Montag Morgen. Die Uhrzeit blinzelte ihm fast entschuldigend vom Wecker neben dem Bett entgegen. Fünf in der Früh.
Zum ersten Mal seit Jahren zog Alfred Wunderlich wieder in Erwägung, nicht zur Arbeit zu gehen, sondern sich krank zu melden. Es wäre nicht einmal gelogen, wenn er dem Arzt erzählen würde, er fühle sich miserabel.
Alfred konnte sich gut erinnern, wann es ihm das letzte Mal so mies gegangen war, doch den Gedanken verwarf er wieder. Liebeskummer und ein Lungenkarzinom waren zwei vollkommen unterschiedliche Dinge und nur eines davon rechtfertigte, nicht wie jeden Tag aufzustehen, selbst wenn man die ganze Nacht quasi im Bett gestanden war.
Das Gästezimmer in seinem Elternhaus war frisch renoviert, doch die neue Wand half selbstverständlich nicht gegen die Alpträume. Er hatte noch gehofft, dass er durch diese Aktion mit der Vergangenheit abschließen konnte, aber es half nichts. Nachts quälte ihn Onkel Ralf. Und sobald er wach war, quälte ihn Darius Ottesen – oder besser gesagt: dessen Abwesenheit in seinem Leben.
Es war oft vorgekommen, dass er schlecht schlief, wenn er schlecht träumte.
Es war sehr oft vorgekommen, dass er schreiend aus diesen Träumen erwachte, komplett durchgeschwitzt und panisch. Doch nach einer danach endlich etwas ruhigeren Schlafphase noch vor dem Weckerklingeln aufzuwachen und das Gefühl zu haben, dass eine unsichtbare Hand sein Herz gepackt hatte und es ihm aus der Brust reißen wollte, das kannte er nicht.
Alfred hustete und wälzte sich auf die andere Seite. Er starrte gegen die Wand, keuchte, hustete und hustete und dann musste er weinen.
Es war nicht fair. Zum ersten Mal seit Jahren hatte Alfred das Gefühl gehabt, dass seine Existenz wieder einen Sinn hatte. Vielleicht hatte er niemals zuvor mit so viel Hoffnung in die Zukunft gesehen, womöglich war er nie in seinem Leben so hoch geflogen und im nächsten Moment so tief gefallen.
Seine gesamte Brust schmerzte und er konnte schon gar nicht mehr lokalisieren, ob es sein Herz oder seine Lunge oder gar beides war.
Sein Körper fühlte sich tonnenschwer an, er konnte sich kaum mehr rühren und schloss die Augen, scheiterte daran, sich wieder auf die andere Seite zu drehen, hustete sich die Seele aus dem Leib und heulte Rotz und Wasser.
Es half alles nichts. Diesmal wirkte die Anzeige auf dem Wecker beinahe höhnisch, als sie ihm nach einer gefühlten Ewigkeit verriet, dass lediglich eine halbe Stunde vergangen war. Alfred wollte sich aufrichten, Kaffee kochen, seinen Vater aufwecken, fernsehen, irgendetwas – doch er sank erschöpft zurück ins Kissen und schluchzte kläglich.
Nach einer weiteren Unendlichkeit war ihm, als würde er gedanklich wieder in einen leichten Schlaf abdriften und sofort schreckte er panisch auf.
Nein. Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Er ertrug das nicht mehr. Er musste aufstehen, er kam mit diesen grausamen Träumen einfach nicht mehr klar.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich aus dem Bett bewegen konnte.
Alfred schlurfte ins Wohnzimmer und ließ sich kraftlos aufs Sofa fallen. Seltsam, dachte er noch, während er über das Lederpolster strich. Meist waren die Träume in seinem ehemaligen Kinderzimmer am schlimmsten.
Zuhause hatte er sie auch oft, doch daran, dass er auf Sofa eingeschlafen und so schlecht geträumt hatte, konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht sollte er es aber dennoch nicht darauf ankommen lassen.
