Jasper Sundström war einer seiner ehemaligen Klassenkameraden in den paar wenigen Jahren seiner Jugend gewesen, in denen er in Wien zur Schule gegangen war. Ein stiller Junge, der den Kontakt zu anderen stets gemieden hatte, weil diese in ihm aufgrund seiner schüchternen Art ein einfaches Opfer gefunden hatten.
Auch wenn Darius selbst nie zu der Sorte Kinder gehört hatte, die immer schnell Anschluss fanden oder sowieso allseits beliebt gewesen waren, war doch Jasper der unbestrittene Außenseiter der Klasse gewesen. Er hatte sogar Darius als diesen seltsamen Typen, der mitten im Schuljahr dazu gestoßen war und damals noch mehr schlecht als recht Deutsch sprach, immer um einiges in Sachen Unbeliebtheit übertrumpft.
Wahrscheinlich war es für die meisten sowieso klar gewesen, dass Darius nicht lange im Klassenverband bleiben würde – und so hatten sie ihre destruktive Energie lieber in das immerwährende Ziel investiert.
Selbst damals hatte Jasper ihm irgendwie leid getan. Und auch wenn Darius einiges an Respekt für ihn schon während der Schulzeit gewonnen hatte, hatte sich nichts daran geändert, dass er vor allem Mitleid empfand, wenn er das virtuose Ausnahmetalent da so eingeschüchtert vor ihm stehen sah.
Mit seinen großen, scheuen Augen und der Körperhaltung, die eine ständige Bereitschaft zur Flucht andeutete, wirkte er gerade, als hätte man ihn erwischt, wie er heimlich das Portrait von Mahler von der Wand stehlen wollen.
Wenn er wirklich allen Ernstes glaubte, dass er sich nun eine Standpauke wegen welcher Sache auch immer anhören musste, würde er sich bei Darius‘ alsbald Worten wohl ein bisschen entspannen können.
„Guten Morgen, Herr Sundström!“, begrüßte er ihn, nachdem er sich von seinem eigenen anfänglichen Schock erholt, die Jacke zur Garderobe gebracht und den Koffer neben das Pult gehievt hatte.
„Guten Morgen, Herr Ottesen“, die Stimme des so begabten Violinisten klang wie das zaghafte Piepsen einer Maus.
Darius versuchte, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, während er in seinem Aktenkoffer nach den benötigten Unterlagen suchte.
„Wie ich sehe haben Sie es rechtzeitig zur Solo-Probe geschafft!“
Jasper wurde kreidebleich im Gesicht und schnappte nach Luft.
„S-solo-was?“, seine Stimme klang brüchig und eine Terz höher als sonst.
Darius zweifelte einen Moment daran, dass wirklich derselbe Mann vor ihm stand, der damals bei seinen Auftritten ohne mit der Wimper zu zucken die schwierigsten Passagen anspruchsvollster Stücke fast schon mühelos aus dem Ärmel gezaubert hatte.
Nun wirkte eben dieser Mann, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, aber Darius sah ihm weiterhin direkt in die Augen, so sehr er auch ausweichen zu wollen schien.
„Die Kadenz, um genau zu sein“, sagte er nur ruhig, „Ich habe vollstes Vertrauen in Sie, ansonsten würden Sie nicht hier stehen.“
Jasper Sundström schluckte.
Dann nickte er zögerlich, doch er wirkte schon wieder etwas gefasster.
Darius musste sich beherrschen, nicht mit den Augen zu rollen oder sich entnervt die Schläfen zu reiben. Das war anstrengender als gedacht!
Dabei hatte er wirklich geglaubt, er hätte es hier mit gestandenen Berufsmusikern zu tun; nicht mit schüchternen Kindern, die erst ein bisschen ermutigt werden mussten, bevor sie ihr volles Potenzial entfalten konnten.
Aber gerade sah Jasper keinen Deut anders aus als damals zu Schulzeiten, als die Klassenkameraden ihn herumgeschubst, die Schultasche im Papierkorb versteckt und ihn mit seinem eigenen, entwendeten Federmäppchen beworfen hatten. Darius erwischte sich dabei, wie er Mitleid hatte.
Keine gute Voraussetzung für eine berufliche Beziehung auf Augenhöhe, aber er gab sich einen Ruck und trat einen Schritt auf Jasper zu, um ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken.
„Sie schaffen das“, sagte er zuversichtlich und fühlte sich ein bisschen wie im falschen Film.
Die Krönung dieser absurden Situation war nun auch, dass es in seinem Aktenkoffer in deutlicher Lautstärke zu brummen begann. Darius wurde mit einem Mal eiskalt, als ihm der Anruf von Gabriel wieder in den Sinn kam.
Und wer sonst würde ihn während der Arbeitszeit anrufen?
Theresa wusste doch, dass er beschäftigt war.
