Darius wusste nicht, wie er es trotz all diesen Vorkommnissen geschafft hatte, rechtzeitig am Treffpunkt für die Abfahrt mit dem Bus zu sein.
Erschöpft lehnte er den Kopf gegen die Lehne am Sitz und cremte sich erst einmal in aller Ruhe die Hände ein. Trotzdem ließ ihn ein ungutes Gefühl nicht los, dass er etwas vergessen hatte.
Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann Nina seine Wohnung wieder verlassen hatte, geschweige denn wo sie war – und als sich der Reisebus in Bewegung setzte, fiel ihm doch wieder siedend heiß ein, dass sie seit Tagen in seinem Musikzimmer saß und Klavier spielte.
Immer dieselbe Stelle, die sich so in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, dass er sie immer noch vernehmen konnte, als er panisch zum Busfahrer nach vorn hastete und ihn auf Knien anflehte, noch einmal kurz anzuhalten, weil er etwas sehr wichtiges vergessen hatte. Im Hintergrund lachte ihn Erwin Gebauer aus, dass ihm so etwas doch wirklich nicht passieren durfte.
Der Bus fuhr weiter, hatte den Parkplatz längst hinter sich gelassen, während der Fahrer sein Bitten und sein Flehen ignorierte – viel eher schien er nur noch mehr Gas zu geben.
Darius suchte verzweifelt Alfreds Gesicht unter den Mitgliedern des Orchesters. Still und stumm saßen sie schweigend auf ihren Plätzen.
Kurz meinte er, dass er zumindest Jasper Sundström ausfindig gemacht hätte, doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es Theresa war, die an die Lehne des Sitzes gesunken tief und fest eingeschlafen war. Er versuchte, sie zu wecken, damit sie ihm irgendwie helfen konnte, doch sie wurde einfach nicht wach.
Immer noch spielte Nina ein und dieselbe Stelle auf dem Klavier in seinem Kopf, dann klingelte sein Telefon. Es war Gabriel, der ihn anschrie, was ihm denn einfiele, sie einfach allein zu lassen.
Er wollte erklären, er wollte sich entschuldigen, doch er bekam kein Wort heraus. Der Bus wurde schneller und Darius legte auf, wandte sich wieder an den Busfahrer und erschrak, als er sah, wer diesen Bus fuhr.
Es war Kristian, er würdigte ihn keines Blickes. Stattdessen drückte er das Gaspedal voll durch.
Sie waren längst am Kloster vorbeigefahren, er hatte aus dem Augenwinkel am Fenster einen Blick darauf erhascht. Kristian riss abrupt das Steuer herum, Darius stolperte und fiel so hart auf sein Knie, dass er nicht mehr aufstehen konnte.
Erst als er den Eiffelturm erblickte, wurde ihm bewusst, wohin sie fuhren.
„Du wolltest mit Chevalier sprechen“, sagte Kristian kalt.
Die sich immer noch wiederholende Stelle aus dem Stück vermischte sich mit dem Klingeln seines Telefons, der Bus war auf einmal komplett leer bis auf ihn und Kristian. Keine Spur von Theresa mehr und auf einmal erinnerte er sich daran, dass Alfred doch gerade im Krankenhaus lag und vergeblich auf einen Besuch von ihm wartete. Wahrscheinlich weinte er gerade, weil er ihn vermisste und ohne ihn nicht sein konnte.
Aber er war in diesen Bus gestiegen, der nun mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit direkt auf eine Klippe zusteuerte.
Und Darius konnte sich nicht bewegen. Er konnte nichts tun als zuzusehen, wie er auf den Abgrund zuraste. Als er den Blick zu Kristian wandte, war dieser auch nicht mehr da.
Noch immer spielte Nina Klavier. Das Telefon klingelte.
Der Bus fuhr von selbst, Darius lag am Boden, unfähig sich zu rühren. Doch ihm war bewusst, dass er gleich ins Leere fallen würde.
Er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal als Alfred ihm einen Kuss auf die Stirn gab und fragte, ob er nicht ans Telefon gehen wollte.
Auf einmal spielte Nina nicht mehr Klavier.
Nur noch das Telefon klingelte und Darius schreckte hoch, starrte kurz panisch in Alfreds besorgte Augen und griff reflexartig nach seinem Handy.
Erst nachdem er sich hastig über das Gesicht gerieben hatte, fiel ihm auf, dass er den Anruf zwar angenommen, sich aber nicht gemeldet hatte – und dass er nicht einmal kurz auf die Nummer geblickt hatte, um überhaupt zu wissen, wer anrief.
