Nach einer mehr oder minder nervenaufreibenden Autofahrt erreichten Vater und Sohn doch noch pünktlich die Oper.
Kurt hatte einige Male vergeblich versucht, ein Gespräch zu beginnen, doch bei Alfred hatte ungewöhnlicherweise eine Nervosität eingesetzt, die er lange nicht mehr in dieser Intensität verspürt hatte. Es war eben doch etwas anderes, auf einer Bühne zu sitzen und die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ruhen zu wissen, als im Orchestergraben zu verschwinden und die Darsteller auf der Bühne im Hauptaugenmerk der Zuschauer lediglich passend zu begleiten.
Alfred hatte sich die gesamte Fahrt über verkrampft am Geigenkasten festgehalten und versucht, all die sich aufdrängenden Gedanken zur Seite zu schieben. Doch schon als er nur das Gebäude selbst erblickte, war die Vernunft wieder komplett dahin und er ertappte sich dabei, wie er sich unter keinen Umständen zu diesem Abend in der Lage fühlte, würde er nicht vorher noch ein paar persönliche Worte mit Darius Ottesen wechseln können.
Allein aus diesem Grund verabschiedete er sich sofort von seinem Vater, als sie sich durch die Menge der wartenden Besucher schoben und dieser von weitem einen unüblich einsam herumstehenden Ferdinand Berentz erspähte, sodass er die Hand zum Gruß erhob.
„Also“, meinte Alfred nun extrem angespannt, obwohl er eigentlich gedacht hatte, dass er aus dem Lampenfieber längst heraus gewachsen war, „Wir sehen uns vermutlich in der Pause, spätestens aber nach dem Konzert – Viel Spaß!“
Kurt hielt ihn am Arm fest.
„Nichts da“, widersprach er ihm, „Du wartest einen Moment.“
Alfred seufzte tief und harrte der Dinge, die da kommen mochten und hoffentlich nicht Ferdinand Berentz involvierten, dessen Anblick ohne die adrette Frau an seiner Seite fast schon unerträglich wirkte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was sein Vater jetzt noch wollte, aber scheinbar bedeutete er Direktor Berentz, noch einen Moment zu warten.
Stattdessen wandte er sich an seinen Sohn, sah ihm fest in die Augen und klopfte ihm etwas zu fest ein paar Mal etwas unbeholfen gegen den Oberarm.
„In dem Fall gilt ja dann wohl Bauch rein, Brust raus, Kopf nach oben!“, mahnte er ihn und Alfred konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Im Stillen war er unendlich dankbar darüber, dass sein Vater da war. Nicht einmal, dass er diese ungewohnte Vertrautheit in der überfüllten Eingangshalle unter den Augen der ganzen anderen Menschen über sich ergehen lassen musste, machte ihm da noch etwas aus.
„So gefällst mir schon besser!“, meinte Kurt und nickte anerkennend, „Denk immer dran, the show must go on. Toi toi toi, Alfred. Jetzt geh da raus, zeig den Leuten wie das laufen muss und mach mich stolz!“
An alles Mögliche hatte er schon gedacht, aber dass Kurt sich wirklich noch die Zeit nahm, ihm noch kurz auf seine ganz spezielle Art und Weise viel Erfolg für das Konzert zu wünschen, hatte Alfred nicht erwartet. Es schmeichelte ihm weniger, als dass er sich einfach nur aufrichtig darüber freute.
„Danke“, sagte Alfred fast verlegen mit einem nun recht zuversichtlichen Lächeln und nickte seinem Vater zu, „Wird schon schief gehen.“
Kurt sah einen Moment lang aus, als wolle würde ihm noch etwas auf der Seele liegen, was er loswerden wollte, doch er entschied sich nur zu einem Augenzwinkern, ehe er sich doch in Richtung Ferdinand Berentz verabschiedete und Alfred sich an einigen Leuten vorbei schob, um sich in die privateren Räumlichkeiten hinter den Kulissen zu begeben.
Kurz blieb er noch stehen, als er einen Blick auf Theresa Berentz erhaschte, die sich in einem atemberaubenden Kleid und mit langer, wallender Lockenmähne statt Hochsteckfrisur gerade sehr angeregt mit einem jungen Mädchen unterhielt, das komplett an ihren Lippen hing. Er konnte ihr helles Lachen hören, aber kein Wort des Gesprochenen verstehen, und sah gerade noch, wie sie dem Mädchen ganz liebevoll über das lange braune Haar strich, bevor ihm wieder bewusst wurde, dass er sich beeilen sollte.
Schon auf dem Weg hinter die Bühne begegnete er im Gang einem sehr wuseligen Jasper Sundström, der ihn mit strahlenden Gesicht und einem überschwänglichen „Alfred!“ begrüßte und ihm kurzerhand um den Hals fiel.
