Als er wieder wach wurde, musste Darius sich einige Momente lang erst einmal besinnen. Dass Theresa da gewesen war, fiel ihm zuerst wieder ein, dann kamen all die anderen Erinnerungen mit einem Schlag zurück und auch wenn er einiges an Schlaf hatte aufholen können, fühlte er sich immer noch elend.
Theresa war nirgendwo zu sehen, aber er konnte sie durchaus hören, wie sie anscheinend gerade im Musikzimmer telefonierte, wenn er es richtig lokalisierte. Ihre Stimme war zwar durch die geschlossene Tür gedämpft, aber so wütend wie sie war, verstand er dennoch jedes einzelne ihrer Worte.
„Er ist schwer krank, Ferdinand!“, schimpfte Theresa, „Ich weiß ja nicht, ob du unter Gedächtnislücken leidest, aber wenn das nun nicht hinreichend klar sein sollte- Was? Nein! Garantiert nicht. Wenn du wirklich- Was- Wie bitte?“
Einige Augenblicke lang herrschte Stille, dann klang ihre Stimme noch um einiges aufgebrachter, „Niemand? Niemand, sagst du? Nein gar niemand, womöglich nur ich, ja? Aber dass du auf meine Meinung und was ich möchte keinen Wert legst, weiß ich ja schon zu Genüge!“
Scheinbar hatte sie nach diesen Worten ohne eine Verabschiedung geschweige denn Vorwarnung einfach aufgelegt, denn daraufhin hörte er nur, wie sie schnaufte und sich kurz darauf die klackernden Schritte ihrer hohen Absätze näherten.
Frustriert sank sie zurück neben ihn auf das Sofapolster und erst als sich ihre Blicke trafen und Theresa bemerkte, dass er wach war, legte sich ein liebliches Lächeln auf ihre Züge, als wäre nichts gewesen.
„Guten Morgen, Sonnenschein“, sagte sie sanft und strich zärtlich eine wirre Haarsträhne aus seiner Stirn, „Hast du dich ein bisschen erholen können?“
Ihr hoffnungsvolles Lächeln erstarb schnell, als er keinen Ton herausbrachte, sondern nur beschämt den Blick abwandte und einfach im Erdboden versinken wollte. Sie sorgte sich, das wusste er. Und so gern hätte er ihr klar gemacht, dass es nicht nötig war, aber glauben würde sie ihm garantiert nicht mehr.
Dass sie sich wohl zu Recht sorgte, hatte er nun ein für alle Mal bewiesen.
„Darius“, sagte sie leise und klang mit einem Mal todernst, „Bitte- Ich weiß, wir hatten oft darüber gesprochen, aber ich flehe dich an. Lass mich einfach den Rettungsdienst anrufen, bitte. Ich hab solche Angst um dich. Ich kann das nicht- ich- Ich weiß nicht, was ich tun soll!“
Verzweifelt schüttelte er schnell den Kopf und seine Gedanken rasten.
„Unsinn“, seine eigene Stimme klang heiser und brüchig, „Das ist alles halb so wild. Spätestens morgen bin ich wieder auf den Beinen.“
Theresa schnaufte tief durch und musste sich wohl zusammenreißen, nicht vor Wut einfach die Fassung zu verlieren.
„Darius“, ihre Stimme war fast gefährlich ruhig, „Nenne mir bitte einen einzigen Aspekt von dem Umstand, dass ich dich bewusstlos in deinem eigenen Erbrochenen auf dem Fußboden liegend gefunden habe, der halb so wild klingt!“
Es war zutiefst entwürdigend, allein weil sie eben einfach Recht hatte.
Er schämte sich. Er wollte noch etwas erwidern, aber was auch immer für Worte er sich zurecht gelegt hatte, sie gingen in einem kläglichen Schluchzen unter. Theresa machte sich wohl sofort Vorwürfe, denn sie schüttelte verzweifelt den Kopf und schloss ihn hastig in ihre Arme.
