Schon als sie in der festlich erleuchteten Eingangshalle angekommen waren, hatte Alfred draußen bereits genügend Menschen getroffen, die ihn grüßten oder ihm zumindest kurz zunickten, dass es ihm gut und gern wieder für ein halbes Jahr reichen würde.
Und als er die zerschlissene Jacke an der Garderobe abgegeben hatte, ruhte sogar ab und an ein durchaus interessierter Blick der ein oder anderen Dame auf ihm, was ihm dann zugegeben doch nochmal um einiges unangenehmer war. Die Wirkung auf andere Leute hatte er natürlich nicht bedacht, als er sich fürs eigene Wohlbefinden so schick gemacht hatte.
Am liebsten wäre es ihm gewesen, einfach in der Menge zu verschwinden, aber dafür war seine Statur wohl zu eindrucksvoll, sein Gesicht zu bekannt und in erster Linie vor allem der Mann in seiner Begleitung zu hoch geschätzt.
Und auch wenn es Alfred lieber war, mit einem gezwungenen Lächeln still danebenzustehen, wenn jemand seinen Vater ansprach, als selbst in eine Unterhaltung verwickelt zu werden, blieb es doch immer noch beim Alten:
Die Leute grüßten ihn wahrscheinlich vor allem, weil er der Sohn seines Vaters war.
Ach, da ist ja der Kurt Wunderlich! Und seinen Sohn hat er auch dabei, wie hieß der noch gleich mit Vornamen? - Alfred kannte solche Situationen zu Genüge und diese Sache reihte sich nur als weiterer Grund auf der mentalen Liste voller Argumente gegen einen gesellschaftlichen Anlass ein.
Das nächste Thema war das ewige Getuschel. Die vielsagenden Blicke, die untereinander ausgetauscht wurden, wenn Alfred kurz verhalten hustete. Und dann noch die mitleidigen Blicke, die man seinem Vater immer wieder unaufgefordert schenkte, ohne dabei auszusprechen, was man nur hinter vorgehaltener Hand zueinander sagte:
Ach, der Kurt hat’s ja wirklich nicht leicht. Zuerst die Charlotte, jetzt auch noch der Sohn! – Noch bevor sie sich durch das Gedränge überhaupt bis zum Ausschank gekämpft hatten, wollte Alfred bereits wieder nach Hause.
„Trinkst ein Glas Sekt mit mir?“, wollte sein Vater wissen.
Alfred schüttelte es schon bei dem bloßen Gedanken an den Geschmack von Alkohol.
Trotzdem überlegte er es sich zweimal, bevor er ablehnte – immerhin hatten schon viele Leute versucht, ihr Leid zu ertränken und wenn sie nicht alle an diesem Vorhaben gescheitert wären, hätte es eine ganz plausible Methode dargestellt, den Abend doch noch etwas fröhlicher zu gestalten.
Aber lieber blieb Alfred ein unausstehlicher Griesgram, als sich am Ende dümmlich kichernd in der enthemmten Albernheit noch komplett daneben zu benehmen, weil er den Alkohol überhaupt nicht gewohnt war.
Zur Feier des Tages entschied er sich statt Wasser allerdings für Orangenlimonade und fühlte sich ganz schön rebellisch, den feinen Damen, Herren sowie ihren mit teurem Sekt und edlem Wein gefüllten Gläsern mit einem 0,33 Liter-Fläschchen Fanta gegenüberzutreten.
Ein Blick auf die Armbanduhr verriet Alfred, dass sie trotz nervenaufreibender Autofahrt viel zu früh dran waren und somit leider noch genügend Zeit hatten, weiterhin unangenehm wichtige Menschen zu treffen.
Und natürlich kannte Alfred seinen Vater gut genug, dass er wusste, worauf es hinauslaufen würde, als er ihn auf einmal fest am Arm nahm und in die Richtung eines der runden Tischchens zog, auf dem sich längst mehrere ganze Weinflaschen angesammelt hatten.