„Da bist du ja!“, rief er beinahe unerhört laut in sein Ohr.
Etwas verdattert klopfte Alfred ihm kumpelhaft auf den Rücken und bedachte ihn danach mit einem durchaus fragenden Blick, aber er hatte keine Chance, irgendetwas zu sagen, denn aus Jasper sprudelte es schon heraus.
„Ich hatte für einen Moment echt Angst, dass die Bahn wieder nicht fährt und ihr beide nicht kommen würdet!“, seine Stimme überschlug sich aufgeregt, aber für Jaspers Verhältnisse schien er doch unüblich gefasst vor einem wichtigen Auftritt, auch wenn er sich beinahe hektisch umblickte, „Wo hast du Darius gelassen?“
Alfred rutschte augenblicklich das Herz in die Hose.
„Ich bin mit meinem Vater da“, sagte er und sein Blick musste Bände sprechen, denn Jasper sah mit einem Mal doch sehr, sehr schockiert aus.
Ein paar Momente lang sagte keiner ein Wort.
„Wie spät ist es?“, fragte Jasper dann mit vor Panik nun doch komplett piepsiger Stimme.
Alfred sah auf die Uhr und musste sich beherrschen, nicht die Nerven zu verlieren, als er sich nicht davon abhalten konnte, eine Gegenfrage zu stellen, „Was soll das heißen? Ist er noch gar nicht da?“
„Ich hab ihn noch nicht gesehen“, Jaspers Stimme klang dünn und brüchig, sein Gesicht war in tiefe Sorgenfalten gelegt und Alfred fühlte sich, als würde ihm jemand unter den Füßen den Boden wegziehen.
Nein.
Nein, nein, nein!
Das konnte nicht sein. Das würde nicht passieren. Das konnte Darius nicht einfach machen. Das würde nicht zu ihm passen, das würde er sicherlich nicht übers Herz bringen. Nicht nach allem, was in den letzten Tagen vorgefallen war. Nicht nach all der Mühe, die er sich gemacht hatte und nicht nach all dem Unmut, gegen den er hatte kämpfen müssen. Und schon gar nicht nach den Worten, die er vor wenigen Stunden noch explizit zu Alfred gesagt hatte.
Er würde sie nicht versetzen. Es musste einen triftigen Grund geben, irgendetwas musste geschehen sein. Aber der Gedanke an die Situation vorher, in der Darius kaum hatte gehen können, machte es auch nicht gerade besser.
Alfred erwischte sich dabei, wie er gerade nicht einmal darüber nachdachte, was für eine Schmach es wäre, wenn das Konzert so kurzfristig nicht würde stattfinden können. Es war ihm auf eine komplett unangebrachte Art und Weise komplett egal, wie entzürnt Berentz wäre oder was die Kritiker schreiben würden.
In diesem Moment hatte er einfach nur Angst um das Wohlbefinden eines Menschen, der ihm wohl doch mehr bedeutete, als er je für möglich gehalten hatte.
„Also, Folgendes“, wandte sich Alfred nach einigen Momenten des betretenen Schweigens an Jasper, der mittlerweile den Tränen nahe schien, und drückte ihm seinen Geigenkoffer in die Hand, „Du gehst zu den anderen, die sollen sich bereit machen. Sei so gut und nimm das mit, ich bin gleich wieder da!“
Jasper nickte verdattert, stellte aber keine Fragen. Vielleicht konnte er sich denken, dass Alfred die Sache nun in die Hand nahm und sich auf die Suche nach dem verschollenen Maestro machen würde.
Dass er nämlich noch zuhause war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er hatte das Gefühl, ihn trotz der kurzen Zeit dafür nämlich schon viel zu gut einschätzen zu können.
Tatsächlich fand Alfred ihn mutterseelenallein versteckt in der hintersten Garderobe, wo Darius sich gerade fast schon übertrieben sorgfältig die Hände eincremte und ihn über diese meditativ anmutende Tätigkeit gar nicht gleich bemerkte, die immer weiter tickende Uhr aber anscheinend auch komplett vergessen hatte.
Alfred fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen, aber gleichermaßen machte sich doch wieder Sorge breit, denn die Zeit wurde langsam wirklich knapp und Darius schien nicht gänzlich anwesend, als dass er dies auch bemerken würde.
„Darius?“, fragte er ganz leise und vorsichtig, dennoch zuckte der Angesprochene erschrocken zusammen und sah ihn überrascht an.
„Alfred“, sagte er knapp und es klang beinahe kühl, als wäre Darius sehr ungnädig darüber gestimmt, dass er ihn nun störte.