„Nein, nein, so hab ich das nicht gemeint“, flüsterte sie, „Schh- ganz ruhig, Schatz. Es ist alles gut. Es ist doch alles gut, es tut mir leid, es tut mir so leid, mein Kleiner. Schh- alles ist gut.“
Sie streichelte sein Haar und hielt seinen Kopf fest, in ihrem Gesicht lag tiefer Schmerz und sie war wohl der Ansicht, dass es keinen Sinn hatte, in diesem Zustand auch noch mit ihm zu diskutieren.
Tatsächlich hatte sie wohl auch entschieden, dass man ihn weder wie einen erwachsenen Menschen behandeln, noch überhaupt vernünftig mit ihm reden konnte und so dankbar er ihr für ihre Hilfe und Zuwendung auch sein wollte, Darius schämte sich einfach nur für diese ganze Misere.
„Was brauchst du, Liebling?“, fragte sie sanft, „Kann ich dir etwas Gutes tun?“
Er hatte nicht das Gefühl, dass sie eine Antwort ernst nehmen würde, die auf etwas abzielte, das einem größeren Ziel galt, als diesen Moment zu ertragen.
Er hatte auch nicht die Kraft, an etwas zu denken, das mehr Sinn ergab als das, was er sich gerade am sehnlichsten wünschte. Darius war sich bewusst, dass er sämtliche Würde gerade aufgab, als er einfach unter bitterlichen Tränen gestand, was er wirklich brauchte, auch wenn sie ihm da gar nicht weiterhelfen konnte.
„Alfred“, schluchzte er, „Ich möchte Alfred sehen.“
Theresa nickte übertrieben verständnisvoll, küsste ihn wieder und redete in ihrer Hilflosigkeit einfach nur lieblich säuselnd auf ihn ein, „Den kann ich dir leider nicht einfach herzaubern, Schatz. Aber schau, ihr zwei habt noch so viel Zeit miteinander, das kann warten bis es dir wieder besser geht. Bestimmt besucht er dich auch im Krankenhaus, lass mich nur eben ganz, ganz kurz telefonieren, ja?“
Egal was er sagen würde, es würde ja doch darauf hinauslaufen, dass sie ihn einweisen lassen wollte. Er konnte es ihr nicht einmal übel nehmen.
Sie war heillos überfordert. Sie hatte sicher keine Kapazität frei, sich neben dem stressigen Alltag auch noch um ihren labilen Bruder zu kümmern, der immer mehr wie ein nervliches Wrack daherkam.
„Ich bin gleich wieder da, Liebling. Gib mir nur eine Minute“, flüsterte Theresa sanft, aber ehe sie sich auch nur im Geringsten von ihm lösen konnte, griff er verzweifelt nach ihrem Arm um sie davon abzuhalten.
„Nein, nicht-“, flehte er, „Bitte geh nicht. Bleib bei mir, bleib- bitte.“
Tatsächlich schien es sie umzustimmen oder es zumindest noch hinauszögern zu können. Sie nahm ihn wieder in den Arm und hielt ihn ganz fest, als er sich verzweifelt an ihrer Schulter ausweinte.
„Dir geschieht nichts“, beteuerte sie immer wieder, „Alles wird gut, Schatz. Hab keine Angst, ich bin da- ich bin doch da, mein Kleiner.“
Gefühlt waren es Stunden, die so vergingen und irgendwo war da noch der Gedanke, dass je nach tatsächlicher Uhrzeit gerade ohne sein Beisein darüber abgestimmt wurde, ob er beim Orchester bleiben konnte oder sich nach einer Woche dort wieder einen neuen Job suchen musste. Aber es schien kaum greifbar.
Er konnte ohnehin keinen Einfluss auf das Ergebnis mehr nehmen, viel dringlicher musste er nun verhindern, dass er sich längst in irgendeiner privaten Nervenheilanstalt befinden würde, wenn er wieder ganz zu sich kam.
