Gerade als Darius wieder die Augen öffnete, weil Jasper nach beendetem Stück den Bogen absetzte, klopfte es an der Tür. Womöglich hatte der Violinist auch aus eben diesem Grund zu spielen aufgehört, Darius konnte es nicht ganz nachvollziehen, denn er fühlte sich, als würde er aus einem leichten Halbschlaf aufschrecken, in den er durch die innere Ruhe gefallen war, die sich immer weiter in ihm ausgebreitet hatte.
„Herein“, ließ er trotz der Tatsache verlauten, dass es Theresa eigentlich gar nicht ähnlich sah, vor der Tür auf eine Antwort von ihm zu warten.
Jasper wirkte nicht so, als hätte er vor, die Geige alsbald wieder wegzupacken, er hielt sie nur wie ein kleines Kind sanft im Arm umfasst und sah erwartungsvoll zu Darius, der zugegeben schon im nächsten Moment kaum noch Kapazität mehr für ihn frei hatte.
Vor der Tür hatte nämlich nicht Theresa gestanden. Herein traten zwei Menschen, mit denen er nun in diesem Moment absolut nicht gerechnet hatte – ein sehr großer und ein sehr kleiner Mensch, von denen letzterer über das ganze Gesicht strahlte und sofort auf ihn zugelaufen kam.
„Onkel Darius!“, rief Nina übermütig, setzte zu einer stürmischen Umarmung an, stoppte aber ein paar Schritte vor dem Bett und sah betreten zu ihm.
„Entschuldigung“, meinte sie leise, dann legte sie den Kopf schief, „Aber du siehst auch jetzt noch nicht ganz tot aus. Nur so halb, aber nicht ganz! Also darf ich dich sicherlich trotzdem umarmen.“
Darius musste lachen und breitete die Arme aus, um Nina dazu zu ermuntern, ihn genauso nervtötend und aufdringlich wie sonst zu überfallen. Alles andere würde sich in dieser Situation furchtbar anfühlen.
Noch während sie sich an ihn drückte und die Arme fest um ihn schlang, wandte sie jedoch den Blick schon zu Jasper und fragte naseweis: „Warum sitzt jetzt ein ganz anderer Mann auf deinem Bett? Und wo ist Alfred?“
Mit hochrotem Kopf räusperte sich Darius eindringlich, aber Jasper grinste nur vielsagend von einem Ohr zum anderen. Am liebsten wäre Darius im Erdboden versunken, aber Jasper schien gar nicht mal so schockiert wie erhofft.
„Ich heiße Jasper“, piepste er trotzdem ein bisschen unsicher und reichte ihr die Hand, bevor er bei seiner Erklärung ins Stocken geriet, „Ein- ähm, Arbeitskollege? Früherer Schulkamerad und zufällig wiedergefundene Bekanntschaft-“
„Ein sehr guter Freund von mir“, half Darius ihm auf die Sprünge und Jasper wirkte kurz überrascht, dann strahlte er.
Nina schien noch nicht ganz zufrieden, anscheinend hatte sie noch nicht genug Chaos gestiftet für ihren eigenen Geschmack.
„Weiß Alfred, dass du dich mit anderen Männern triffst?“, fragte sie.
Gabriel lachte schallend und es klang nicht fröhlich.
Mit verschränkten Armen stand er noch relativ nah bei der Tür und kurz lagen alle anderen Blicke auf ihm. Mit nach oben gezogenen Augenbrauen sah er Darius an und schüttelte den Kopf.
Darius rutschte das Herz in die Hose.
Er konnte seinen Blick geradezu auf dem Bluterguss an seiner aufgeplatzten Lippe hängen sehen. Theresa hatte es ihm erzählt. Natürlich hatte sie das.
„So wie der aussieht, will ich gar nicht wissen, mit welchen Männern er sich noch so trifft“, sagte Gabriel scharf, schien jedoch im Nachhinein tatsächlich doch zu bemerken, dass es in Gesellschaft seiner Tochter und einem Außenstehenden unangebracht war.
Stattdessen kam er näher zum Bett und fasste sich dann wohl ein Herz, Darius mit einem resignierten Kopfschütteln die Hand zu reichen.
„Scheiße Mann, du siehst aus wie ein Zombie“, grüßte er charmant.
Aber Darius hatte es längst überkommen und ohne darauf zu warten, ob Gabriel etwas dagegen äußern würde, löste er sich kurz von Nina und zog seinen Bruder in eine zaghafte Umarmung.