„Wunderlich!“, hörte er schon über einige Köpfe hinweg die laute Stimme von Ferdinand Berentz dröhnen, „Ja kann ich meinen Augen trauen?“
Alfreds Vater umarmte den Direktor zur Begrüßung wie einen guten Freund und Berentz packte ihn kurz danach noch an den Oberarmen, sah ihn prüfend an und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter:
„Ach Kurt, mein alter Freund! Was für eine formidable Überraschung, dass du hier bist. Gut schaust du aus – und deinen Alfred hast du ja auch dabei!“
Alfred grüßte knapp, aber Berentz schien schon jetzt so betrunken, dass er ihn kurzerhand ebenfalls in eine äußerst einengende Umarmung zog.
Das einzige, was noch fehlte, war dass der Direktor in der Anwesenheit seines Vaters nun dazu überging, ihm in die Wange zu kneifen und ihm zu sagen, wie groß er doch geworden sei. Zu allem Übel war es das auch nicht gewesen; sein Vater schien allen Ernstes zu planen, bis zum Beginn des Konzerts an diesem Tisch bleiben zu wollen.
Nicht einmal das kaum wirklich an Orange erinnernde Zuckerwasser wollte Alfred da schmecken, aber glücklicherweise verfielen sein Vater und Berentz schnell in eine angeregte Unterhaltung über gute alte Zeiten, sodass Alfred zumindest nicht in die Verlegenheit kam, auch etwas sagen zu müssen. Selbst wenn er wollte, würde er ja eh nicht zu Wort kommen.
Nur eine einzige Person schenkte Alfred ein herzliches Lächeln und reichte ihm die Hand zur Begrüßung, „Schön dich zu sehen, Alfred! Wie geht es dir?“
Mit einem unangenehm weit ausgeschnittenen Kleid und auffallend roten Lippen hatte sich die ebenso außen vor gelassene Frau des Direktors an ihn gewandt – und auch wenn Theresa Berentz zu der Sorte Mensch gehörte, denen Alfred gerade lieber aus dem Weg gehen würde, war er dankbar über die um einiges kultiviertere Begrüßung.
„Es freut mich ebenso. Mir geht es gut, danke“, sagte Alfred in dem üblichen Automatismus und rang sich ein Lächeln ab, „Und selbst?“
Theresa Berentz lachte glockenhell.
„Vielen Dank. Es geht mir blendend!“
Ob der gute Ferdinand wusste, dass das fröhliche Strahlen auf ihrem hübschen Gesicht sicherlich vor allem daher rührte, dass sie „nach so langer Zeit“ und dann auch noch ganz unverfänglich mit ihrem Ehemann zusammen den ganzen Abend „endlich wieder“ zumindest die Rückseite von ihrem „lieben Darius“ sehen konnte?
Eventuell tat er ihr ja Unrecht, immerhin war sie sicherlich stets an der Seite von Direktor Berentz, wenn es einen öffentlichen Anlass gab und hatte vielleicht nicht einmal eine Wahl gehabt.
Trotzdem konnte Alfred ihr nicht in die Augen sehen.
Da konnte sie ihr Haar noch so adrett hochgesteckt haben, da konnten ihre Wimpern beim koketten Augenaufschlag noch so lang wirken und vor allem konnte sie ihn noch so strahlend anlächeln, als sie ein paar Schritte um den Tisch herum zu ihm trat, während ihr Ehemann und Alfreds Vater in Erinnerungen schwelgten.
Es änderte nichts an der vorherrschenden Situation, von der sie zugegeben nichts wusste, weil sie ja nicht ahnen konnte, dass Alfred die beiden Turteltäubchen miteinander gesehen hatte.
„Wir haben lange nicht mehr gesprochen!“, Theresa schien wirklich eine Unterhaltung beginnen zu wollen, „Ich kann es kaum erwarten, euch bald zu hören – man sagt, gerade du hättest einige Arbeit geleistet, der alten Garde wieder zu neuem Glanz zu verhelfen!“
Alfred hob eine Augenbraue und sah sie kurz zweifelnd an.
Er hatte ja noch nie viel darauf gegeben was „man“ neuerdings so „sagte“ – in diesem Fall klang es allerdings geradezu wie Spott auf höchstem Niveau.
