich zu anderen, die ich bereits gehört habe, habe ich aber sehr schnell Gefallen an deiner Version gefunden!“, strahlte sie ihn an und Darius blieb für einen Moment die Luft weg.
„Du hast dich damit schon einmal befasst?“, fragte er wie vom Donner gerührt.
Nina lachte, „Na logisch! Das Stück gehört doch wirklich zu denen, die so übertrieben oft gespielt werden, dass man es in den meisten Fällen gar nicht mehr hören will, weil es einem einfach zum Hals raushängt!“
Darius starrte sie einige Momente einfach nur an.
„Gehst du oft auf Konzerte?“, fragte er verwundert.
„Leider nicht“, meinte sie grinsend, „Papa sagt immer, dass ich so spät nicht allein weg darf – und er will ja nie mitkommen. Aber ich hör halt einfach viel Musik, da kriegt man auch einiges mit!“
Die Vermutung, dass schon allein durch die gemeinsame Zeit einen ähnlich miesen Musikgeschmack hatte wie ihr Vater, war auf der Hand gelegen. Dass er damit aber scheinbar nicht nur komplett falsch lag, sondern seine Nichte auch intellektuell unterschätzt hatte, machte Darius beinahe schon verlegen.
Als er über einige Köpfe hinweg einen gut gelaunten Alfred erblickte, der ihm mit zwei vollen Gläsern in den Händen klar zu machen versuchte, dass er doch bitte herkommen sollte, bereute Darius es fast, nicht mehr Zeit für eine tiefer gehende Unterhaltung mit Nina zur Verfügung zu haben.
Innerlich verfluchte er sich selbst, während er Ausschau nach Theresa hielt.
„Wo hast du denn deine Tante gelassen?“, fragte er Nina.
„Ach“, meinte diese schulterzuckend und deutete auf einen der kleinen Beistelltische nah an der Tür zum Konzertsaal, „Die steht da drüben nur mit Onkel Ferdinand und irgendwelchen anderen Leuten rum, das war mir zu langweilig.“
Darius legte kurz seine Hand auf ihre Schulter.
„Wir reden ein anderes Mal“, entschuldigte er sich hastig, „Geh am besten wieder zu den beiden, damit sie nicht nach dir suchen müssen. Ich hab leider noch ein bisschen zu tun – Es freut mich aber sehr, dass es dir gefallen hat! Danke, dass du gekommen bist.“
„Aber klar doch“, rief Nina ihm grinsend hinterher, „Bis später dann!“
Kurz fragte er sich noch, ob es wirklich angebracht war, dass sie anscheinend noch bleiben würde, anstatt zu Bett zu gehen. Dann beschloss er aber, dass es in diesem Fall Theresas Problem war, immerhin war sie heute dafür zuständig, dass Nina irgendwann noch zum schlafen kam.
Darius hingegen machte, dass er zurück zu den verbliebenen Musikern kam, die alle schon mit einem Glas Sekt in der Hand auf ihn warteten.
„Ihr wollt mich umbringen!“, scherzte er lachend, als Alfred ihm ein weiteres Glas überreichte, das wohl für ihn bestimmt war.
Dieser hob besorgt eine Augenbraue, aber Darius winkte mit einem Lächeln ab.
Jasper lachte und Erwin Gebauer hob feierlich sein Glas an.
„Nun, lasst uns anstoßen“, begann er eine kleine Rede, „Auf ein sehr gelungenes Konzert – und auf unseren Herrn Maestro, dem wir natürlich viel Glück wünschen, dass er uns nach der Abstimmung noch erhalten bleibt!“
Alle lachten. Nur Darius wurde etwas mulmig zumute, denn dieses Detail hatte er beinahe komplett aus seinem Bewusstsein verdrängt.
Dass Gebauer es auf diese Weise erwähnte, ließ ihn selbst nach diesem Auftritt doch unsicher werden. Natürlich hatte der Mann oft eine sehr seltsame Art von Humor, mit der Darius nicht viel anfangen konnte, irgendwo steckte aber sicherlich doch Wahrheit dahinter.