Gegen neun schreckte er aus dem Schlaf hoch, weil sein Vater ihn fragte, ob er noch ganz bei Trost war und was das denn jetzt für neue Moden waren.
Alfred musste sich sammeln. Es dauerte zwei Tassen Kaffee und eine Dusche lang, bis er einigermaßen zu sich gekommen war. Im Spiegel sah ihm ein trauriger, unendlich alt und erschöpft wirkender Mann entgegen, den er kaum mehr erkannte.
„Ich fahre heute mit der Bahn“, ließ er seinen Vater wissen, als dieser noch am Frühstückstisch die Tageszeitung las.
„Wann bist wieder da?“, fragte dieser fast abwesend.
Alfred schnaufte, „Morgen- spätestens übermorgen!“
Kurt Wunderlich legte die Zeitung auf den Tisch und sah ihn prüfend an.
„Wann hast du Feierabend?“, fragte er diesmal.
Alfred schnaubte verärgert, „So wie immer. Danach werde ich nach Hause gehen, die Wohnung grundreinigen, all meine Sachen packen und dann miete ich einen kleinen Transporter, um wieder bei dir einzuziehen! Das ist es doch sicher, was du damit sagen willst?“
„Jetzt werd amal nicht gleich blöd!“, meinte Kurt, „Ich hätte nichts dagegen, aber das ist deine Entscheidung. Wenn du meinst, dass du unbedingt allein in einer leeren Wohnung sitzen und Trübsal blasen musst, werd ich das auch tun. Und ich meinte ja nicht für immer, sondern nur ein paar Tage.“
Alfred schloss für einen Moment die Augen.
Eigentlich klang die Option gar nicht einmal so schlecht, einen Koffer zu packen und sich für einige Zeit hier einzuquartieren. Er würde sich hier zumindest soweit aufraffen müssen, dass er nicht verwahrlosen würde, hätte Gesellschaft und die Sicherheit, dass ihn jemand wecken würde, wenn er verschlief.
Die Frage war bloß, würde er jemals wieder hier wegkommen, wenn er einmal da war? Würde es nicht die ganze Sache mit seinem Vater noch viel komplizierter machen als sie ohnehin schon war?
Während er noch erörterte, stand seine Entscheidung längst fest.
„Würde es dir denn etwas ausmachen, mich vielleicht eine gute Stunde nach der Arbeit in der Wohnung abzuholen, damit ich noch meine sieben Sachen zusammenpacken kann?“, fragte er vorsichtig.
Kurt rollte mit den Augen.
„Wusst ich’s doch“, meinte er nur, dann schlug er vor, „Rufst mich einfach an, du hast doch jetzt dieses Telefon!“
Alfred wusste nicht, ob es ein plötzlicher Anflug von Tatendrang oder doch nur ein Fluchtreflex war, der ihn dazu brachte, gleich die nächste Bahn zu nehmen, nachdem er sich im Badezimmer in einen Menschen verwandelt hatte. Tatsache war, dass er zu früh an der Oper ankam und nun nicht wusste, was er bis zum Beginn der Arbeitszeit tun sollte.
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, die Sonne wärmte mittlerweile beachtlich und auf jeden Fall war es besser, draußen im Hof auf der Brunnenmauer zu sitzen als sich noch mehr gut gemeinte Ratschläge seines Vaters anhören zu müssen. Bis darauf, dass ihn einfach alles hier an Darius erinnerte.
Mehrmals überprüfte Alfred mit einem Griff in die Jackentasche, dass er das Telefon dabei hatte. Jedes Mal hielt er sich selbst erfolgreich davon ab, es zur Hand zu nehmen und eine weitere Nachricht zu schreiben, auf die niemals eine Antwort kommen würde.
Was hatte er gedacht? Dass er wirklich eine Chance darauf hatte, einem so heiß begehrten und viel gefragten Mann wie Darius Ottesen mehr zu bedeuten als es ein großer, gutaussehender Mann mit scharfkantigen Zügen und einer äußerst prägnanten Art zu Sprechen tat, den er ihm gegenüber wirklich nie erwähnt hatte?
