Darius fühlte sich, als hätten sich alle Sorgen, Nöte und Probleme auf der Welt in Luft aufgelöst.
Mit Alfreds Jacke über seinen Schultern und dessen Arm um seinen Rücken gab es nichts, was er nicht bezwingen konnte. Am liebsten hätte er sich nie wieder aus der innigen Umarmung gelöst, doch Alfreds sinnierende Frage, ob Bruckner wohl damit einverstanden war, diese private Szene mit anzuschauen, brachte Darius zum Lachen und wieder sofort in eine angenehm alberne Stimmung.
Sie scherzten noch eine gute Weile darüber, was der arme Mann in seinem posthumen Aufenthalt hier im Park womöglich schon alles hatte erdulden müssen. Strauss ging es da sicherlich auch nicht besser, doch wenn sie noch beim Fluss ankommen wollten, sollten sie sich wohl besser mal auf den Weg machen.
Die Unterhaltung fiel schnell wieder auf Enten und das geplante Kaffeehaus, bald schon aber erstreckte sich der Gesprächsstoff über verschiedenste Themen, die um einiges persönlicher und weniger albern waren.
Darius genoss die Art, wie Alfred eine Konversation führte.
Bei anderen Menschen hatte er oft das Gefühl, dass sie entweder nur von sich sprachen oder aber schrecklich neugierig waren. Viele Leute gingen ihm allein mit der gewählten Thematik derartig auf den Zeiger, dass er schon gar keine Lust mehr auf ein Gespräch hatte.
Alfred aber könnte er stundenlang zuhören, wenn er zwischen Antworten, Fragen und Mutmaßungen immer wieder kleine Anekdoten einstreute und dass sie dabei vom Hundertsten ins Tausendste kamen, störte ihn keinesfalls.
Sie lachten viel und Darius hatte das Gefühl, als hätte er nie einen anderen Menschen getroffen, der die Balance zwischen Taktgefühl und Interesse so gut zu beherrschen schien. Die Unterhaltung floss ohne Mühe, sie sprachen beide zu gleichen Teilen, keiner schnitt dem anderen das Wort ab.
Darius war sich gar mehr nicht so sicher, ob Alfred wirklich ein Genie der Rhetorik war und Konversation immer so betrieb, wenn er die Chance dazu hatte.
Vielleicht war das von Mensch zu Mensch unterschiedlich und ein Zeichen dafür, wie gut sie eigentlich miteinander harmonierten, wenn sie nur miteinander redeten, anstatt sich nur den Kopf darüber zu zerbrechen.
Sie hatten beschlossen, dass sie doch noch einen Umweg an den See im Park machen würden, wenn sie schon einmal hier waren. Dabei kamen sie vom Fachsimpeln über musikalische Darbietungen über eine kurze Revue des vergangenen Konzerts und eine augenzwinkernde Charakterisierung der Orchestermitglieder bis zu abwechselnden Erzählungen von Urlaubserinnerungen.
Alfred war gerade dabei, mit Händen und Füßen von seinem letzten Besuch in Paris vor einigen Jahren zu erzählen und war bereits bei der abenteuerlichen Rückreise angekommen.
„Es tut uns wirklich außerordentlichen Leid, Frau Sigmund, aber Ihr Handgepäck ist übersteigt das zugelassene Höchstgewicht um ganze zwei Kilo! – Wir waren komplett verwirrt, weil sie mit eben genau diesem Koffer mit eben genau diesem Inhalt auf dem Hinflug absolut keine Probleme gehabt hatte. Bis wir dann erfahren haben, dass die andere Fluggesellschaft andere Richtlinien hat!“
Da bemerkte Darius, dass der zuvor schon öfters beiläufig gefallene Name ‚Renate‘ im Zusammenhang mit diesem zugehörigen Nachnamen doch bekannter vorkam, als er zunächst gedacht hatte.
Mit Fragen wollte er diese Unterhaltung aber wirklich nicht belasten.
„Das ist doch immer so“, meinte er lachend, „Noch schlimmer ist aber die Sache mit den Abmessungen des Gepäcks! Nur ein weiterer Grund auf der Liste, warum ich das Fliegen mittlerweile einfach nur verabscheue.“
Alfred schmunzelte, „Für mich war das neu, immerhin hatten wir bislang immer die deutlich zeitaufwendigere Variante mit dem Wohnmobil genommen. Ich gehe davon aus, dass du da um einiges mehr Erfahrung hast! Dabei hätte Renate es eigentlich vermuten können, sie war da zumindest ebenfalls geübter als ich.“
Nun konnte Darius sich allerdings doch nicht mehr zurückhalten und brach mit seinen guten Vorsätzen, nicht infrage zu stellen, wie selbstverständlich Alfred gerade anscheinend von seiner Verflossenen sprach.