Was in aller Welt ging da vor sich? Und was dachte sich Gabriel bei dieser Aktion? War es am Ende doch etwas wichtigeres als der bloße Gedanke, dass er sich nach gut und gern fünf Jahren mal wieder melden könnte?
Darius räusperte sich geräuschvoll, um das Summen zu übertönen, aber Jasper reagierte ohnehin nicht darauf. Er schaffte es erst bei dem Räuspern, Darius überhaupt wieder anzusehen.
Dieser war nun mit den Gedanken ganz woanders, konnte sich weitere Ablenkungen aber nicht leisten. Er holte tief Luft und bemühte sich um weitere nette Worte, die Jasper vielleicht ein bisschen aus der Reserve locken würden.
„So wie ich Sie in Erinnerung habe, ist die Probe doch beinahe überflüssig – Sie würden sicherlich auch direkt am Abend des Konzerts einfach die Violine zur Hand nehmen und jede Improvisation, die Ihnen in den Sinn kommen würde, wäre grandios!“
Jasper starrte ihn einfach nur an.
Vielleicht hätte Darius sich doch ein paar Gedanken mehr über seine Ansprache machen sollen. Aber er war noch nicht fertig, sondern holte erneut Luft und unterdrückte das resignierte Seufzen.
„Ich meine damit, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen“, versuchte er es wieder ein bisschen direkter, „Sie kennen das gesamte Stück mittlerweile sicherlich auswendig, Sie wissen bestimmt ganz genau um die Stelle der Kadenz bescheid und ich wette, Sie haben auch jede bislang aufgezeichnete Variation eben dieser Kadenz bereits gehört.“
Keine Reaktion, nur weiteres Starren; so als wäre das scheue Reh direkt ins Scheinwerferlicht des nahenden Linienbus gelaufen und wisse partout nicht wie ihm geschah.
Darius rang nach weiteren Worten und versuchte, Gabriel aus seinen Gedanken komplett zu verbannen. Dorthin, wo er die letzten fünf Jahre gewesen war und vermutlich auch hingehörte.
„Sie müssen es mir auch gar nicht vorspielen. Ich vertraute Ihnen vollkommen, ich möchte lediglich ungefähr wissen, was Sie sich in etwa vorstellen könnten“, machte er dem Violinisten einen Vorschlag für einen Kompromiss.
Nun endlich kam etwas Regung in Jaspers Gesicht. Zuerst schien es, als bemühe er sich um ein kleines Lächeln, dann begannen seine Augen wahrhaft zu strahlen.
„Sie- Sie erinnern sich an mich?“, fragte er jedoch, anstatt endlich seine Geige statt Darius sprechen zu lassen.
Trotzdem musste Darius schmunzeln.
„Selbstverständlich“, sagte er.
Jasper wirkte mit einem Mal fast schon erstaunlich zuversichtlich. Er holte tief Luft und nickte, brachte die Violine in Position und sah Darius an.
Bevor der Bogen jedoch eine Saite berühren konnte, ließ er ihn wieder sinken und blickte fast schon beschämt zu Boden.
„Ich bin mir nicht so sicher, ob ich- ich meine-“
Darius konnte sich nicht mehr beherrschen, er fasste sich an die Stirn und zählte innerlich langsam bis zehn. Kurz fragte sich, ob er sich selbst gerade als inkompetent erwies, dann aber entschied er, dass die persönliche Motivation von Jasper Sundström definitiv nicht zu seinem eigentlichen Aufgabengebiet gehörte.
„Nicht sicher, ob Sie was?“, fragte Darius betont ruhig.
Jasper druckste herum.
Am liebsten würde er schreiend im Kreis rennen, aber mit einem letzten Aufbäumen seiner vorgetäuschten Engelsgeduld griff er nur in seine Aktentasche und angelte fast schon hilfesuchend die Tube mit der Handcreme heraus.
Jasper fühlte sich wohl immer noch nicht in der Lage zu sprechen, so fühlte Darius sich wiederum vollkommen berechtigt, in Ermangelung einer besseren alternative seine Hände einzucremen und sich ein paar Momente nur auf die angeblich entspannenden ätherischen Öle zu konzentrieren.
„Ich weiß nicht, ob ich improvisieren kann“, sagte Jasper schließlich.
Nun war es Darius, der ihn anstarrte. Sein Blick musste Bände von seinem Unmut sprechen, er konnte sich nicht mehr zusammenreißen und gute Miene zu bösem Spiel machen.
Er war mit der Geduld am Ende.
Aber Jasper schien gar nicht so eingeschüchtert von seinem genervten, warnenden Blick wie er es vermutet hätte. Stattdessen legte sich ein zaghaftes Grinsen auf seine Züge.
„Würden Sie- ich meine, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir etwas zu schreiben? Ich würde es einstudieren, üben und am Konzert spielen.“
Darius hob die Augenbrauen.
„Sie wollen, dass ich-“, wiederholte er und Jasper nickte hastig.