Wenigstens konnte er nicht die Fassung verlieren, die hatte er immerhin noch gar nicht wieder erlangt. Und die Stimme, die in sein Ohr drang, ließ sein Herz für einen Moment aussetzen.
„Darius? Bist du am Apparat?“, fragte vermutlich die Person, mit der er nun am wenigsten gerechnet hatte, obwohl es eigentlich auf der Hand liegen sollte, dass er diesen Anruf früher oder später bekommen würde.
„Was?“, lautete seine sehr unhöflich hervorgebrachte Gegenfrage und noch im selben Atemzug schob er ein „Woher hast du meine Nummer?“ hinterher.
Kurze Zeit herrschte Totenstille, sowohl in seinem Wohnzimmer als auch am anderen Ende der Leitung. Alfred sah ihn noch immer etwas besorgt, in erster Linie aber vollkommen verwirrt an.
Luise Frey allerdings schien keine Geduld für seine Fragen zu haben.
„Von Theresa“, meinte sie nur knapp, „Kann ich bitte mit Nina sprechen?“
Noch bevor er sich überhaupt richtig hatte sammeln können, quetschte sich wieder ein kleiner, viel zu eng an ihn gedrückter Körper noch mit aufs Sofa, als hätte Nina geahnt, dass gerade nach ihr verlangt wurde.
Vermutlich der Tatsache geschuldet, dass Luise die Angewohnheit besaß, unerträglich laut ins Telefon zu sprechen – wenn es nicht nur Darius‘ Wahrnehmung war, in der er gerade eigentlich noch dabei war, wach zu werden. Auch wenn er sich nicht einmal mehr daran erinnerte, überhaupt eingeschlafen zu sein.
„Wer ist dran?“, fragte Nina neugierig.
Anstelle einer Antwort reichte Darius das Telefon weiter.
Nina hielt es auf Abstand und wiederholte ihre Frage leiser.
„Wer ist dran?“, flüsterte sie nun fast panisch.
Vielleicht hatte sie doch nicht mitbekommen, dass es um sie ging. Anscheinend war sie einfach nur extrem neugierig und hatte nun keine Lust auf ein womöglich klärendes und Darius‘ Ansicht nach dringend benötigtes Gespräch mit Gabriel.
Er nickte jedoch nur drängend auf sein Handy, damit ihm Luise nicht auch noch irgendwelche bösen Absichten unterstellen konnte.
„Deine Mutter“, sagte Darius leise.
Nina rollte mit den Augen und stöhnte genervt, als müsste sie erst theatralisch klar machen, dass auch sie auf diesen Anruf keine Lust hatte. Dann jedoch hielt sie sich das Telefon ans Ohr und drückte sich dabei noch näher an Darius, damit er auch absolut keine Chance hatte, ihnen irgendeine Privatsphäre zuzugestehen.
Davon abgesehen, dass er eigentlich gar kein Interesse daran hatte, dieses Gespräch mitzuverfolgen, hatte er nun aber keine Wahl.
„Ja?“, fragte Nina.
„Nina!“, begann Luise vorwurfsvoll, „Was muss ich denn schon wieder über dich hören? Geht es dir gut?“
Nina schwieg eine beachtlich lange Zeit und zog einen Schmollmund.
„Das geht dich gar nichts an“, meinte sie patzig.
Kurze Zeit herrschte Schweigen, diese Chance nutzte Darius, um sich aus dem innigen Klammergriff zu lösen, sich noch immer vollkommen verdattert durch die Haare zu fahren und Alfred einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen.
„Nein!“, sagte Nina laut, „Das hättest du dir mal früher überlegen müssen!“
Er konnte nur abschätzen, dass Luise wohl auch ihr Möglichstes versuchte, um Nina wieder zu Gabriel zu bewegen. Dorthin, wo sie ja eigentlich auch hingehörte, wenn man es recht bedachte.
Wieder überkam Darius das Gefühl der Überforderung.
Insgeheim verließ er sich nun auf Luise, die das alles bestimmt besser klären konnte als er. Feingefühl konnte man ihr zwar auch nicht nachsagen, doch immerhin war sie die Mutter – aber auch wenn Darius nicht verstehen konnte, dass Nina lieber bei ihrem Vater lebte, musste es dafür ja einen Grund geben. Es entzog sich seiner Kenntnis, darüber hatten sie nie gesprochen.