„Diese mysteriöse Renate-“ begann Darius und Alfred sah ihn dann doch kurz unsicher an, als hätte er Angst, etwas Falsches gesagt zu haben.
„Ach, das ist schon lange her“, beteuerte er sofort, „Es war hauptsächlich mein Vater, der immer davon gesprochen hatte, dass wir doch heiraten könnten! Wir für unseren Teil wären mit einer guten Freundschaft auch zufrieden gewesen.“
Darius musste schmunzeln.
Immerhin hatte er gar nicht gemeint, aber ein bisschen ließ es sein Herz höher schlagen, dass Alfred sich überhaupt genötigt fühlte, sich in seiner Gegenwart über eine potenzielle Konkurrentin zu rechtfertigen.
„Keine Sorge, darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus“, meinte Darius mit einem Augenzwinkern, „Aber der Name Renate Sigmund ist mir durchaus ein Begriff. Seid ihr noch in Kontakt?“
Alfred wirkte etwas peinlich berührt und seine nächsten Worte schmeichelten Darius fast schon auf eine gänzlich unpassende Weise in seiner heimlichen Hoffnung, „Tatsächlich ja, wir schreiben uns Briefe. Wenn dir das allerdings- also wenn du das irgendwie- wenn du nicht willst, dass wir-“
Dabei schuldete Alfred ihm streng genommen absolut kein Rechenschaft.
Schon gar nicht, wenn es um Dinge ging, die in der Vergangenheit lagen.
„Alfred, beruhige dich“, sagte er sanft und lächelte, „Ich sehe Renate Sigmund weder auf privater noch auf beruflicher Ebene als Konkurrentin an. Ich wollte dich lediglich fragen, ob du weißt, was sie gerade macht. Klatsch und Tratsch sind da um einiges unzuverlässiger als persönliche Briefe.“
Tatsächlich wirkte Alfred erleichtert.
„Ich muss gestehen, ich weiß lediglich, dass sie in Berlin arbeitet“, erzählte er, „In ihren Erzählungen sind Namen von verschiedensten Ensembles gefallen – ob und wo sie eine feste Stelle hat, weiß ich gar nicht, da kennst du dich bestimmt um einiges besser aus, wie das alles abläuft.“
Darius musste kurz an die Worte von Luise Frey in der Bahn denken, dann entsann er sich wieder seiner eigenen Aussage, dass er auf Klatsch und Tratsch nichts geben wollte.
„Dich fasziniert also die Aura der Macht?“, neckte er Alfred stattdessen, „Wobei ich ja behaupten möchte, dass Renate Sigmund und ich nicht nur stilistisch doch sehr unterschiedlich sind und beide komplett andere Vorzüge haben.“
Alfred wurde rot und druckste herum, bevor er sich jedoch für eine solche Verlegenheit als fast schon überraschend schlagfertig erwies.
„Die Aura der Macht“, lachte er, „Das habe ich tatsächlich noch nie gehört.“
Darius zuckte grinsend mit den Schultern, „Ich habe in meinem Leben bereits zu oft das Wort ‚Diktator‘ im Zusammenhang mit Herbert von Karajan gelesen, als dass ich davon ausgehen könnte, dass dieser Vergleich nicht aufkommt.“
„Ich wage zu behaupten, das war eine etwas andere Zeit damals“, gab Alfred schmunzelnd zu Bedenken, „Für mich ist es viel faszinierender, dass es Menschen gibt, die so viel künstlerisches Verständnis für die Materie und trotzdem genügend organisierte Führungsqualitäten besitzen, dass sie alles im Überblick behalten können.“
Darius lachte, „Dann ist in diesem Fall dann also gar nicht Macht sondern Organisationstalent dein Beuteschema?“
„Bitte?“, Alfred wurde rot und lachte verlegen, ehe er den Begriff etwas entrüstet wiederholte, „Beuteschema- also bitte! Ich dachte eigentlich, das wäre nur ein sehr kurioser Zufall. Meine Güte. Beuteschema – Was für ein Wort!“
„Theresa sagt das immer“, meinte Darius grinsend.
