Von Alfred war ihm nichts geblieben – nichts außer den roten Rosen auf dem Nachtschrank und eine ungelesene Nachricht auf seinem Telefon, das ihm sagte, dass er wohl eine gute Weile geschlafen haben musste.
Mein Liebling, begann sie diesmal.
Ich bin gerade zuhause angekommen und doch weiß ich nicht wohin mit mir. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich gegangen bin, ohne mich zu verabschieden, aber ich wollte dich nicht wecken. Dich schlafend in meinen Armen zu halten, hat mein Herz geheilt, aber du brauchst Ruhe, um gesund zu werden.
Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist und ich dir nicht die Sicherheit geben kann, die du brauchst. Nichts sehnlicher wünsche ich mir, als an deiner Seite zu stehen und mit dir allen Ängsten zu trotzen.
Ich wünschte, ich könnte vielleicht irgendwann auch für dich sein, was du für mich bist. Für dich tun, was du für mich getan hast. Dir denselben Mut schenken, den du mir gegeben hast. Den Mut, etwas zu wagen.
Die Zuversicht, dass es nicht umsonst sein muss. Den Willen, die alten Wege zu verlassen und etwas Neues zu beginnen. Sich von der Dunkelheit zu lösen und wieder nach vorn ins Licht zu blicken.
Du bist der Grund, warum ich mir selbst noch einmal eine Chance geben konnte. Die Motivation, mein Leben wieder soweit in den Griff zu bekommen, dass ich es überhaupt wieder ein Leben nennen kann.
Durch dich fühle ich mich lebendig.
Als hätte der Kampf gegen die Krankheit doch einen größeren Zweck gehabt, als noch einige Jahre mehr auf dieser Welt zu existieren – du hast diesen bevorstehenden, leeren Jahren einen Sinn und ein Gesicht gegeben.
Ich möchte sie mit dir verbringen. Möchte dir zeigen, dass nicht alles verloren ist, dass man nur gewinnen kann, wenn man eine schwere Zeit überstanden hat.
Liebster Darius, ich möchte dir dieselbe Hoffnung geben, die du mir gegeben hast. Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Niemand kann sagen, wann und ob das Schicksal uns nochmals zusammenführen wird.
Wir wissen nicht, ob wir eine zweite Chance bekommen.
Ich weiß nicht, ob du eine solche überhaupt wünschen würdest, doch ich kann und möchte dich nicht drängen.
Du sollst dennoch wissen, dass ich hier bin. Dass ich hier bleibe und warte und hoffe und noch immer da sein werde, solltest du dich anders entscheiden.
Ich liebe dich.
Auf ewig, dein Alfred
Darius schloss die Augen und legte das Telefon zur Seite.
Alles in ihm schrie danach, Alfred anzurufen und ihm zu sagen, was für ein unvernünftiger, komplett liebeskranker Idiot er war. Und wie sehr er ihn liebte, sich nach ihm sehnte und doch eigentlich genau dasselbe wollte.
Ihm zu erklären, dass er nicht anders fühlte - und das es trotz allem keine Chance für sie gab. Vielleicht in ihren Träumen, in ihren nicht zu erfüllenden Wunschvorstellungen. Aber nicht in der kalten, bitteren Realität, in der sich unerwartet noch eine neue unberechenbare Variable zwischen das gemeinsame Glück gestellt hatte.
Solange Kristian in seinem Leben existierte, würde Darius nicht frei sein.
Mehrere Stunden lang wartete er auf den angekündigten Anruf und doch kam dieser komplett unerwartet, als es schlussendlich soweit war.
Es gab nichts, was ihn hätte darauf vorbereiten können, trotz allem zitterte er sofort am ganzen Körper, als das Telefon klingelte und dabei die noch nicht eingespeicherte, aber mittlerweile in seine Erinnerung eingebrannte Nummer auf dem Display stand.
Wortlos nahm er den Anruf entgegen.
Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann schnitt sich die wohlbekannte Stimme ihren Weg durch sein Bewusstsein direkt in sein Herz:
„Es freut mich, dass wir uns einig geworden sind. Ich bin stolz auf dich!“
Kristian schien zu triumphieren.
Darius ging davon aus, dass schon allein die Tatsache, dass er den Anruf nicht einfach ignoriert hatte, als Niederlage galt.