Er überlegte tatsächlich, ob er einfach mit einer Entschuldigung wieder gehen sollte, immerhin hatten viele Menschen ihre ganz eigene Routine vor einem wichtigen Auftritt und er wollte Darius unter keinen Umständen entzürnen. Vielleicht wollte er sich einfach kurz in Ruhe besinnen, um konzentriert arbeiten zu können, allerdings hatte diese Sache dann doch einen gewaltigen Haken.
Er sollte sich damit nämlich verdammt nochmal beeilen, denn ansonsten würden sie alle in gehörige Schwierigkeiten kommen. Die Zeit saß ihnen immer dringlicher im Nacken und es wurde mit jeder Sekunde nur noch deutlicher. Davon abgesehen, dass sogar der gute Jasper schon in Panik verfallen war, weil ihr neuer Dirigent sich hier dermaßen rar machen musste, wenn er eigentlich längst anwesend sein sollte – und das wohl auch, ohne wenigstens bescheid gegeben zu haben.
Einige Momente lang stand Alfred einfach nur in der Tür und blickte Darius auffordernd an, sein Kopfnicken in Richtung Bühne war fast schon drängend und auch ein bisschen unsicher. Alfred hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er diese Situation hier nun koordinieren sollte, aber er schaffte es nicht ganz, wirklich wütend über diese Aktion zu sein.
Denn Darius schwieg, sah lediglich auf seine Hände und die Stille beider hing noch schwerer im Raum als der intensive Lavendelduft. Erst als Darius fertig zu sein schien, anstatt den Deckel der Cremetube aber zuzuschrauben noch einmal etwas davon auf seinen Händen verteilte, bemerkte Alfred, dass seine Finger so stark zitterten, dass es beinahe wirkte, als wolle er gerade dies mit den nun schon ganz energischen Bewegungen verbergen.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Alfred über all die sich aufdrängenden Gedanken sehen konnte, dass Darius am ganzen Leib zu beben schien. Mit einem Mal wirkte er viel weniger verärgert als fast schon verzweifelt, wie er sich immer noch wie besessen die Hände mit der Creme einrieb und so blass und schmal in dem maßgeschneiderten, sündhaft teuren Frack wirkte.
Die Fliege saß perfekt, sein Haar war wie immer penibelst gescheitelt und doch wirkte er trotz des feinen Erscheinungsbildes mehr elend als adrett, mit seinem leichenblassen Gesicht und den nervös verkrampften Zügen.
Alfred konnte sich nicht mehr an sich halten. Ohne noch einen weiteren Augenblick zu zögern, verließ er seine Position an der Tür, um diese hinter sich anzulehnen und ein paar Schritte in den Raum zu gehen.
„Darius“, sagte er sehr sanft und tatsächlich hob der Angesprochene diesmal fast scheu wieder den Blick und ließ die Hände sinken.
Alfred versuchte, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, weil er keinen Ton herausbekam, aber Darius‘ Lippen zuckten nur kurz und das einzige, was Alfred statt drängend auffordernder Worte in den Sinn kam, wäre so unangebracht, dass es beinahe schon an eine Frechheit grenzte.
Dennoch schaffte er nicht, sich davon abzuhalten, langsam nach Darius‘ Händen zu greifen und sie fest in seine zu schließen, um die Bewegungen zu stoppen und ihn wieder in die Realität zu befördern.
Genau die Realität, in der nun wirklich keine Zeit mehr für sowas war, weil er sich schleunigst zu seinem Orchester begeben musste.
Alfreds Herz setzte einen Schlag aus, als sich ihre Blicke trafen und statt Schreck und Verwirrung nur eine tiefe Dankbarkeit in Darius‘ Augen zu liegen schien. Und statt die Hände hastig wieder wegzuziehen, schien er ohne Zögern zuzulassen, dass sie erst durch das sanfte Umfassen wieder ein bisschen zur Ruhe zu kamen.
Beinahe schon fasziniert vom Gegensatz zu seinen eigenen rauhen Fingerkuppen staunte Alfred im Stillen darüber, wie weich sich die eiskalte Haut anfühlten. Zarte Hände mit langen schmalen Fingern und säuberlich gepflegten Nägeln und als Alfred sich dabei erwischte, dass er starrte, schloss er schnell seine eigenen warmen Hände darum und es fühlte sich an, als sollte es genau so sein.
„Darius“, sagte er dann, noch leiser als zuvor und strich fast unwillkürlich mit seinem Daumen über dessen Handrücken, „Sie schaffen das. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass das Konzert ein voller Erfolg wird. Und ich versichere Ihnen, dass alle Musiker Ihnen ebenso sehr vertrauen.“
Darius‘ Lippen zuckten zu einem schwachen Lächeln.
„Sie schaffen das“, sagte Alfred noch einmal mit Nachdruck, dann musste er selbst lächeln, als er sich diesbezüglich mit sanfter Stimme korrigierte.
„Wir schaffen das.“