„Mhm“, Alfred schmunzelte, „Wenn also nun Dirigenten mein Beuteschema sind, was ist dann deines?“
Darius schmunzelte und zuckte mit den Schultern, „Laut Theresa finde ich Männer besonders interessant, wenn sie mindestens zehn Jahre älter sind.“
Kurz herrschte Stille, dann mussten sie beide wohl an Ferdinand denken und brachen in schallendes Gelächter aus.
„Da sollte sie mal nicht zu sehr mit dem Finger zeigen“, meinte Alfred und konnte nicht aufhören zu lachen, „Womöglich liegt das in der Familie?“
Erst als sie sich wieder etwas beruhigt hatten, traute Darius sich schließlich, das Thema noch ein bisschen zu vertiefen, ohne vorsichtig nachzufragen, ob sie gerade nur ein bisschen flirteten oder etwa über ihre Gefühle füreinander sprachen.
„Ohne dir zu nahe treten zu wollen-“, begann Darius.
Alfred lachte und zog Darius beim Laufen noch einmal spielerisch näher an sich, „Ich habe absolut nichts dagegen, wenn du mir zu nahe trittst!“
„Also, was ich meine“, Darius schnaufte und strich sich verlegen durchs Haar, „Ich gehe ja immer davon aus, dass ich mit meiner Vorliebe für Männer auch in der heutigen Zeit noch einer Minderheit angehöre – Aber bei dir nahm ich an, dass- ähm. Was ich sagen will-“
Alfred hob schmunzelnd eine Augenbraue.
Darius fühlte sich gerade extrem albern, immerhin sollte er sich darüber vielleicht nicht so viele Gedanken machen, wenn die Zeichen doch eigentlich eindeutig schienen in diesem Moment.
„Ich muss zugeben, bisher nicht gerade viel mit Liebesgeschichten am Hut gehabt zu haben“, meinte Alfred verlegen, „Das mit der Renate hatte sich irgendwann erledigt und ansonsten war da nicht viel, was man überhaupt hätte ernst nehmen können. Aber-“
Darius sah ihn erwartungsvoll an.
Alfred kratzte sich am Kinn und druckste herum, „Ich kenne mich da ja nicht aus, aber auch wenn ich da bislang nie darüber nachgedacht habe, würde ich nicht behaupten, dass ich jemals irgendwie in der Vergangenheit mal, also abgesehen von der Tatsache dass-“
Er lachte etwas hilflos und tat Darius dabei fast schon leid.
Ihm war bewusst, dass sie sich beide davor drückten, den ersten Schritt in Richtung einer Thematisierung des eigentlich benötigten Gesprächs zu machen.
Aber vielleicht war es dafür auch einfach noch viel zu früh.
„Das ergibt gar keinen Sinn“, Alfred seufzte, dann schmunzelte er allerdings.
Er wirkte, als wolle er noch etwas sagen, darum gab Darius ihm die Zeit.
„Ich dachte bislang wirklich, dass Frauen mein Beuteschema sind. Wenn wir nun allerdings meine Faszination für Macht und Taktstöcke erörtert haben-“, er räusperte sich leise und wirkte mit einem Mal sehr unsicher.
Fast schüchtern lächelte er Darius an, „Ich habe nie darüber nachgedacht. Aber ich würde es aus aktuellem Anlass auch nicht komplett ausschließen, mich für dasselbe Geschlecht interessieren zu können.“
Darius spürte, wie er errötete.
Strauss neben ihnen verkam komplett zur Nebensache und er registrierte gar nicht mehr wirklich, dass sie eigentlich vor hatten, nur schnell die Denkmäler zu besichtigen und dann ins Café zu gehen.
Dafür war es in dieser trauten Zweisamkeit einfach zu schön und die Gespräche dabei um einiges zu wichtig.
„Um wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen“, sagte Alfred schließlich verlegen, „In jedem Fall bin ich mit Renate noch gut befreundet. Sie hat mir wohl verziehen, dass ich kurz vor der Hochzeit kalte Füße bekommen habe.“
Darius starrte einige Momente und musste so vom Donner gerührt wirken, dass Alfred sich zu erklären versuchte.
„Wir waren tatsächlich verlobt“, erklärte er mit hochrotem Kopf, „Aber dann- irgendwie hat es sich nicht so angefühlt, als könnte ich das wirklich durchziehen.“
Er musste wohl immer noch ein bisschen schockiert wirken, deswegen lachte Alfred verlegen, „Ich habe schon einiges zu diesem Thema zu hören bekommen. Renate war von der Aktion um einiges weniger schockiert als mein Vater!“
Darius lächelte schief.