„Hast du dich denn entschieden?“, fragte Kristian.
Darius presste die Lippen aufeinander, dann sah er aber keine andere Möglichkeit, als sich zu der Situation zu äußern.
„Habe ich denn eine Wahl?“, stellte er tonlos eine Gegenfrage.
Er hörte Kristians Schmunzeln geradezu durch das Telefon.
„Ja, Darius, du hast die Wahl. Niemand sonst-“, setzte er zu einer Erklärung an, „Es kommt einzig und allein darauf an, was dir mehr am Herzen liegt- dein Stolz oder dein niedlicher Rosenkavalier. Das ist die einzige Frage, darauf läuft es am Ende hinaus. Du kannst die Verantwortung nicht einfach von dir weisen und das hast du allein dir selbst zuzuschreiben!“
Darius schloss resigniert die Augen.
Er hatte keine Kraft mehr für diese Spielchen.
Er hatte nicht einmal mehr die Kraft dafür, sich den Kopf über den Wahrheitsgehalt von Kristians Aussagen zu zerbrechen.
Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem das Maß voll war.
„Du drohst ihm Gewalt an, wenn ich deine Forderungen nicht erfülle“, wiederholte Darius schließlich nur den Sachverhalt, auf den es hinauslief, „Das ist nicht, was ich darunter verstehe, eine Wahl zu haben.“
Kristian schnaubte amüsiert, „Möchtest du noch weiter über eine mich abwertende Formulierung diskutieren, damit du dich besser fühlen kannst? Oder sind wir damit endlich fertig und du siehst ein, dass du einen Fehler gemacht hast?“
Darius schwieg eine ganze Weile.
Es war, als würde Kristian ihm die Kehle zuschnüren.
Er brachte keinen Ton heraus, es war ihm einfach nicht möglich, auch nur irgendeinen Laut von sich zu geben.
„Ich gebe zu, manchmal finde ich es fast niedlich, wie du dich gegen dein eigenes Wohl sträubst“, sinnierte Kristian noch, „Irgendwann kommt aber der Punkt, an dem es mich eher nervt. Ich möchte eine Entscheidung, Darius. Eine klare Aussage, so schwer es dir auch fallen mag!“
Darius schwieg weiterhin.
Diesmal sagte Kristian nichts mehr und erst als Darius Angst bekam, dass er sein Schweigen als Grund dafür nahm, seine Drohung wahr zu machen, fand er die Fähigkeit zu sprechen wieder.
„Was willst du?“, gab er sich schließlich geschlagen.
Kristian lachte auf.
„Ach Darius“, begann er mit einem Seufzen, „Sind wir über diesen Punkt nicht auch schon wieder hinaus?“
Darius knirschte mit den Zähnen.
„Sag mir einfach, was du willst“, wiederholte er knapp, „Du stellst mir ein Ultimatum, ohne dass ich deine Forderung überhaupt kenne!“
Kristians Stimme wurde leiser und klang dafür umso schärfer.
„Ich glaube, du vergisst hier ein wichtiges Detail, mein lieber Darius“, sagte er gefährlich ruhig, „Ich sehe dich nicht in der Position, mir Befehle zu erteilen und schon gar nicht, selbst irgendwelche Forderungen zu stellen. Ich möchte, dass du dich entschuldigst. Nicht am Telefon- ich bin etwa in einer Stunde bei dir.“
Darius hörte zu. Es war das einzige, was er tun konnte.
Jedes einzelne Wort fraß sich in sein Bewusstsein, aber er war nicht in der Lage, irgendetwas zu entgegnen, geschweige denn zu reagieren.
„Dann können wir über alles reden und ich möchte dir gern glauben können, dass es dir ernsthaft und wirklich aufrichtig leid tut, mich so sehr verletzt zu haben“, fuhr Kristian fort, „Also lass dir besser etwas einfallen, um mich davon zu überzeugen, dass du aus deinen Fehlern gelernt hast!“
Darius fühlte sich, als würde sich der Raum um ihn herum zu drehen beginnen. Ihm war sterbenselend und er wusste nicht, wie er überhaupt aus dem Bett kommen sollte. Dass er Kristian aber nicht zu sich ins Zimmer lassen wollte, sondern ihn lieber draußen empfangen würde, stand dennoch fest.