Als dann allerdings die Gläser klirrten, hatte er die Zweifel längst wieder erfolgreich zur Seite geschoben. Und wenn das sein erstes und einziges Konzert mit diesem Orchester gewesen sein sollte, dann konnte er daran sowieso nichts mehr ändern.
Jetzt wollte er nur genießen, dass alles trotz diverser Umstände noch geklappt hatte, und diesen Abend in netter Gesellschaft gemütlich ausklingen lassen.
„Dass du dich nicht schämst, deinen alten Herrn hier verdursten zu lassen, während du den Mund nicht voll genug kriegst!“, mischte sich die scherzend empörte Stimme einer weiteren Person in den kleinen Umtrunk und Alfred verschluckte sich fast an seinem Sekt.
„Allerdings hab ich durchaus nichts zu meckern, was euren Potpourri da anging. Ich frag mich zwar, was das wieder für neue Moden sind, als könne man sich nicht entscheiden – Aber mir soll’s ja recht sein!“, gab Kurt Wunderlich ungefragt eine kurze, durchaus kritische Rezension zum Konzert zum besten.
„Herr Wunderlich!“, begrüßte Darius den Senior äußerst erfreut und bemerkte erst zu spät, dass er mit dieser Reaktionsgeschwindigkeit beinahe schon etwas überschwänglich wirken musste, „Trinken Sie doch ein Glas mit uns!“
Jasper gluckste amüsiert, Erwin Gebauer warf ihm einen grinsenden Seitenblick zu, nur der Sohn des seinerzeit weltberühmten Star-Baritons schien so gar nicht mit der Freude auf dessen plötzliches Erscheinen übereinzustimmen.
Alfred hustete verhalten und sah aus, als wolle er auf der Stelle im Erdboden versinken, „Wie du gerade siehst, bin ich noch nicht dazu gekommen, dich als überaus exklusiven Ehrengast zu begrüßen. Wir hatten hier noch ein paar interne Dinge zu besprechen, also-“
„Nun ja, eigentlich ging es nur darum, dass wir uns gemeinsam betrinken. Da kann man immer Gesellschaft brauchen!“, Erwin Gebauer unterbrach ihn grinsend und Darius fühlte sich beinahe schon lächerlich offiziell damit, dass er Kurt Wunderlich einen Händedruck anbot, den dieser natürlich nicht ausschlug.
„Der Herr Kapellmeister vom Beethovengang!“, meinte er mit einem gutmütigen Augenzwinkern, „Spekulieren Sie auf eine Autofahrt nach Hause? Ich höre mich auf eine Einladung zum Sekt hin allerdings keineswegs Nein sagen.“
„Oh Vater“, stöhnte Alfred, dem diese Situation sichtlich peinlich schien.
„Sag amal, Alfred“, der Herr Wunderlich senior schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen, „Magst dich nicht mit deinen werten Kollegen hier noch zu uns gesellen? Wir hatten auch keine anderen Pläne, also wäre eine große Runde doch sicherlich sehr nett an solch einem schönen Abend!“
Alfred schien zu zögern, „Warum habe ich eine dumpfe Ahnung, was du in diesem Fall mit dem Wörtchen ‚Wir‘ meinen könntest?“
„Stell dich amal nicht so an“, meinte Kurt, „Wir haben immerhin allesamt was zu feiern und sollten darauf anstoßen!“
Wo auch immer Gebauer so schnell ein weiteres gefülltes Glas her bekommen hatte, war Darius schleierhaft, aber er reichte es grinsend an Kurt Wunderlich weiter, der es feierlich erhob.
„Worauf ihr trinken wollt, ist mir relativ – Ich trinke auf meinen Sohn Alfred, auf den ich sehr stolz bin!“, meinte er und Darius fragte sich für einen Moment, ob er vielleicht nicht schon vorher ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte.
Eigentlich war es ja sicherlich sehr liebevoll gemeint, aber Alfreds Reaktion auf diesen unüblichen Trinkspruch verriet, dass er sich eher bloßgestellt fühlte, von seinem Vater auf diese Weise unter Kollegen behandelt zu werden.
