Die unerwartet gemeinsame Bahnfahrt verging wie im Fluge.
Nicht zuletzt dadurch, dass das Gesprächsthema bereits nach wenigen Haltestellen auf die Musik fiel und Alfred nicht erwartet hätte, dass er ausgerechnet heute und noch dazu mit Darius Ottesen in diesem Zusammenhang eben nicht über die Wiener Klassik diskutieren würde.
Stattdessen kamen sie schnell darauf zu sprechen, dass beide von ihnen unter anderem auch noch die ein oder anderen Vorlieben hatten, die nicht so ganz ins beruflich zu erwartende Schema passten – und Alfred amüsierte sich köstlich darüber, wie peinlich Darius dies zu sein schien.
Er sprach über seine heimliche Zuneigung zu Gospelchören, diversen Musicals und ABBA, als hätte er einen alles andere ausschließenden Vertrag mit der klassischen Musik geschlossen, um sein Gesicht als Orchesterdirigent zu wahren. Und mehr als einmal erwischte Alfred sich dabei, wie er Darius mit einem fast schon verträumten Schmunzeln dabei beobachtete, wenn sich ein Rotschimmer auf seine Wangen und ein Funkeln in seine Augen legte, während er immer wieder ein bisschen ins Schwärmen geriet.
Alfred fragte sich, ob man ihm selbst die Begeisterung ebenso anmerken mochte, als er sich schließlich zu französischen Chansons, Queen und Elvis Presley äußerte, denn Darius wirkte durchaus angetan, während er aufmerksam lauschte. Auf die Frage hin, ob Alfred denn überhaupt Französisch verstünde, entstand rasch eine zweistimmige Lobeshymne auf Paris, in der beide feststellten, dass sie schon viel zu lange nicht mehr in dieser schönen Stadt gewesen waren.
Komplett vertieft in diese äußerst angenehm fließende Unterhaltung verpasste Alfred beinahe seine Haltestelle und ärgerte sich im Stillen darüber, dass sie nun wieder nicht weiterreden konnten. Er nahm sich noch vor, Darius beim nächsten Gespräch unter vier Augen nochmals darauf anzusprechen, doch die Bahn stand schon und die Türen öffneten sich bereits, als er bemerkte, dass er hier aussteigen musste.
Zumindest aber kam er nicht mehr in die Situation, sich Gedanken über die Form des erneuten Abschieds machen zu müssen. Die Zeit, die ihm zum Aussteigen blieb, reichte kaum für einen Händedruck, darum verabschiedete er sich nur mit einem „Bis später!“ und hastete zu den Türen, die sich sofort schlossen, nachdem er die Bahn verlassen hatte.
Durch die Fenster hinein erhaschte er noch einen Blick auf Darius, der ihm wohl hinterher sah und ihm noch kurz zuwinkte, ehe sich der Zug wieder in Bewegung setzte und aus Alfreds Sichtfeld verschwunden war. Es dauerte einen ganzen Moment lang, dass er sich besann, dass er hier nicht an der Haltestelle stehen und Löcher in die Luft starren, sondern nach Hause gehen und sich auf das Konzert vorbereiten sollte.
Irgendwie war Alfred absolut nicht nach Arbeit zumute, schon gar nicht in einem Rahmen, bei dem er auch noch sehr viele Menschen nicht nur treffen, sondern auch wirklich aktiv unterhalten sollte. Allerdings ertappte er sich dabei, dass diese Sache durch das Wiedersehen mit Darius Ottesen eine weitaus positivere Konnotation in seinem eigenen Bewusstsein bekam.
Fast schon unerträglich zufrieden mit sich und der Welt schlenderte er von der Haltestelle nach Hause und erfreute sich am Sonnenschein, dem Zwitschern der Vögel und dass in den umliegenden Gärten schon viele Pflanzen mit zarten, grünen Trieben daran erinnerten, dass es wirklich Frühling wurde.
Erst der komplett unerwartete Anblick eines dunkelgrünen Mercedes Benz vor dem Haus ließ ihm für einen Moment das Blut in den Adern gefrieren, bevor die Wut siedend heiß in ihm hochkochte. Was um alles in der Welt – Das konnte nicht sein Ernst sein! Sie hatten sich erst heute Morgen gesehen.
Was erwartete er denn? Dass Alfred bei ihm einzog und jede Sekunde seines restlichen Lebens in seiner Gesellschaft verbrachte?