Irgendwie würde sich eine Lösung finden lassen, aber je krampfhafter er überlegte, desto unsinniger schien es. Es würde nichts bringen, sich stark und unnahbar zu geben.
Kristian hatte ihn längst durchschaut, vom ersten Tag an hatte er das.
Vielleicht war es das gewesen, was ihn damals so fasziniert hatte. Dass Kristian ihn besser kannte, als Darius sich jemals selbst kennen würde.
Er hatte vom ersten Augenblick an sein Talent erkannt, aber vor allem die Schwachstellen, an denen er sich noch verbessern musste. Und so sehr er sich beim Klavierunterricht darauf konzentriert hatte, ihm zur Perfektion zu verhelfen, hatte er im Privatleben dafür gesorgt, dass diese Makel erhalten blieben, damit er ihn immer und immer wieder daran erinnern konnte, um ihn klein zu halten. Darius verstand.
Mit einem Mal verstand er alles, was ihn damals vor ein Rätsel gestellt hatte.
Wie konnte jemand wie Kristian überhaupt Interesse an jemandem wie ihm haben, hatte er sich gefragt. Aber mittlerweile ergab es erstaunlich viel Sinn.
Er hatte kein Interesse an ihm als Person. Er hatte in ihm lediglich einen Menschen gefunden, den er so gut durchschauen konnte und dem es an genau dem Rückgrat mangelte, das andere Leute nicht auf seine Masche hereinfallen lassen würde.
Es ging ihm nicht um Darius. Es ging ihm nur darum, was er von ihm bekommen konnte. Er passte hervorragend in die Rolle, die Kristian sich für ihn ausgedacht hatte, um sich durch seine Überlegenheit erhaben fühlen zu können. Er wollte dieses Gefühl der Macht innehalten, über einen Menschen bestimmen zu können, ihn so abhängig von ihm zu machen, dass er bleiben würde, auch wenn er es eigentlich nicht mehr wollte. Dabei war egal, wer dieser Mensch eigentlich war.
Darius war nur zur richtigen Zeit mit den richtigen Voraussetzungen am richtigen Ort gewesen- er brauchte sich nichts darauf einbilden, für dieses Spiel von Kristian auserwählt worden zu sein. Es bedeutete nichts.
Wie ausgezeichnet sie doch zueinander passten – auf eine vollkommen falsche und bodenlos destruktive Art und Weise.
Jetzt war allerdings keine Zeit, um diesen Gedanken nachzuhängen.
Wenn Darius etwas konnte, dann war es, in einer ausweglosen Lage noch so lange durchzuhalten, wie es eine bestimmte Situation erforderte, um ein explizit definiertes Ziel zu erreichen. Vielleicht sollte er Kristian dafür dankbar sein.
Er würde dafür sorgen, dass Alfred sicher war.
Koste es was es wolle- alles danach konnte er dann noch klären.
Das Wichtigste war nun, dass er sich auf dieses Gespräch vorbereitete und dabei würde er in jedem Fall versuchen, noch einen Rest seines von Kristian so direkt hervorgehobenen Stolz zu bewahren.
Darius schrieb geistesgegenwärtig noch Theresa eine Nachricht, in der er fragte, ob und wann sie heute zu ihm fahren wollte. Ihre Antwort kam sehr zeitnah und war eine lange Entschuldigung, dass sie es leider noch nicht geschafft hatte, aber hoffte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis sie alles erledigt hatte.
Er schrieb zurück, dass es kein Problem war, dass sie sich gern noch Zeit lassen konnte und er bis dahin ohnehin noch viele Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. In einem Anfall von plötzlicher Angst, dass sie doch trotzdem früher da war als gedacht, schrieb er ihr noch eine Einkaufsliste, bei der er wusste, dass sie in mindestens drei verschiedene Läden gehen musste, um alles zu besorgen und bat sie, ihm diese Dinge mitzubringen.
Immerhin würde er direkt verlegt werden, ohne vorher nochmal nach Haus geschweige denn selbst einkaufen gehen zu können. Während er auf eine Antwort wartete, versuchte Darius, das Bett auf eigene Faust zu verlassen und wenigstens ein paar Schritte zu gehen, damit sich sein Körper wieder daran gewöhnen konnte.