Dieser Dahl hatte recht. Alfred kam sich vor wie ein abgehalfterter Rosenkavalier und er hatte diese Worte noch ebenso gut in Erinnerung wie den Rest der letzten Wochen. Alles, was Darius im Krankenhaus gesagt hatte.
Das Telefonat passte nicht ins Bild, denn streng genommen hatte Darius zuerst angerufen und er sich nur zurückgemeldet. Ob es dafür eine Erklärung gab, würde Alfred wohl nie herausfinden, denn Darius hatte seinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht und wieder einmal fiel Alfred auf, dass er ihn eigentlich nicht kannte.
Nicht halb so gut wie er es sich teilweise eingebildet hatte.
Vielleicht hoffte er halbherzig, dass Theresa Berentz gleich um die Ecke biegen und sich zu ihm gesellen würde. Vielleicht wünschte er sich, dass Erwin und Jasper ausgerechnet heute ebenfalls früher da waren.
Letzten Endes schaffte er es doch nicht, dem Drang zu widerstehen, das Telefon aus der Tasche zu ziehen. Während er es mit zittrigen Händen anschaltete, verfluchte er sich selbst dafür, dass er sich schon so viele Worte zurechtgelegt hatte, dass es für eine weitere ewig lange Nachricht ausreichen würde.
Mit der Bedienung der winzig kleinen Tasten kam er mittlerweile erstaunlich gut zurecht, auch wenn er vieles ausbessern musste und eine halbe Ewigkeit für einen Satz brauchte. Er wollte ja gar keine Antwort. Es reichte vollkommen, dass Darius die Worte lesen würde – das redete er sich zumindest ein.
Gerade als Alfred schon das Nachrichtenfenster offen hatte und den einzigen Namen wählte, der dort angezeigt wurde, summte das Telefon und er erschrak so sehr, dass es ihm fast auf den Boden fiel.
Mit klopfendem Herzen entdeckte er, dass eine neue Nachricht eingetroffen war. Der Zeitstempel verriet ihm gar, dass dieser Text bereits heute Nacht abgesendet worden war und diesmal verfluchte sich Alfred dafür, dass er das Telefon abgeschaltet hatte. Wie viele Tränen und wie viel Leid hätte er sich erspart?
Lieber Alfred, hatte Darius geschrieben und Alfred musste mehrfach blinzeln, damit er die Buchstaben überhaupt erkennen konnte.
Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll und jetzt, da ich diese Nachricht schreibe, komme ich mir idiotisch vor, denn ich hätte mich schon viel früher melden sollen.
Vielleicht ist es längst zu spät für diese Worte, vielleicht sind Worte im Allgemeinen sehr viel weniger wert als Taten, doch es ist zwei Uhr in der Früh, ich kann wieder nicht schlafen und denke nur an dich. Ich vermisse dich und verzweifle daran, dass ich es war, der dich von sich gestoßen hat, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünsche, als mit dir zusammen zu sein. Es tut mir leid.
Ich wollte dir sehr viel Schmerz ersparen, indem ich dich auf diese Art und Weise verletze und jetzt, da ich das schreibe, erschließt sich mir die grenzenlose Idiotie dieser Logik. Es tut mir unendlich leid und mir ist bewusst, dass auch eine Entschuldigung dies nicht wieder gut machen kann.
Wenn du mich noch nicht aufgegeben hast, wenn du mir noch eine Chance einräumen kannst und wenn du es nicht langsam leid bist, dich mit mir auseinanderzusetzen, lass es mich wissen. Ich kann nicht versprechen, dass ich alles wieder gut machen kann und ich kann nicht garantieren, ein besserer Mensch zu werden.
Doch ich will endlich ehrlich sein und meine Geheimnisse aufgeben, um dir zu zeigen, wie viel du mir bedeutest. Du bist mir wichtig, Alfred.