„Warte nur eine Sekunde“, sagte Theresa nach einer Weile, als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte und sofort war er wieder alarmiert.
Sie schüttelte allerdings nur hastig den Kopf, als wolle sie ihm diese Angst nehmen, „Ich rufe niemanden an, versprochen. Ich hole dir nur schnell ein Glas Wasser. Ich möchte, dass du heute etwas zu dir nimmst, Darius. Du musst wieder zu Kräften kommen, ansonsten gibt es keine andere Wahl als die Klinik.“
Es klang wie ein Kompromiss, mit dem sie ihm eine letzte Chance einräumte.
Wenn er nur so verhindern konnte, dass sie ihn einweisen ließ, lag es zwar nicht wirklich in seiner Macht, irgendetwas zu entscheiden, aber zumindest konnte er darauf hoffen, dass wenigstens sein Körper wieder mitmachte und ausnahmsweise nicht gegen ihn arbeitete.
Mit Wasser kam er scheinbar wieder ganz gut zurecht, wie sich kurze Zeit später herausstellte und Darius war sehr dankbar darüber. Nach nur ein paar Schlücken von der aufgewärmten Suppe wurde er allerdings dermaßen schläfrig, dass er wohl oder übel die sowieso nie ganz erlangte Kontrolle über die Situation wieder aufgeben und sich noch einmal schlafen legen musste.
Theresa schien tatsächlich einigermaßen besänftigt für den Moment, dass sie sich damit aber gänzlich zufrieden geben würde, wagte er nicht einmal zu hoffen.
Darum würde er sich später kümmern.
Nun träumte er sich im Schlaf lediglich einen vollkommen sinnlosen Kauderwelsch aus beschämenden Situationen zusammen, sodass er heilfroh war, als er wieder wach wurde. Es hatte sich angefühlt, als wäre er nur kurz eingenickt, aber als er endlich einen Blick auf die Uhr warf, war es bereits nach Mittag.
Theresa war nirgendwo zu sehen und Darius sah sich endlich imstande, wenigstens eine kurze Dusche zu nehmen und sich etwas anzuziehen. Danach fühlte er sich um einiges besser, wenngleich auch immer noch unendlich erschöpft.
Lediglich die Schmerzen am Knie waren geblieben, wobei die Schwellung – wohl durch die benötigte Ruhe bedingt – bereits deutlich zurückgegangen war.
Halb so wild, schoss es ihm durch den Kopf. Es war alles halb so wild.
Nachdem er sich noch ausgiebig die Hände eingecremt hatte, fand er Theresa in der Küche. Sie war auf einem der Stühle eingenickt, den Kopf auf die sicherlich recht ungemütlich auf der Tischplatte verschränkten Arme gelegt.
Im Topf auf dem Herd köchelte die jetzt noch mit Nudeln und Gemüse verfeinerte Suppe vor sich hin und Darius schaltete die Hitze ab, bevor alles zu einem einzigen Brei werden würde.
Scheinbar hatte Theresa seine ganze Küche durchsucht und war auf die angebrochene Packung Suppennudeln und das Tiefkühlgemüse im Gefrierfach gestoßen, ansonsten herrschte in allen Schränken bis auf ein paar Kleinigkeiten wie ein Vorrat an Kaffeepulver und die ein oder andere Tütensuppe gähnende Leere.
Wahrscheinlich würde sie ihm nach dieser Aktion seine Mündigkeit absprechen und ihn entweder sofort in ihrem Gästezimmer einquartieren oder wenigstens erst mal einen Großeinkauf für ihn erledigen.
Darius kochte Kaffee und goss für jeden von ihnen eine große Tasse ein.
Als er sich damit ihr gegenüber an den Tisch setzte, schreckte Theresa sofort hoch und sah sich panisch um, ehe sie ihn erblickte und für einige Momente einfach nur wie vom Donner gerührt anstarrte.