Gabriels Rücken versteifte sich, schien kurz komplett überfordert, ließ sich aber bereitwillig darauf ein und tätschelte unbeholfen Darius' Schulter. Dieser fühlte sich, als würde sein Herz zerbersten. Egal ob er nur wegen seiner Tochter da war, egal ob Nina ihn womöglich ewig hatte überreden müssen – Er war da.
Nach allem, was gewesen war, besuchte Gabriel ihn im Krankenhaus.
Es schien womöglich für andere Menschen wohl wie eine Selbstverständlichkeit, doch das war es nicht und für Darius bedeutete es gerade die Welt. Bei normalen Menschen mit einem normalen Verhältnis zueinander mochte es nicht der Rede wert sein.
Doch es fühlte sich an, als wäre gerade diese Umarmung allein für sie beide schon ein riesengroßer Schritt in die jeweilige Richtung des anderen und nach allem, was sie voneinander getrennt hatte, wieder aufeinander zu.
Darius spürte, das seine Augen feucht wurden, doch vor Gabriel wollte er sich diese gefühlsbetonte Blöße wirklich nicht geben.
Glücklicherweise wurde die lang ersehnte traute Zweisamkeit schnell durch das Gespräch der beiden anderen im Raum unterbrochen, von dem Darius gerade ein paar Fetzen aufschnappte.
„-wollte eigentlich nur deinen Onkel ein bisschen aufmuntern, aber wenn du magst, sehr gern!“, sagte Jasper und Nina jauchzte.
Gabriel wandte sich an den Violinisten, als dieser sehr zu Darius‘ Überraschung sein allerliebstes Heiligtum aus der Hand gab und vorsichtig an Nina weiterreichte.
„Gabriel“, stellte er sich knapp mit einem festen Händedruck vor, dann hob er fragend eine Augenbraue, „Haben wir uns schon mal gesehen? Du kommst mir irgendwie doch bekannt vor.“
„Jasper“, stellte sich Jasper vor und schenkte ihm ein unsicheres, schiefes Lächeln, „Naja- Prinzipiell kennen wir uns, aber das ist schon ganz lange her!“
„Ja?“, fragte Gabriel verwirrt und sah kurz hilfesuchend zu Darius.
Jasper winkte ab und seine Stimme klang ein bisschen dünn, „Ach, das ist nicht schlimm, wenn du mich vergessen hast – Ich würde mich wahrscheinlich auch nicht mehr an mich erinnern.“
„Jetzt aber-“, meinte Darius sanft, um ihn ein bisschen aufzuheitern, „Wir waren damals picklige Teenager mit fettigen Haaren, es ist also durchaus ein Kompliment, wenn er dich nicht mehr wiedererkennt!“
„Ach!“, machte Gabriel aber, als würde es ihm gerade wieder einfallen, was zugegeben in diesem Zusammenhang ein bisschen unglücklich gewählt war, „Du warst der Typ mit der Geige!“
Jasper gluckste, „Daran hat sich nicht viel geändert, fürchte ich.“
„Nein, im Ernst“, Gabriel fuhr fort, „Da waren wir mit der ganzen Band in Wien, weil Theresa Geburtstag hatte und du warst bei Darius zu Besuch. Ich hatte dich gefragt, ob du ein Apocalyptica-Cover für mich spielst und du hast mir erklärt, was der Unterschied zwischen einem Cello und einer Geige ist!“
Jetzt musste auch Jasper lachen.
Wahrscheinlich konnte er genauso gut wie Darius einschätzen, dass Gabriel weder empathisch noch kreativ genug war, um sich das alles nur auszudenken, damit er sich besser fühlte. Darius erinnerte sich zwar nicht mehr an diese Szenerie, hatte aber doch noch dunkel in Erinnerung, dass Gabriel wirklich einmal geplant hatte, Jasper für ein damals geplantes Folkmetal-Projekt abzuwerben, das sich kurze Zeit später zugunsten der Hauptband im Sande verlaufen hatte.
Jaspers Stimme klang immer noch etwas piepsig, aber er strahlte über das ganze Gesicht, „Du wolltest dann ein Lied schreiben, in dem ich eure Band mit einer elektrischen Violine begleiten sollte und hast mich gefragt, ob ich Tabulatur lesen kann. Dann habe ich gefragt, ob ich dir Notenlesen beibringen soll und du sagtest, dass du keine Noten brauchst und dich schon aus Prinzip weigerst und dann sagte ich-“
Erst als die Violine erklang, brach er ab.