Ich wollte nie, dass du wirklich auf mich warten musst, bis ich mich entschieden habe, doch wenn es noch nicht zu spät ist, würde ich dich gern sehen, um dir alles zu erklären. Ich werde versuchen, all deine Fragen zu beantworten, all deine Zweifel explizit entweder auszuräumen oder zu bestätigen, dir die Unsicherheit zu nehmen und dich wissen zu lassen, woran du bist.
Wenn du es möchtest, triff mich um neunzehn Uhr. Ich werde warten.
Unter Tränen musste Alfred lächeln, denn er verstand.
Diesmal hatten sie tatsächlich nur ein „Wann“, sodass sich das „Wo“ aus dem Zusammenhang ergab. Trotz des bitteren Beigeschmacks von Darius‘ fast resigniert klingender Entschuldigung und dem Fehlen irgendeiner Gewissheit, dass diese Aussprache mit der Chance auf eine Zukunft enden würde, konnte Alfred sein Glück kaum fassen.
„Schlechte Neuigkeiten?“, fragte plötzlich eine Stimme aus dem Nichts und erst als Alfred erschrocken zusammenfuhr, fiel ihm wieder ein, dass er mitten im Hof auf der Brunnenmauer saß und sich mitnichten in einer Parallelwelt befand.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie bescheuert es wirken musste, gut sichtbar für alle Vorbeikommenden heulend auf sein Telefon zu starren. Davon abgesehen, dass er nicht gedacht hatte, Gesellschaft zu bekommen, hatte er weder Schritte noch sonstige Anzeichen einer weiteren Person in seiner Nähe aufgeschnappt.
Umso überraschter war er nun, als er den Kopf hob und Renate erblickte.
„Nein“, antwortete Alfred noch ganz benommen,, „Überhaupt nicht, im Gegenteil- also, ich meine- Alles in Ordnung.“
„Das freut mich“, meinte Renate und es fiel Alfred schwer, in ihrer ihm so fremd gewordenen Mimik zu erkennen, ob sie es nur so dahinsagte oder nicht.
Er rang sich ein Lächeln ab und war im Begriff, sich wieder zu fangen, um sich zumindest so gut es ging dafür vorzubereiten, dass er die Wartezeit nicht grübelnd absitzen konnte, sondern zuvor ja doch noch ein wenig Violine spielen musste, als sie ihm sämtliche Fassung gleich wieder nahm.
„Du siehst erschöpft aus“, sagte sie, „Wäre ich nicht auf dich angewiesen, würde ich dich sofort wieder nach Hause schicken. Gehe ich recht in der Annahme, dass sich dein ominöser Liebeskummer nicht in Wohlgefallen aufgelöst hat?“
Alfred schnaufte, „Was?“
Renate lächelte amüsiert. Und mit einem Mal wirkte sie doch wieder genau so wie er sie eben kannte.
„Ich sollte es persönlich nehmen, dass du so reserviert bist, aber wir haben uns viel zu lange nicht gesehen“, meinte sie und lachte, „Ich nahm bereits an, ich würde dich in diesem Leben gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wie oft habe ich dich eingeladen? Aber eins muss ich dir lassen, deine Ausreden, warum du nicht nach Berlin reisen kannst, waren von Anfang an immer sehr kreativ!“
Alfred musste schmunzeln.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Vielleicht Feindseligkeit, vielleicht die übliche Professionalität, womöglich am Ende gar, dass betretenes Schweigen herrschen würde, doch dafür war sicherlich alles viel zu lang her und sie hatten es beide sehr viel besser verkraftet, als er gedacht hatte.
Mit einer solch freundschaftlichen Vertrautheit hätte er dennoch nie gerechnet.
Renate zündete sich eine Zigarette an und hielt sie dann wohl bewusst so in der Hand, dass der Rauch nicht in Alfreds Richtung wehte.
„Du bist mir bisher sehr vortrefflich aus dem Weg gegangen, aber das kann ich dir wohl nicht übel nehmen“, meinte sie mit einem kleinen Schmunzeln, dann klang ihre Stimme fast sanft, „Wie geht es dir?“
Alfred lächelte schief, konnte sich der Erleichterung aber nicht erwehren.