„Morgen“, grüßte er sie fast beiläufig und nippte an seinem Kaffee.
Sie griff nach der anderen Tasse und schien einige Momente nicht zu wissen, ob sie lachen oder weinen sollte.
Er hatte keinen allzu langen Blick in den Spiegel gewagt, weil er schon im Vorübergehen ausgesehen hatte, als wäre er vor einigen Tagen bereits verstorben und würde sein Dasein nun als Untoter fristen. Wahrscheinlich waren die geröteten, geschwollenen Augen und die dunklen Schatten darunter ein Grund für Theresa, ihm nicht einfach eine Ohrfeige für seine Einfältigkeit zu verpassen.
Entweder schnappte sie nach Luft oder rang um Worte, denn sie öffnete mehrmals unverrichteter Dinge den Mund und sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, ehe sie sich fing und einfach nur einen großen Schluck Kaffee trank.
„Du hast mich wahnsinnig erschreckt“, flüsterte sie vorwurfsvoll.
Er streckte den Arm aus, um ihr sanft über die Wange zu streicheln und sich ein gequältes Lächeln abzuringen, „Wie ich schon sagte – alles halb so wild!“
Theresa legte ihre Hand auf seine, schmiegte sie fester an ihre Wange und schloss für ein paar Momente die Augen.
„Geh morgen trotzdem zum Arzt“, sagte sie dann, „Allein schon wegen des Beins, das muss untersucht werden. Ich kann dich hinfahren. Ferdinand sagt ohnehin, er will eine ordnungsgemäße Krankmeldung für heute haben.“
Darius nickte bereitwillig.
„Natürlich“, meinte er sanft, „Würde es für dich passen, gleich sehr früh hinzufahren, damit ich danach noch pünktlich bin? Ich möchte ungern zwei Tage hintereinander fehlen.“
Theresa winkte schmunzelnd ab.
„Nach dem Konzert läuft sowieso nicht viel. Ich bin mir sicher, heute haben sie lediglich über den Abend des Auftritts geredet, über die Auswahl der Stücke für nächstes Jahr diskutiert. Ferdinand hat mit größter Wahrscheinlichkeit alle nach der ordentlichen Abstimmung nach Hause geschickt.“
Darius runzelte die Stirn und nahm noch einen kleinen Schluck Kaffee.
„Habt ihr seitdem denn noch einmal gesprochen?“, deutete er vorsichtig an, dass er sich durchaus für das Ergebnis interessierte.
Theresa nickte lächelnd und stupste ihm augenzwinkernd mit dem Zeigefinger spielerisch gegen die Nase.
„Hast du dir deswegen etwa einen Kopf gemacht?“, fragte sie, „Irgendein Spaßvogel hat wohl Herbert von Karajan zur Wahl gestellt, aber ansonsten ging die Sache einstimmig für dich aus.“
Kurz konnte er sein Glück kaum fassen. Kurz zweifelte er gar an dem Wahrheitsgehalt ihrer Worte, dann durchströmte ihn aber doch wieder das Gefühl von Hoffnung. Es war vielleicht doch noch nicht alles verloren.
Halb so wild, es war wirklich nur halb so wild.
Er musste scheinbar über das ganze Gesicht strahlen und mit einem Mal schon wieder lebendiger wirken, denn Theresa schnaufte erleichtert.
„So gefällst du mir schon besser!“, meinte sie lächelnd.
Dann sah sie auf die Uhr und seufzte ergeben.
„Folgendes Angebot“, schlug sie ihm vor, „Es gibt jetzt Suppe. Wenn du brav deinen Teller leer isst, fahren wir danach gleich zum Arzt, dann müssen wir uns morgen früh nicht so beeilen.“
Das klang durchaus nach einem fairen Deal, den er nicht abschlagen konnte.