Selbst wenn der Mann sich einfach nur ein bisschen einsam fühlte, war das noch lange kein Grund, Alfred nachzustellen!
Getrieben von seiner aufgebrachten Empörung schaffte Alfred die Treppen in Rekordzeit und wenn er komplett außer Atem war, als er an seiner Wohnungstür ankam, hatte er noch genügend Kraft, sie energisch aufzustoßen.
Kurz schlich sich ein Funken Angst zwischen seine beinahe hasserfüllten Gedanken, vielleicht stimmte ja etwas nicht und das alles wäre irgendwie damit zu erklären, dass er Alfreds Hilfe brauchte und ihn telefonisch nicht hatte erreichen können. Es war ja alles möglich, vielleicht sollte er nicht vorschnell urteilen, am Ende war etwas passiert und er hatte keine andere Lösung gesehen, als Alfred besuchen zu wollen.
Durch die klappernden Geräusche in der Küche ertappte er allerdings auf frischer Tat den Hausfriedensbrecher, der in einem äußerst schicken Anzug mitsamt Krawatte gerade dabei war, in aller Ruhe Kaffee zu kochen. Scheinbar wollte sein Vater es sich hier gemütlich machen, aber in dem Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass er einfach nur ungefragt allein in seine Wohnung gekommen war, um in seinen privaten Schränken zu kramen und sich selbst zu bedienen, platzte Alfred einfach nur noch der Kragen.
„Als ich dir den Schlüssel gegeben habe, war das für Notfälle gedacht. Allerdings garantiert nicht dafür, um mir hinterherzuspionieren!“, machte er nun mit wütender Stimme abermals auf sich aufmerksam.
Kurt beachtete ihn kaum und ließ sich nicht von seiner Tätigkeit abbringen, den Kaffeefilter sorgfältig zu falten. Nur einen kurzen, fast schon desinteressierten Blick warf er über seine Schulter zu Alfred. Den brachte das natürlich nur noch mehr auf die Palme.
„Möchtest du mir vielleicht etwas sagen? Auch wenn ich bezweifle, dass es einen triftigen Grund oder irgendeine verständliche Erklärung für diese doch recht alberne Situation geben kann!“
Kurt füllte gemächlich Kaffeepulver in den Filter und zählte halblaut die Löffel mit. Erst als er die Maschine anschaltete, drehte er sich um und sah Alfred an, während er die Arme fast schon tadelnd vor der Brust verschränkte.
Alfred zählte innerlich ebenfalls bis zehn und biss die Zähne aufeinander.
Jetzt wollte er es bestimmt so hindrehen, dass es ja seine eigene Schuld war und er ja derjenige gewesen sein musste, der einen Fehler gemacht hatte. So wie immer. Der einfältige, unartige Junge, der sich von seinem Vater eine Standpauke anhören musste.
Da half es nichts, dass er mittlerweile 40 Jahre alt war, einen festen Job und eine eigene Wohnung hatte. Für seinen Vater würde er ja doch immer der kleine dumme Alfred bleiben, der niemals etwas richtig machte.
„Jetzt hör amal gut zu, Alfred“, sagte Kurt vollkommen unberührt von seinen zornigen Vorwürfen und ihm schwante Böses, „Du sagtest du bist zuhause, was also soll ich denken, wenn du dann nicht ans Telefon gehst?“
„Wir haben uns heute Morgen erst gesehen“, presste Alfred mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, um nicht einfach laut zu brüllen.
„Das stimmt schon“, sagte Kurt unbeeindruckt, „Den Schuh zieh ich mir aber sicher nicht an, Alfred. Kannst dir überhaupt vorstellen, was ich mir für Sorgen gemacht habe?“
Alfred schnaufte tief durch, um ihm nicht einfach den Hals umzudrehen.
„Vater“, sagte er betont ruhig, wurde gegen Ende aber immer lauter, „Es ist keine vier Stunden her, dass ich bei dir zuhause war. Was in Gottes Namen ist dein Problem?“
„Sag amal, Alfred“, Kurt sah ihm direkt in die Augen, „Ich weiß ja nicht, ob bei dir der Hirnschwund schon eingesetzt hat, aber ich zumindest werde nicht vergessen, wie ich damals hier zwei Stunden vor verschlossener Tür gestanden habe bis die Renate mit dem Schlüssel da war!“
Alfred ballte die Hände zu Fäusten und biss die Zähne aufeinander.