Trotzdem war er der festen Überzeugung, dass irgendein Band zwischen Mutter und Kind noch existieren musste, ansonsten würde Luise ja auch nicht anrufen. Es entzog sich seiner Vorstellungskraft, wie man neben der Mutter herleben konnte, ohne den Kontakt zu suchen.
Aber streng genommen hatte er damit nichts zu tun, also ging es ihn nichts an. Hoffentlich würde Nina sich wenigstens ein bisschen auf die Vernunft besinnen und zumindest auf jemanden hören, der mehr mit ihr zu tun hatte als er. Denn auch wenn sie unheimlich anhänglich schien, streng genommen kannte er dieses Persönchen kaum, weil er einen Großteil ihres Lebens einfach verpasst hatte.
Nina sah sich nun tatsächlich dazu genötigt, genervt seufzend aufzustehen und im Zimmer hin und her zu laufen, während sie die Augen verdrehte und mit der Hand einen plappernden Mund nachahmte.
„Ja, ja, bla bla bla“, motzte sie unsagbar frech ins Telefon und Darius beschloss, dass er sie in Ruhe telefonieren lassen würde, um sich nicht wieder aufzuregen.
„Bin ich wirklich eingeschlafen?“, fragte er Alfred stattdessen flüsternd, weil er es immer noch nicht glauben konnte.
Dieser nickte mit einem schiefen Lächeln und zuckte mit den Schultern.
„Ich wollte dich eigentlich in Ruhe schlafen lassen“, antwortete er leise, „Aber ich dachte, der Anruf könnte womöglich wichtig sein.“
Darius seufzte leise, musste aber schmunzeln.
„Dieses spontane Nickerchen war auch wirklich nicht geplant“, meinte er dann doch etwas zerknirscht, „Tut mir leid, aber es war einfach zu gemütlich.“
Alfred lächelte sanft und küsste seine Wange.
„Gib’s zu“, flüsterte er ihm neckend ins Ohr, „Mein Bauch ist um einiges kuschliger als jedes Kissen! Vielleicht hätte ich-“
Er zuckte zusammen und brach ab, als es im Hintergrund lauter wurde.
„Du hast mir gar nichts zu sagen!“, regte Nina sich auf und Darius wurde mit einem Mal wieder hellhörig.
Egal wie sehr er sich davon hatte überzeugen wollen, dass alles schon gut gehen würde. Egal wie sehr er sich selbst hatte einreden wollen, dass alles gar nicht mal so schlimm war und sich von allein wieder klären würde.
Da konnte er noch so lange tun, als würde ihn all das nicht interessieren.
Es ließ ihn nicht kalt.
Ganz und gar nicht.
„Nein“, meinte Nina laut und wieder, diesmal noch lauter, „Nein!“
Alfred warf Darius einen zerknirschten Blick zu, als wüsste er auch nicht, was er jetzt in diesem Moment tun sollte. Dabei hatte er sich ja zumindest unterbewusst schon darauf verlassen, dass Alfreds Intuition ihn hier retten würde.
Nina schwieg unterdessen, als würde sie lauschen.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verfinsterte sich zusehends.
„Nein“, diesmal klang ihre Stimme mehr tonlos als wütend und sie wirkte einmal mehr wie ein sehr trotziges Kind, „Ich bleibe bei Darius und Alfred!“
Und damit legte sie allen Anschein nach auf, denn schon kurze Zeit später warf sie das Telefon wütend aufs glücklicherweise gepolsterte Sofa, stürmte ins Musikzimmer und knallte geräuschvoll die Tür zu.
Darius sah zu Alfred.
Der wirkte vollkommen schockiert, starrte nurmehr verdrossen vor sich hin und traute sich wohl nicht einmal, dazu auch nur ein einziges Wort zu verlieren.
Dann sah Alfred ihn an, schien aber nicht recht zu wissen, wohin mit sich.
Darius schaffte es nicht, sein zerknirschtes Lächeln zuversichtlich und sein verzweifeltes Abwinken aufmunternd wirken zu lassen
„Wie ich bereits sagte-“, Darius seufzte tief, „Bei meiner Familie kann man nie sicher sein, wie sich die Dinge entwickeln könnten!“
Alfreds Blick wurde zärtlich und sein Lächeln sanfter.
„Für uns beide gemeinsam wird das sicherlich nicht unmöglich sein, oder was meinst du?“, fragte er und zog Darius zu sich.
Darius seufzte, lehnte einen Moment seine Stirn an Alfred Schulter und er wollte ihm so gern glauben, so dringend wollte er ihm glauben.