„Ähm“, er räusperte sich, „Wenn man in Betracht zieht, dass ich gerade schon wieder wegen dir fast einen Herzinfarkt erlitten habe und die letzten Tage sehr aufwühlend waren, dann lebe ich trotz allem zumindest noch.“
Renate schüttelte lachend den Kopf.
„Ich wusste seit mindestens drei Briefen, dass du sie nicht liest, sondern nur irgendetwas zurückschreibst, um es getan zu haben“, meinte sie fast tadelnd.
Alfred fühlte sich ertappt.
Er suchte nach Worten, um sich zu entschuldigen, aber Renate winkte ab.
„Es ist nicht schlimm, ich habe mich trotz allem gefreut, hin und wieder von dir zu lesen. Hättest du den letzten Brief jedoch auch nur ansatzweise gelesen, wüsstest du, dass ich bald hier sein würde!“, erklärte sie ihm schulterzuckend.
„Mhm“, machte Alfred unsicher und kratzte sich am Kinn.
Der besagte Brief lag noch ungeöffnet zwischen Kontoauszügen und verschiedenen Prospekten, aber das musste Renate ja auch wieder nicht wissen.
„Ein bisschen kryptisch fand ich es ja von Anfang an, dass du dich nie genauer zu deinem sogenannten Plan B geäußert hast. Hätte ich zumindest gewusst, dass du in genau diesem Orchester spielst, hätte ich sicherlich angerufen, um dich zu vorzuwarnen“, scherzte sie dann.
Alfred holte tief Luft, um etwas zu sagen.
Vielleicht wollte er sich herausreden oder irgendein Missverständnis vortäuschen, dass er den Kontakt aber sträflich vernachlässigt hatte, konnte er jedoch nicht leugnen.
„Wie geht es dir?“, fragte er stattdessen, „Ich muss mich wirklich entschuldigen, immerhin hätten wir längst sprechen können.“
Renate lachte, „Mir geht es blendend. Und wie gesagt- ich nehme es dir nicht übel. Ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass man hier nicht redet und mir nichts zu Ohren gekommen wäre, was mich prinzipiell nichts angeht. Du warst sicherlich mit anderen Dingen beschäftigt, das verstehe ich.“
Alfred stieg die Hitze ins Gesicht.
„Ja?“, fragte er unsicher, „Was redet man denn?“
Renate zog an ihrer Zigarette und Alfred spürte ein Kratzen im Hals.
„Ach, ich gebe normalerweise nicht viel auf Gerüchte“, sie zuckte mit den Schultern, „Aber es erschien mir etwas heikel, dich sofort unter vier Augen zu belangen, wenn man sowieso davon spricht, dass du unangebracht viel persönlichen Kontakt mit dem vorherigen Dirigenten des Orchesters pflegtest.“
Alfred schnaubte.
„Nicht dass man am Ende davon spricht, dass ich den Kontakt nach oben suche und es mir gar nicht um die Menschen selbst geht?“, versuchte er sich an einem Scherz, doch es klang bitter, „Ich kann auch nichts dafür, dass es nach Marquardt anscheinend nur Leute hier ans Pult schaffen, die mich persönlich angehen.“
Renate musste lachen.
„Ach, Alfred“, sagte sie fast gütig, „Wenn du dich dann besser fühlst, könnte ich ja so tun, als wäre ich eifersüchtig. Tatsächlich aber würde ich dir ehrlich von Herzen wünschen, dass du diesmal mehr Erfolg darin hast, dein Glück zu finden.“
Kurze Zeit herrschte Stille.
„Ja?“, fragte Alfred und fühlte sich dämlich.
Er räusperte sich.
„Hast du denn in der Zwischenzeit- also, da du ja nicht mich geheiratet hast, hast du stattdessen mittlerweile-“, begann er unsicher, obwohl er es ohnehin nicht übers Herz brachte, den Rest der Frage auszusprechen.
Renate lachte schallend und schüttelte den Kopf.