„Was hat das damit zu tun? Das ist Jahre her!“, verteidigte er sich aufgebracht, „Und es gibt absolut keinen Grund, etwas dergleichen anzunehmen, wenn du kurz vorher mit eigenen Augen gesehen hast, wie ich deinen halben Garten umgrabe! Das hier ist meine Wohnung und du hast kein Recht dazu, hier einfach-“
Sein Vater schien ebenso darum zu kämpfen, nicht aus der Haut zu fahren und unterbrach ihn mitten im Satz.
„Alfred“, sagte er noch einmal tonlos, „Du weißt schon, hätte die Renate nur noch ein paar Minuten länger gebraucht-“
Er brach ab und Alfred stöhnte leidend auf, „Oh Vater!“
„Na, nichts oh Vater!“, fuhr Kurt ihn nun lauter an und Alfred konnte nicht mehr einschätzen, ob seine belegte Stimme vorwurfsvoll oder besorgt klingen sollte, „Du hast gut reden, warst ja fein raus – Ich war derjenige, der dich wiederbeleben musste, bis der Notarzt kam! Hast überhaupt die leiseste Ahnung, wie oft ich da bis heute noch dran denken muss?“
Langsam ebbte die Wut ab und machte einer resignierten Erschöpfung platz. Wortlos sank Alfred auf den nächstbesten Stuhl und konnte seinen Vater nicht ansehen. Viel zu tief saß das plötzlich schlechte Gewissen über seine alberne Überreaktion und er fühlte sich nurmehr elend.
„Mir ist mit Verlaub scheißegal, mit welchen Leuten du verkehrst und wo du dich rumtreibst. Kannst ja machen was du willst, du bist alt genug“, meinte Kurt , „Aber Lügen haben kurze Beine, Alfred. Wenn du sagst, du bist daheim und gehst dann nicht ans Telefon – Ich hab mir alles mögliche gedacht!“
Alfred sinnierte einige Momente lang darüber nach, dass sein Vater es vielleicht wirklich nur gut gemeint hatte. Dass er ihm gar nicht hatte nachspionieren wollen, sondern sich einfach nur ehrlich gesorgt hatte.
Vielleicht hatte er mit diesen Horrorbildern im Kopf eine weitere persönliche Hölle durchgemacht, während Alfred sich in einem Café amüsiert hatte. Und irgendwie tat es ihm mit einem Mal sehr leid, wie einfältig und albern er doch war.
„Was ich aber dennoch nicht verstehe“, meinte Alfred zerknirscht, „Wir haben vorhin erst gesprochen. Warum hast du überhaupt angerufen?“
Kurt schwieg und ging zum Sofa, das Alfred gar in seiner Wut gar nicht genauer in Augenschein genommen hatte. Erst als er ihm mit dem Blick folgte, entdeckte er auch den schwarzen Kleidersack, den sein Vater vom Polster nahm und ihm nun in die Hand drückte.
Alfred öffnete mit zitternden Fingern den Reißverschluss.
„Ich hatte gedacht, das brauchst du vielleicht für heute Abend. Der lag noch bei mir, deswegen wollte ich eigentlich bloß fragen, ob du mittlerweile einen Neuen hast oder ich den noch geschwind vorbeibringen soll.“
Wie vom Donner gerührt starrte Alfred seinen besten Anzug an, an dessen Aufenthaltsort er keinen einzigen Gedanken mehr verschwendet hatte.
Und wieder stieg unbändige Wut in ihm auf, diesmal jedoch auf sich selbst.
„Danke“, sagte er beinahe kleinlaut.
Kurze Zeit herrschte betretenes Schweigen von beiden Seiten.
Dann spürte Alfred, wie sein Vater etwas unbeholfen die Hand auf seine Schulter legte und fast beschämt schloss er die Augen. Wie kam er überhaupt dazu, immer davon auszugehen, dass die Leute in den meisten Fällen niedere Absichten hatten? Gerade sein Vater meinte es doch nur gut.
„Vergessen wir das“, sagte Kurt ruhig und klopfte Alfred kurz auf die Schulter, „Trinkst mit mir noch eine Tasse Kaffee?“
So war die ganze Geschichte nur noch ein Punkt auf der ungeschriebenen Liste von Dingen, über die nie wieder gesprochen werden würde. Die Liste all jenen mit Situationen, in denen er wieder und wieder bewiesen hatte, dass er ein Versager war, seinem Vater nur Scherereien und Kummer bereitete, wuchs nicht etwa langsamer mit dem Älterwerden.