Doch so sehr er sich auch auf diese Unterstützung angewiesen fühlte, die Zweifel zerfraßen ihn immer noch.
Er bezweifelte, dass Nina sich auf eine Lösung einlassen würde, die für ihn erträglich war. Er bezweifelte, dass es überhaupt eine Lösung gab, die für beide in irgendeiner Form angenehm sein würde.
Und dadurch, dass Nina ein Kind war und er der Erwachsene, musste er somit also wohl eine Lösung in Kauf nehmen, von der allein sie profitierte.
Wie auch immer das funktionieren sollte. Immerhin musste er Sonntagabend spätestens für einige Tage weg und sollte davor vielleicht noch mindestens fünf Minuten Zeit für sich selbst und ein bisschen Erholung haben.
Ansonsten wäre er wohl schneller wieder am selben Punkt wie vor einer Woche angelangt als er schauen konnte – und Alfred hatte nicht verdient, dass er ihn als Babysitter für seine Nichte ausnutzte.
Darius rang sich ein Lächeln ab.
Dann küsste er Alfreds Nasenspitze und erhob sich mit einem tiefen Seufzen vom Sofa, um sich in die Höhle des Löwen zu begeben.
„Ich versuche mal, mit ihr zu reden“, ließ er Alfred wissen.
Dieser nickte hastig und stand ebenfalls auf.
„Hast du zufällig noch etwas Mehl da?“, fragte Alfred dann aus heiterem Himmel und Darius sah ihn verwirrt an.
„Wofür brauchst du Mehl?“, seine Gegenfrage klang patziger als beabsichtigt.
Alfred lächelte sanft, „Wenn ich den Einkauf von heute früh bedenke, fehlt mir eigentlich nur etwas Mehl und ich könnte uns was zu Abendessen machen. Zur Not können wir aber auch nach eurer Diskussion noch einmal zum Einkaufen.“
Darius starrte an ihn.
Dann seufzte er ergeben und deutete auf die Tür, „Der Schlüssel steckt noch. Mein Geldbeutel ist in der Tasche. Es tut mir leid, ich habe da gerade keine Kapazität mehr frei, aber ich danke dir von Herzen!“
Alfreds Mundwinkel zuckten leicht.
Er sah ihm einen Moment etwas ratlos in die Augen, dann nahm er wieder so unendlich sanft seine Hand und küsste sie zärtlich.
„Du schaust mal nach der Nina und ich gehe einkaufen. Dann habt ihr Zeit zum Reden, ich koche derweil und wie ich für meinen Teil wiederum bereits sagte-“, begann Alfred dann lächelnd und wirkte zumindest in dieser Sache sehr zuversichtlich:
„Wir schaffen das!“
Darius nickte unsicher.
Eigentlich wollte er es ihm gern glauben, ja.
Und eigentlich hatte er nun auch umgehend zu Nina gewollt, um sie davon zu überzeugen, dass sie nicht bleiben konnte. Oder um irgendwie eine andere Lösung zu finden. Womöglich auch nur, um sie zumindest mit der eigentlich sowieso versprochenen Klavierstunde abzulenken, immerhin wusste er nicht, wie man mit einem vermutlich heulenden Mädchen umging.
Das war ja auch bei erwachsenen Frauen schon so eine Sache, mit der er sich nicht auseinandersetzen wollte. In jedem Fall jedoch hatte er sich eigentlich fest vorgenommen, zu handeln anstatt zu zweifeln, bevor er noch verzweifeln würde.
Als Alfred jedoch den Schlüssel an sich genommen und leise die Tür hinter sich schloss, wurde Darius einmal mehr bewusst, dass dieses „Eigentlich“ sehr viel einfacher klang als es tatsächlich war.
Er schaffte es gerade noch ins Badezimmer und schließlich wohl auch mit purer Willenskraft, seinen kläglichen Erstickungstod zu verhindern.
Sein Körper hatte wohl immer noch nicht verstanden, dass ihm seine schweißtreibende Mühe nichts bringen würde, wenn es sowieso nichts zu holen gab. Frustriert und erschöpft wischte Darius sich den Schweiß von der Stirn und den Speichel aus dem Mundwinkel.
In der Wohnung herrschte Totenstille.
Kein Klavier, kein Handy.
Nur der Bus raste ohne Fahrer immer noch auf den Abgrund zu.
Und das Schlimmste war, dass nicht einmal Alfreds Anwesenheit ihn davon abhalten konnte.
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