„Lieber Alfred, du klingst wie ein Teenager“, meinte sie tadelnd, „Ich bin nicht verheiratet, nein, und ich habe es auch nicht vor. Ganz sicher mache ich mein Glück nicht von irgendeinem Mann abhängig. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben und blicke ebenso zuversichtlich auf meine zukünftige Karriere.“
Sie warf den Zigarettenstummel achtlos auf den Boden.
„Auch wenn ich natürlich hoffe, dass ich hier nicht allzu lange bleiben muss, bis ihr euren Dirigenten wieder bekommt- Berentz hat sich sehr unbeliebt gemacht und es würde mich wundern, wenn er nicht gegensteuert, um seinen ohnehin schon angeknacksten Ruf zu retten“, sprach sie den Sachverhalt so nüchtern aus, dass Alfred beinahe kurz vergaß, wie sehr es ihn emotional aufgewühlt hatte, „Aber was Ottesen angeht- der gute Mann soll erst mal zusehen, dass er sein Leben in den Griff bekommt, bevor er in einer Führungsposition tätig ist – meine Meinung.“
Bevor Alfred fragen konnte, erklärte sie schon, wie sie da nun darauf kam.
„Ich hatte bereits Karten für das Konzert in Deutschland. Es war taktisch extrem unklug, es abzusagen. Das ist eure Publicity, es wirft ein schlechtes Licht, das man eigentlich verhindern will“, meinte sie fast beiläufig, „Die Leute reden. Momentan ist da noch eine Art geheimnisvoller Mythos um das Opernorchester, das plötzlich mehr in den Schlagzeilen stand als die zugehörigen Sänger und sich dann rar macht – doch wenn solche Zwischenfälle sich häufen, wird das Mysterium schnell einer Ernüchterung weichen.“
Alfred atmete tief durch.
„Um ehrlich zu sein, habe ich das so nie betrachtet“, machte er seinen Standpunkt deutlich, „Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir irgendeine Strategie verfolgen, um international berühmt zu werden statt unsere Arbeit zu machen. Es ging um einen kleinen Ausflug, nicht darum, die Grenzen unseres Zuständigkeitsbereichs zu sprengen. Und ich bin mir sicher, dass Darius das genauso sieht.“
Renate verdrehte die Augen, als wisse sie mehr als Alfred ahnen konnte.
„Siehst du, Alfred-“, begann sie dann, „Ich schätze dich sehr. Doch dieses Denken wird dich nirgendwo hinbringen. Dass du all deine Ambitionen aufgegeben hast, macht mich traurig. Du kannst von Glück reden, dass die Leute es mit der Krankheit in Verbindung bringen und die zeitlichen Abläufe der Zusammenhänge nicht gut genug kennen.“
Er wollte etwas sagen, doch Renate fuhr fort, ehe er sich äußern konnte.
„Du bist kein Violinist, Alfred. Und das wirst du nie sein. Solange du dich damit zufrieden gibt, was auf der Hand liegt und nicht wagst, was potenziell auch nach hinten losgehen könnte, wirst du niemals zufrieden sein“, ihre Worte schnitten tiefer in Alfreds Herz, als er es erwartet hätte, „Ich verstehe, dass die Krankheit dich extrem ausgebremst hat. Dass du dich danach aber komplett darauf berufst und nicht einmal versucht hast, deine Stimme wieder zu finden, macht es für mich schwer, dich so zu akzeptieren, wie ich dich hier angetroffen habe.“
Sie machte eine Pause, um tief durchzuschnaufen.
„Das bist nicht du, Alfred. Ich erkenne dich kaum wieder“, fasste sie nochmals zusammen, „Und ich kaufe dir nicht ab, dass du damit glücklich bist.“
So vieles lag ihm auf der Zunge. So vieles wollte er noch entgegnen.
Renate aber warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und wandte sich ab.
„Ich muss noch ein paar Dinge vorbereiten. Wir sehen uns zur Probe- lass dir das bitte noch einmal durch den Kopf gehen!“