Statt aber überhaupt anzufangen, all das zu sagen, was ihm wirklich zu dieser höchst seltsamen Fehlinformation einfallen würde, lachte er etwas hilflos auf und meinte bloß, „Das wird sich dann wohl in vier Tagen herausstellen.“
Theresa Berentz lächelte sanft.
„Ich werde da sein!“, beteuerte sie und Alfred glaubte ihr sogar.
Allein weil es ohnehin schon immer eine Selbstverständlichkeit dargestellt hatte, dass sie zu jedem Anlass stets fein zurechtgemacht und immer lächelnd an der Seite ihres Mannes als seine scheinbar bessere Hälfte auftrat.
Was eine Frau wie Theresa allerdings dazu bewegt hatte, in zarten Jahren ausgerechnet den zumindest in seinen Augen zutiefst unausstehlichen Ferdinand Berentz zu heiraten, war für Alfred unverständlich.
Damals hatte ihr die gesamte Welt zu Füßen gelegen, sie hatte alles gehabt was sich ein junges Mädchen wünschen konnte – jede Menge Talent, eine gute Ausbildung, außergewöhnliche Schönheit, eine scharfe Zunge und ein noch viel schärferer Verstand – noch dazu hatte sie auf Alfred mitnichten den Eindruck einer verwöhnten Diva mit Starallüren gemacht, was er ihr im Kontext ihrer zahlreichen Erfolge mittlerweile hoch anrechnete.
Kurzum: Es war ihm schleierhaft, wie nicht nur sein Vater diesen unangenehmen Mann als Freund betrachten konnte, sondern auch Theresa aus all den damaligen Verehrern scheinbar zielsicher dieses Exemplar auserwählt hatte.
Natürlich hätte Alfred sie gar nicht erst kennen gelernt, hätte Ferdinand Berentz nicht seine Eltern durch die damals noch um einiges engere Freundschaft zu seiner Hochzeit mit eben dieser Frau eingeladen. Und hätte Berentz nicht darauf bestanden, dass Alfred mit ihr ein Duett sang, wäre sie wohl immer die für ihn gesichtslose Frau Berentz geblieben, mit der der Direktor eben verheiratet war.
Er maßte sich nicht an zu vermuten, dass es an seinem Vermögen und seinem Einfluss lag. Vielleicht war er durchaus charmant gewesen oder mochte aus irgendeinem anderen Grund auf die Damenwelt anziehend gewirkt haben – eventuell war Alfreds Erinnerung sogar fehlerhaft und Berentz war erst mit den Jahren und der fortschreitenden Alkoholsucht zu diesem Ekelpaket von Mensch geworden.
Dennoch rechtfertigte diese augenscheinliche Misere nicht im Geringsten, dass Theresa sich heimlich mit einem anderen Mann traf. Zumindest in Alfreds Augen blieb dies Grund genug, sich nur halbherzig auf die Unterhaltung einzulassen.
„--nis sondergleichen darstellt. Findest du nicht, Alfred?“
Theresas Stimme riss ihn aus seinen durchaus verurteilenden Gedanken, aber ihr fast schon besorgter Blick auf sein panischen Zucken hin ließ ihn sich trotzdem schlecht fühlen, dass er ihr dank des üblichen Gedankenkreisens überhaupt nicht zuhörte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und hob zaghaft die Hand, als hätte sie die Absicht, diese auf Alfreds Arm zu legen.
Er wich so unauffällig wie möglich aus und zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht:
„Entschuldige bitte, ich war kurz unachtsam. Der allgemeine Lärmpegel hier drin ist kaum auszuhalten!“
Für Theresa war diese kleine Ausrede anscheinend ein Grund, Alfred noch tiefer in diese kuriose Situation hineinzureiten.
„Am besten wir sprechen nach dem Konzert an einem ruhigeren Ort. Wir könnten ja danach noch eine Runde an der frischen Luft drehen, wenn du Lust hast?“, schlug sie vor und Alfred verschluckte sich beinahe an seiner Orangenlimonade.