Kurz musste Darius erst begreifen, dass Jasper sich nicht selbst unterbrochen hatte, weil er wieder Lust auf Musik bekommen hatte – sondern dass Nina die Geige in der Hand gehalten hatte.
Sein Blick fiel auf sie und dann stand ihm der Mund offen. Eine ganze Weile lang starrte er wie vom Donner gerührt auf seine kleine, schrecklich anhängliche Nichte, die komplett lernresistent beim Klavierspielen gewesen war und nun Jaspers heiliger Violine unheimlich wundervolle Töne mit einer fast herzzerreißender Hingabe entlockte.
Nina war nicht komplett unfähig. Nina war einfach nur keine Pianistin.
Es erschütterte sein Weltbild mehr, dass er das nicht einmal mehr gewusst hatte. So wie sie spielte, musste sie früh damit begonnen haben- und so weh es ihm auch tat, Darius musste sich wieder einmal eingestehen, sich noch nie so wirklich innig für diesen kleinen Menschen interessiert zu haben. Das hatte er nun davon. Sie belehrte ihn nicht nur durch ihre aufdringliche, aber irgendwie doch zuckersüß treudoofe Art eines Besseren, sondern auch damit, dass sie nicht nur beim Musikhören ähnliche Interessen hatten – Sie strafte seine Ignoranz und seine vorschnellen Schlüsse über ihre musikalische Unfähigkeit am Klavier, indem sie verdammt gut auf einem ganz anderen Instrument war.
Selbst Jasper klatschte begeistert in die Hände, als sie ihr kleines Stück beendete und Darius musste wohl so schockiert wirken, wie er sich fühlte, denn Gabriel zwinkerte ihm nicht ohne Stolz zu und meinte: „Da siehst du mal, Onkel Darius. Meine Tochter ist ein musikalisches Genie- das muss an ihren Genen liegen!“
„Ja klar!“, Nina lachte ausgelassen, „Darius und ich sind ja auch miteinander verwandt, also wundert es dich?“
Jasper prustete und Gabriel rollte nur schmunzelnd mit den Augen.
„Jetzt spiel du nochmal was“, forderte sie Jasper auf, „Ich mag dir zuhören und wenn ich zuschaue, kann ich sicher noch einiges lernen!“
Der Angesprochene wurde krebsrot im Gesicht, dann nahm er seine Violine wieder an sich und nickte zaghaft. Allerdings ging diesmal Gabriel dazwischen.
„Ihr zwei Virtuosen könnt doch nicht auf Dauer das ganze Krankenhaus beschallen“, beschwerte er sich, „Ihr könnt gern noch ein bisschen fachsimpeln- aber am besten woanders, zum Beispiel auf dem Weg zur Cafeteria unten, wo ihr mir einen schönen, heißen Kaffee holen und nach oben bringen könnt!“
Nina zog einen Schmollmund, „Aber- Aber wieso?“
Gabriel verdrehte die Augen und Darius konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Nina brachte also auch ihn mit ihrer Neugierde zur Verzweiflung – und das obwohl er sich daran ja eigentlich schön längst hätte gewöhnen müssen.
„Wir sind hier in einem Krankenhaus“, erklärte er, „Die Menschen hier brauchen Ruhe und die sind nicht alle so verrückt, dass sie Geigenklänge für ihr Wohlbefinden gebrauchen können. Und leider hört man so ein Ding durch alle Wände durch und bevor sich jemand beschwert- ich möchte ungern hier rausgeschmissen werden!“
„Wir können ja deinem Vater einen Kaffee holen und ich spendiere dir einen Kakao- oder was auch immer du trinken möchtest“, versuchte Jasper schüchtern, die Situation zu retten.
„Aber ich will bei Onkel Darius bleiben!“, beschwerte sich Nina.
Darius seufzte, musste aber lächeln.
„Du kannst mir einen riesengroßen Gefallen tun und mir auch einen Kaffee mitbringen“, lenkte er ein und Nina sah schon etwas gnädiger gestimmt aus.
Sie nickte hastig und fasste Jasper ungefragt an der Hand.