Es war schwieriger als gedacht und über alle Maßen mühselig, sich überhaupt aufrecht auf die Bettkante zu setzen und ihm wurde dabei mehrere Male schwarz vor Augen. Irgendwie sah er ja ein, dass er so nicht nach draußen konnte, aber während eines solchen Gesprächs nicht nur schwach und wehrlos zu wirken, sondern auch tatsächlich komplett hilflos dem Willen anderer Menschen ausgeliefert zu sein, kam überhaupt nicht in Frage.
Es sträubte sich alles in ihm gegen das Liegen auf dem Krankenbett. Natürlich war niemals irgendjemand davon begeistert, das war ihm noch bewusst. Dennoch bildete er sich ein, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt gerade dafür war.
Als die freundliche Krankenschwestern ins Zimmer trat, erwischte sie ihn gerade dabei, wie er versuchte, die Beine zu belasten und sich in eine stehende Position zu begeben.
„Ach herrje“, sagte sie schnell und kam sofort zu ihm gelaufen.
„Wo wollen Sie denn so eilig hin?“, fragte sie vorwurfsvoll und verschränkte mit strengem Blick die Arme vor der Brust, „Davon abgesehen, dass Sie sich ausruhen sollten, kommen’s eh nicht weit, ohne mein Werk der letzten Tage zunichte zu machen und alle Schläuche herauszureißen!“
Darius atmete schwer und konnte sich nicht einmal dagegen wehren, dass sie ihn vorsichtig am Arm fasste und er unter ihrer sanften Führung zurück auf die Matratze sank.
Wie ein Häufchen Elend saß er da und sah die Frau fast flehend an.
„Nur kurz ins Badezimmer“, forderte er kläglich, „Hände waschen. Duschen. Verdammt nochmal eine Toilette benutzen – Ich halte das nicht mehr aus!“
So viel zum Thema Würde. Doch tatsächlich schien Darius im Zustand der Verzweiflung immer wieder eine Art an sich zu haben, die nicht nur bei Theresa, sondern nun auch bei dieser Frau einen Mutterinstinkt weckte und mit einem Mal wurde der strenge Ausdruck auf ihrem Gesicht fast sanft und gütig.
„Ich verstehe ja, was Sie meinen“, begann sie beinahe versöhnlich, „Aber in Ihrem Zustand können’s trotzdem nicht einfach so aufstehen, wie’s Ihnen reinpasst. Am Ende klappen’s mir noch zusammen und dann schimpft der Doktor!“
Da war es wohl mit der Hoffnung dahin und Darius ließ geschlagen den Kopf sinken. Einige Momente verharrte er noch auf der Bettkante und scheinbar sah er wirklich aus, als würde er gleich zu weinen beginnen, denn die Krankenschwester hatte wohl nicht nur Mitleid, sondern änderte tatsächlich ihre Meinung.
„Na fein, aber dass mir das bloß nicht zur Gewohnheit wird!“, gab sie schließlich nach, „Da können’s froh sein, dass die Werte heute endlich besser geworden sind- Lassen’s mich mal ran, ich kümmer mich um die ganzen Kabel und dann können’s kurz ins Badezimmer. Tür bleibt offen, falls was is- aber keine Sorge, ich schau schon nicht rein!“
Darius wusste nicht, wie er ihr dafür danken konnte, ohne zu verraten, worauf die Aktion wirklich hinauslaufen würde. Kurz war er tatsächlich davor, ihr einfach zu erzählen, was los war. Kurz überkam ihn der Drang, sie in all seine Probleme einzuweihen und ob es nicht einen Weg gab, dass Kristian hier gar nicht erscheinen durfte.
Aber der Gedanke allein war nicht nur beschämend, es würde auch nichts bringen. Davon abgesehen, dass er erwachsen war und selbst Verantwortung übernehmen musste, änderte es nichts an der Tatsache, dass Alfred in Gefahr sein würde, wenn das Gespräch nicht so verlief, wie Kristian es sich vorstellte. Niemand konnte ihm hierbei helfen.
Und wie Kristian es schon so treffend festgestellt hatte: Er hatte sich das alles selbst zuzuschreiben, niemand sonst war Schuld daran.