Sein Blick glitt kurz zu Ferdinand Berentz, der Kurt gerade mit schallendem Lachen als Kompliment für einen guten Scherz auf den Rücken klopfte und mit wahrscheinlich ebenbürtig leeren Worten das Gespräch weiterführte.
„Immerhin scheinen dein Vater und mein Mann sich ja sehr viel zu erzählen zu haben!“, sagte Theresa lächelnd und zwinkerte Alfred zu.
Er fühlte sich unbehaglich und umklammerte die kleine Flasche in seiner Hand, als suche er nach Halt. Ihm fielen nicht viele Wege ein, wie er dieses Angebot abschlagen konnte, ohne dabei die Höflichkeit aus den Augen zu verlieren – aber in erster Linie überlegte er gerade, wie er sich davor drücken konnte, überhaupt etwas dazu sagen zu müssen.
Natürlich konnte er sich jederzeit für einen Moment auf die Toilette entschuldigen oder besser gleich einen Ohnmachtsanfall vortäuschen, aber etwas, was im Nachhinein weniger weitere Fragen aufwerfen würde, fiel ihm wirklich nicht ein.
Ein Glück, dass die Menschenmassen sich langsam in Bewegung setzten, um ihre Plätze im Konzertsaal einzunehmen.
Selbst Berentz entging dieses Detail nicht und er sah auf seine Uhr.
„Mensch Kurt, wir müssen unbedingt nachher weitersprechen“, stellte er fest und leerte sein Glas in einem Zug, „In jedem Fall hoffe ich natürlich, dass dir das deutsche Requiem auch heute so gut wie die Male zuvor gefällt! Wir sehen uns später, dann trinken wir noch ein Gläschen auf gute alte Zeiten.“
Alfred lächelte Theresa entschuldigend an.
Er war schon im Begriff, sich umzuwenden und sich in die Höhle des Löwen zu begeben, da hielt sie ihn noch einen Moment auf.
Sie fasste ihn nun doch sanft am Arm, ohne dass Alfred etwas dagegen tun konnte.
„Das heißt, wir sehen uns später noch?“
Alfred verschlug es fast die Sprache über so viel Hartnäckigkeit, aber dann musste er gestehen, dass er gerade ohnehin nicht sehr gesprächig war.
Er konnte sich keinen Reim daraus machen, wieso sie die Zeit nach dem Konzert nicht schon für ihren lieben Darius eingeplant hatte, aber Alfred wunderte in den letzten Tagen wirklich überhaupt nichts mehr.
So gab er sich einfach einen Ruck, immerhin lag der Blick seines Vaters in seinem Nacken, als wolle er ihn auffordern, sich zu beeilen.
„Selbstverständlich“, sagte er also zerknirscht und lächelte gezwungenermaßen.
Theresa strich ihm sanft über den Arm, ehe sie ihn losließ und sie klang tatsächlich ehrlich erfreut über die Zusage.
„Fabelhaft!“, sie schenkte Alfred ein strahlendes Lächeln, „Ich freue mich!“
Dann wandte sie sich zu Berentz, der schon einen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte und sie mit sich in den Saal führte, als wäre nie etwas gewesen. Alfred musste sich das schockierte Kopfschütteln verkneifen, als er den beiden hinterhersah.
„Willst die alberne Flasche etwa mit reinnehmen?“, fragte sein Vater und Alfreds Blick fiel auf sein kaum angerührtes Getränk.
Achtlos stellte er die Flasche kurzerhand zu den Überresten von Berentz‘ Gelage und folgte seinem Vater hastig, der noch in seinen Taschen kramte und ihm das Programmheft in die Hand drückte, als wolle er sich über Alfred lustig machen.
Manchmal kam er sich vor wie in einem schlechten Katastrophenfilm.
Eine Geschichte, in der alles nur Erdenkliche schief ging – in einer endlosen Aneinanderreihung von unglaublich absurden Ereignissen, die darin endeten, dass es immer noch schlimmer kam, wenn man gerade dachte, dass es eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen konnte.
Und er hatte wohl die Hauptrolle des Leidtragenden dieses gesammelten Fiaskos erhalten, ohne sich darauf überhaupt beworben zu haben.