„Na gut, ich seh' schon, ihr wollt mich loshaben“, meinte sie schulterzuckend, „Aber ihr habt bestimmt sowieso irgendwas voll Langweiliges zu besprechen, deswegen gehe ich jetzt mit meinem neuen Freund einen Kakao trinken! Ätsch!“
Jasper hatte kaum Zeit, seine Violine wieder sorgfältig im Koffer zu verstauen, denn als er ihn schloss, wurde er von Nina mit in Richtung Tür gezogen und ihre neugierigen Fragen zu seiner Arbeit im Orchester waren auch noch auf dem Gang zu hören, wie sie zusammen mit den Schritten der beiden immer leiser wurden.
Gabriel seufzte schwer, dann schloss er die Tür zum Krankenzimmer und lief zurück zu Darius, dem mit einem Mal ganz mulmig wurde. Der Blick seines Bruders sprach Bände davon, dass er wirklich hatte allein mit sein wollen. Und irgendwie hatte Darius eine Ahnung, worum es gehen würde.
Gabriel hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wollte er ihn einschüchternd zur Rede stellen, für Darius aber wirkte es gerade auch ein bisschen so, als wolle er sich selbst mit dieser Abwehrhaltung schützen, um sich die ganze Problematik nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen.
Darius war hin- und hergerissen zwischen Panik vor einer Erklärungsnot und einer schüchternen Stimme in seinem Hinterkopf, die meinte, dass es doch eigentlich schön sei, wenn Gabriel Interesse zeigte. Nur halt eben nicht so. Nicht auf diese Art und Weise und nicht zu diesem Thema.
„Weißt du“, begann Gabriel und klang dabei fast wie Theresa, sodass Darius schlucken musste, „Ich wollte eigentlich nur sagen- Nein, ich wollte dich fragen, ob du wirklich so bescheuert bist, dass du- Scheiße Mann, das ist doch krank!“
Gabriel gab sich wohl Mühe, eiskalt zu wirken, doch er schaffte es eindeutig überhaupt nicht. Seine Stimme wurde erst lauter, dann brach er ab und sie klang so brüchig, dass Gabriel nicht einmal mehr heuchelnd behaupten konnte, dass Darius ihm wirklich rein gar nichts bedeutete.
Es versetzte Darius einen schmerzhaften Stich ins Herz. Einerseits war da die Hoffnung, dass es doch noch eine Chance gab, irgendwann einmal so etwas wie eine freundschaftliche Geschwisterbeziehung aufzubauen, doch andererseits hatte das noch nie wirklich geklappt und die Überzeugung, dass Gabriel ihn grundsätzlich hasste, war sowieso auf seinem eigenen, vielleicht auch nicht komplett begründeten Mist gewachsen.
„Wenn ich den Kerl erwische, wenn ich seine hässliche Rattenfresse noch ein einziges Mal sehen muss, Darius, ich schwöre dir, der Mann ist tot!“, raunzte Gabriel und unterbrach seinen kläglichen Versuch, etwas dazu zu sagen, um weiterzureden, „Ich habe lange genug zugesehen, was er mit dir macht- Ich habe es satt, dass wir darüber reden und vor allem habe ich satt, dass du ihn verteidigst.“
Darius wandte den Blick ab und schnaufte tief durch.
Gabriel zog den Stuhl ans Bett und setzte sich Darius gegenüber, um ihn eindringlich zu mustern.
„Der Kerl macht dich kaputt und bevor er dich schlussendlich doch noch ins Grab bringt, drehe ich ihm mit bloßen Händen den Hals um!“, wiederholte Gabriel seine Aussage noch etwas bildlicher detailliert.
Darius seufzte leise.
„Das hat doch keinen Sinn“, meinte er leise.
Es war unwahrscheinlich, dass diese Diskussion mit Gabriel zu irgendetwas führen würde. Eigentlich sollten sie nun einfach schweigend einander ignorieren, bis die beiden anderen zurückkamen.
Viel eher würde Gabriel aber nun nachfragen und jede mögliche Antwort würde ihn dazu bringen, noch aggressiver zu werden und letzten Endes würden sie einander wieder anschreien. Vermutlich würde er sogar einfach das Zimmer verlassen und nur noch einmal kurz mit Nina zurückkommen, damit diese sich verabschieden konnte. So würde das laufen.
Es war absehbar, dass sie auf einen grünen Zweig kamen. So war es immer gewesen und Darius erwartete schon gar nichts anderes mehr.
Viele Dinge im Leben liefen zwar ohnehin nicht so, wie man sie erwartete, aber dass ein solcher Kontrollverlust etwas Gutes bringen würde, wagte Darius schon gar nicht mehr zu hoffen.
Umso erstaunlicher, dass es eben diesmal genau so war.