Alfred verfluchte sich innerlich dafür, dass er nicht einmal eine ordentliche Entschuldigung über die Lippen brachte. Aber manche Dinge würden sich wahrscheinlich nie ändern.
Während sie gemeinsam Kaffee tranken, ging dabei das Schweigen zaghaft in eine kleine Unterhaltung über, als müssten sie sich einander erst mal wieder annähern. Als sie dabei auf das Konzert zu sprechen kamen, war Alfred schon im Begriff, seinen Vater vor die Tür zu setzen, um sich in Ruhe fertig machen zu können – aber Kurt zog wie so häufig das letzte Register und bot ihm an, mit dem Auto zu fahren.
So einigten sie sich darauf, dass er fernsehen würde, während Alfred sich ausgehfertig machte, aber noch ehe er ganz mit dem schicken Anzug im Badezimmer verschwinden konnte, fiel seinem Vater dann doch noch etwas ein.
„Sag amal, Alfred“, wandte er sich an ihn.
„Mhm?“, machte er halbherzig fragend, weil ihm langsam doch die Zeit davonlief nach all diesen Diskussionen.
„Ich will ja nicht neugierig sein, aber interessieren würde es mich schon, wo du dich herumgetrieben hast, während ich mir den Kopf zerbrochen habe.“
Alfred seufzte schwer. Es hatte ja kommen müssen. Es ging ja nicht anders.
„Ich war unterwegs“, murrte er lieblos.
„Ah“, machte Kurt augenrollend, ließ aber nicht locker, „Und was hast ausgerechnet heute so dringend noch zu erledigen gehabt?“
„Mhm“, machte Alfred zögerlich, „Frühstück. Im Motto.“
Kurt goss sich noch eine Tasse Kaffee ein und setzte sich damit auf das Sofa.
„Ganz allein? Oder mit wem hattest du es so wichtig am Telefon?“ , fragte er und Alfred konnte diese Verletzung seiner Privatsphäre kaum glauben.
„Vater“, sagte er ärgerlich, „Bist du nicht auch der Ansicht, dass das gerade ein klein wenig lächerlich wird?“
„Na“, meinte Kurt, „Lächerlich ist bloß, dass du draus so ein wahnsinniges Geheimnis machst, wenn man dir eine ganz normale Frage stellt! Ich wollte ja nur informiert sein, ob sich nicht auf deine alten Tage vielleicht doch noch eine nette Schwiegertochter mit der Aussicht auf liebreizende Enkelkinder für mich auftun könnte.“
Alfred war froh, dass sie einander bei diesem Gespräch nicht ansahen, so rot wie sein Gesicht bei diesen Worten angelaufen war. Natürlich kamen wieder solche Sprüche und im Zusammenhang waren sie seiner Zufriedenheit mit der Gesamtsituation wirklich nicht zuträglich.
Als er nicht gleich antwortete, sinnierte Kurt schon weiter.
„Die Renate mochte ich ja schon echt gern“, ließ er Alfred wissen, wie enttäuscht er nach all den Jahren noch immer von ihm war.
„Ich muss mich beeilen“, presste Alfred hervor, „Wir reden später!“
„Mach du nur“, sagte Kurt, „Denkst aber dran, du brauchst das schwarze Hemd! Hast deine Schuhe schon geputzt? Fürs Mascherl kannst dann gern zu mir kommen, bei dir sieht das immer so nach Kraut und Rüben aus!“
„Ich danke dir für deine Anteilnahme an meiner Garderobe, aber ich bin tatsächlich mittlerweile in der Lage, mich allein anzukleiden“, murrte Alfred.
„Dir ist aber schon bewusst, dass ich mir dann wieder die Fragen anhören darf, was denn los sei, dass mein Sohn sich derartig verwahrlost in der Öffentlichkeit blicken lässt?“, gab er zu Bedenken, „Die Haare hattest eigentlich auch noch vorher schneiden lassen wollen.“
Alfred schloss als Antwort geräuschvoll die Tür zum Badezimmer und versuchte, die letzte halbe Stunde einfach komplett von seinem Bewusstsein abzuwaschen.
So konnte das nicht mehr weitergehen.