„So wurde aus der Frau Sigmund dann doch keine Frau Wunderlich“, versuchte er sich an einem kleinen Scherz und Alfred lachte ausgelassen.
„Solange ich nicht wieder spontan zum Herrn Wunderlich werde-“, meinte er dann schmunzelnd und Darius fühlte wie ihm das Blut in den Kopf stieg.
Er sah Alfred an und schaffte es nicht ganz, ihm ein Lächeln zu schenken.
Natürlich schien dieses Missverständnis sich nun hinreichend geklärt zu haben, aber dennoch fühlte er sich furchtbar schuldig.
„Wenn ich gewusst hätte, wie sehr dich das beschäftigt, ich hätte nie-“, begann Darius und brach ab, um kurz durchzuschnaufen.
Alfred sah ihn noch immer lächelnd an, wirkte aber ebenfalls noch um einiges unsicherer, nun da sie auf dieses Thema wieder zu sprechen gekommen waren.
„Es tut mir sehr leid“, sagte Darius dann leise.
Vielleicht sollte er sich wirklich nicht rechtfertigen, sondern einfach nur ehrlich entschuldigen. Das war bestimmt um einiges mehr wert und Alfred schien es ihm im Stillen zu danken.
„Mach dir darüber keine Gedanken“, meinte Alfred und legte wieder den Arm um ihn, „Es muss dir nicht leid tun. Ich- ich denke ich habe es einfach nur falsch verstanden. Ich war sehr vor den Kopf gestoßen, ja. Ich habe kurz mein gesamtes Leben infrage gestellt, aber-“
Darius sank geradezu gegen diese sanfte Berührung.
Auch wenn Alfred es so klingen lassen wollte, als wäre es nicht der Rede wert, fühlte er sich noch immer schlecht, ihn damit verletzt zu haben.
„Wenn die Sache irgendetwas wirklich einfacher gemacht hat“, begann Alfred mit einem Mal sehr ernst, „Dann hat sie mir geholfen, meine Prioritäten endlich richtig zu setzen.“
Darius sah ihn fragend an.
„Was ich damit meine“, fuhr Alfred fort, „Wenn es dir schwer fällt, Berufliches von Privatem zu trennen, Darius- Wenn das der einzige Grund ist, dann-“
Er sah ihm direkt in die Augen und ließ sein Herz so fest voller unheimlich intensiver Gefühle schlagen, dass es fast weh tat.
„In diesem Fall“, sagte Alfred nämlich, „Würde ich sofort bei Berentz die Kündigung einreichen.“
Darius lächelte aus vollstem Herzen.
Egal wie töricht diese Aussage in der praktischen Umsetzung auch klang und egal wie sehr er ihm davon abraten würde, wenn er das wirklich tun würde – gerade war er einfach nur dankbar darüber, dass zumindest Alfred den Mut besaß, wenngleich auch etwas indirekt und umständlich aber doch unmissverständlich klar zu machen, wie es um seine Gefühlswelt stand.
Und je mehr diese Erkenntnis in sein Bewusstsein drang, desto zuversichtlicher wurde er und desto mehr bestärkt fühlte er sich in seinen eigenen Gefühlen.
„Was für ein Unsinn“, flüsterte er aber schmunzelnd, „Sowas Unvernünftiges würde ja nicht einmal mir einfallen!“
Alfred lachte verlegen, aber Darius griff sanft nach seiner Hand und zaghaft verflochten ihre Finger sich ineinander.
Er sah in Alfreds Augen, verlor sich für einen Moment darin und war sich bewusst, dass er mittlerweile über das gesamte Gesicht strahlen musste.
„Wir schaffen das“, sein Daumen strich sanft über Alfreds Handrücken, „Auch ohne dass du dabei arbeitslos wirst.“
Lange sahen sie sich einfach nur an und schafften es nicht, ihre Hände wieder voneinander zu lösen, ehe Darius nun Alfred wieder fest in seine Arme zog.
„Immerhin wäre ich auf Arbeit komplett verloren ohne meinen liebsten Konzertmeister“, flüsterte Darius ihm ins Ohr und legte den Kopf an seine Schulter.
Einige Momente schlugen ihre Herzen einfach nur denselben Takt.
Sie waren beieinander angekommen.
Alles andere war nicht mehr wichtig.
Den Weg zu Schubert liefen sie Hand in Hand.