Mit einem Mal wirkte er gar nicht mehr so unsicher und zittrig, wobei der Eindruck des aufgeregten Schuljungen dennoch blieb. Nur diesmal hatte er wohl eine Eins bekommen, anstatt sich auf die Rüge des Lehrers gefasst zu machen.
„Ich hoffe, Sie halten mich nicht für verrückt, aber-“, Jasper brach ab und ließ nun tatsächlich ohne weiteres Zögern einige Töne erklingen.
Es dauerte einige Momente, bis Darius über den Gedanken, dass Jasper mit diesem kurzen Vorspiel hier nun wirklich unmöglich seine Kadenz gestalten konnte, bemerkte, dass ihm die Melodie bekannt vorkam.
Erstaunlich bekannt sogar.
Darius musste nun seinerseits komplett wie vom Donner gerührt wirken, denn Jasper setzte kurz darauf ab und lächelte fast schon stolz.
„Sie haben das geschrieben, als ich in Physik in der Reihe hinter Ihnen saß! Ich glaube, ich habe manchmal eine Art fotografisches Gedächtnis, aber mir hat es gut gefallen und ich habe es oft zum Aufwärmen gespielt!“
Darius musste schmunzelnd den Kopf schütteln.
Jasper Sundström war zweifelsohne ein anstrengender Mensch; wenngleich wohl auch nicht immer auf eine komplett unangenehme Art und Weise.
„In Ordnung“, sagte Darius, „Ich schreibe Ihnen eine Kadenz. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber-“
Jasper unterbrach ihn zuversichtlich, „Das reicht auch noch morgen!“
Darius hob ungläubig die Augenbrauen.
Langsam bereitete ihm dieser Umschwung der allgemeinen Stimmung ein bisschen Sorge. Dass der gute Jasper nicht dem Durchschnitt eines Ottonormalverbrauchers entsprach, war ihm ja schon lange klar gewesen. Jetzt sorgte sich Darius aber tatsächlich ein bisschen um seine emotionale Gesundheit.
Jasper zuckte aber nur lächelnd mit den Schultern, „Ich glaube, ich habe manchmal eine recht schnelle Auffassungsgabe und brauche deswegen meist nicht lange, um ein neues Stück einzustudieren.“
Darius musste ebenfalls lächeln und nickte ergeben.
Zumindest hatten sie sich nun wohl wortlos darauf geeinigt, dass er hier nicht den persönlichen Motivationstrainer geben musste.
„Nun denn“, begann er, trotz allem komplett aus dem Konzept gebracht.
Jasper stand immer noch da, als wisse er nicht so wirklich etwas mit sich anzufangen. Darius sah auf die Uhr und zuckte mit den Schultern, ehe er sich wieder an den anderen Mann wandte:
„Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, wenn ich Sie nun für die restliche Zeit auf einen Kaffee einladen würde?“
Tatsächlich belief es sich auf einen kleinen, überteuerten Becher aus dem Automaten auf dem Gang anstatt dem Café einen Besuch abzustatten, aber Jasper Sundström begleitete ihn sogar für eine Zigarettenlänge nach draußen.
Anstatt über alte Zeiten zu plaudern, stellte Jasper ihm eine Unmenge an Fragen bezüglich des Konzertprogramms, als wolle er gedanklich noch einmal all seine Notizen in der Partitur überprüfen, ob er es auch wirklich richtig verstanden hatte.
Als zufällig Theresa den beiden entgegen kam, zwinkerte sie Darius nur kurz zu und grinste ihn im Vorbeigehen an. Er deutete mit einer knappen Geste mit den Fingern an seinem Ohr an, dass er sie anrufen würde.
Siedend heiß wurde ihm nun, da ihm schon allein der Gedanke an ein Telefonat wieder aufs Neue Gabriels Versuche in Erinnerung rief. Aber diesmal war er eindeutig schneller darin, sich wieder von diesem störenden Ärgernis abzulenken.
Er konnte es sich einfach nicht leisten, unkonzentriert zu sein.
Dass Jasper nun bis zur Tuttiprobe wohl die Zeit totschlagen musste, hatte sich Darius bei seiner Planung nicht überlegt, aber letzten Endes war das auch nicht sein Problem.
Sie verabschiedeten sich knapp auf später, als die Zeit für die nächste Einzelprobe gekommen war und als Darius dem Violinisten noch kurz hinterher sah, erblickte er aus dem Augenwinkel Erwin Gebauer, der um die Ecke bog.
Viel zu früh für die Tuttiprobe, aber er würdigte Darius auch keinen Blickes sondern klopfte Jasper freundschaftlich auf die Schulter. Darius beschloss, dass er sich über manche Dinge besser nicht den Kopf zerbrach.
Zumindest hatte er nun einen weiteren Kaffee getrunken und fühlte sich bereit dazu, sich hoffentlich weniger ereignisreich mit Oboe, Fagott und Cello zu beschäftigen.
Das Telefon schaltete er nun endgültig aus.