„Auf Alfred!“, fiel zu allem Überfluss auch noch Erwin Gebauer fast schon gehässig mit ein und selbst Jasper stimmte ihm zu, auch wenn er um einiges ehrlicher dabei klang, „Ja, auf Alfred!“
Der Angesprochene schüttelte nur resigniert den Kopf und prustete vor Lachen, als Darius sein Glas zu in seine Richtung neigte, um wortlos nach einer Erlaubnis zu bitten, dem allgemeinen Ruf folgen zu dürfen.
„Mir ist ehrlich gesagt auch vollkommen gleich, worauf ihr trinken wollt“, meinte er nun doch etwas ausgelassener, wenngleich auch immer noch verlegen und krebsrot im Gesicht, „Ich trinke auf die Hoffnung, dass wir diesen Abend morgen nicht alle längst wieder vergessen haben!“
Erwin Gebauer zuckte mit den Schultern, „Nun ja, die Hoffnung stirbt zuletzt!“
„Auf Alfred und seine wunderbaren Trinksprüche!“, sagte Kurt nun und lachte, „Und darauf, dass wir’s ja eh ständig über die Arbeit haben, er es aber dennoch nicht für nötig hielt, mir von seiner Beförderung zu erzählen!“
Kurz sah Alfred zu Darius, der sich absichtlich noch nicht geäußert hatte, sondern nur lächelnd mit den Schultern zuckte.
„Ich sehe, wir sind überstimmt“, meinte er noch immer etwas überschwänglich durch die ausgelassene Stimmung, als bereits die Gläser der anderen klirrten, weil sie es scheinbar nicht abwarten konnten.
Alfred seufzte, schmunzelte aber und hielt Darius das Glas entgegen.
„Und worauf trinken wir?“, fragte er ihn mit einem Blick in seine Augen, der Darius fast den Atem nahm und sein Herz so aufgeregt hüpfen ließ, dass es ihm schwer fiel, sich etwas Lustiges auszudenken, um Alfred zum Lachen zu bringen.
Stattdessen schloss er sich wohl oder übel dem allgemeinen Konsens an und sprach, noch bevor er seine Worte ein weiteres Mal überdenken konnte.
„Auf dich, Alfred“, Darius hob sein Glas mit einem warmen Lächeln, das ihm allerdings sofort auf dem Gesicht gefror, als er seine eigene Stimme hörte und sein Herz diesmal fast ängstlich zu rasen begann.
Wie außerordentlich peinlich – Was fiel ihm eigentlich ein? Er konnte ihn doch nicht einfach ungefragt duzen. Egal wie sehr ihm im Grunde danach war, hätte er doch zumindest fragen können, aber Alfred blieb entweder souverän oder hatte gar nichts dagegen einzuwenden.
„Wenn das so ist-“, begann er nämlich und erst jetzt bemerkte Darius, dass er nicht nur noch stärker errötete, sondern auch ein lebendiger Glanz in Alfreds Augen lag, der so viel Freude ausstrahlte, „In diesem Fall bestehe ich allerdings darauf, dass wir danach noch auf dich anstoßen, Darius!“
Darius fühle sich mit einem Mal so überglücklich, dass er einfach nur über das ganze Gesicht strahlen musste und kurze Zeit absolut keine Worte fand.
„Ich schlage einen Kompromiss vor“, meinte er dann sanft und Alfred hob eine Augenbraue, schien jedoch zu verstehen.
Die anderen nahmen keine Notiz von diesem kleinen, leisen Moment der Intimität, in dem Alfred mit einem so glücklichen Lächeln sein Glas hob.
„Auf uns!“
Ihre Gläser klirrten so leise, dass es sich beinahe im allgemeinen Tumult der Umstehenden verlor. Kurt, Erwin und Jasper scherzten schon wieder miteinander und schienen die beiden gar nicht mehr wirklich zu beachten.
Für Darius gab es gerade sowieso nur noch Alfred.