Darius schreckte hoch, als das Telefon klingelte.
Benommen tastete er nach dem kleinen Gerät und schaffte es nicht, aufs Display zu schauen, bevor er hastig den Anruf annahm.
„Ottesen“, brummte er ungnädig.
Eigentlich hatte er ja vermutet, dass es um diese Uhrzeit nur Theresa sein könnte – wie spät es aber eigentlich war, wusste er gar nicht so recht. Nur dass er eingeschlafen sein musste, die Uhr hatte er nicht im Blick.
Aber wer sonst rief ihn regelmäßig an, wenn nicht gerade Alfred, der ob der plötzlichen Bewegung auf dem Sofapolster nur leise seufzte und die Decke nach dieser Störung wieder fester um sich zog.
Es konnte eigentlich nur Theresa sein – dementsprechend war er beinahe schockiert darüber, dass sie es eben nicht war.
„Darius!“, donnerte stattdessen nämlich eine tiefe männliche Stimme ohne jegliche Art von Begrüßung, „Wie gut, dass ich dich endlich erreiche!“
Er blinzelte und rieb sich verschlafen das Gesicht, ehe er sich hektisch aufrichtete, um nicht einfach wieder aus Versehen abzudriften. Neben ihm regte sich Alfred leicht, murrte leise und vergrub den Kopf tiefer im Kissen.
Als seine Gedanken klarer wurden, ließ der Anruf Darius unsicher werden.
Es war doch mehr als unüblich, dass Ferdinand sich bei ihm meldete, wenn es nicht gerade um die Arbeit ging. Und heute war seines Wissens nach frei.
„Hab ich irgendwas nicht-“, nuschelte er ins Handy, aber Ferdinand unterbrach ihn, ehe er zuende sprechen konnte.
„Ist Theresa bei dir?“, fragte er und Darius‘ Herz setzte einen Schlag aus.
Sofort war er hellwach.
Er schüttelte heftig den Kopf, ehe er bemerkte, dass Ferdinand das am Telefon logischerweise gar nicht sehen konnte.
„Nein“, antwortete er trotzdem eine Spur zu schnell, während er sich vorsichtig von der Decke befreite, um aufzustehen und einen Blick auf die Uhr zu werfen.
Ferdinand schien ihm nämlich nicht zu glauben.
„Wirklich nicht?“, bohrte er nach, „Wo könnte sie denn sonst sein?“
Darius runzelte die Stirn.
Es war kurz vor sieben. Er hatte kaum eine ganze Stunde geschlafen. Diese Situation war so skurril, dass er komplett überfordert war.
„Hier ist sie nicht“, wiederholte Darius nochmals, aber ihm selbst ließ es nun keine Ruhe, „Die bessere Frage ist allerdings – warum weißt du nicht, wo sie ist?“
Ferdinands Antwort ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
„Sie ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen“, rückte er endlich mit der Sache heraus, „Eigentlich wollte sie nur ganz kurz nochmal weg, ans Handy geht sie aber nicht- Und ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen!“
Darius raufte sich die Haare, während er hektisch im Zimmer auf und ab lief.
„Bitte was?“, seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren, vorwurfsvoll und besorgt zugleich, höher als sonst, „Und du weißt nicht, wohin sie wollte?“
Ferdinand schnaubte verärgert, „Was meinst du, wieso ich dich anrufe!“
„Sie wollte zu mir?“, fragte er ungläubig.
„Sag ich doch!“, schnauzte ihn Ferdinand an, „Mir sind eure komischen Geheimnisse miteinander ja egal, aber ich mache mir Sorgen!“
„Hier ist sie nicht“, wiederholte Darius und biss die Zähne aufeinander, „Ich hab seit gestern auch nichts mehr von ihr gehört. Ich dachte, sie wäre zuhause.“
„Das ist sie aber nicht!“, Ferdinand wurde wütend
„Das habe ich mittlerweile verstanden, ja!“, Darius wurde lauter.
Alfred wälzte sich murrend auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf. Darius schnaufte tief durch und war schon auf dem Weg ins Musikzimmer, um ihn nicht weiter beim Schlafen zu stören, als es an der Tür klingelte.
Ihm fiel ein wahrer Stein vom Herzen.
Alfred schreckte hoch und sah sich verwirrt um, „Was- wo-“
Das musste Theresa sein. Weiß Gott wo sie sich herumgetrieben hatte, doch das war von geringerer Relevanz. Hauptsache sie war wieder da.
„Bist du noch dran?“, hörte er Ferdinands ungehaltene Stimme am Telefon.
„Ja, warte einen kurzen Moment, ich muss nur schnell-“, begann er, während er zur Tür eilte, um das Knöpfchen zum Öffnen zu betätigen, aber Ferdinand unterbrach ihn wütend.
„Es ist mir scheißegal, was du musst!“, polterte er los, „Es geht nicht um dich! Ausnahmsweise mal nicht- und ja, ich verstehe, das muss schwer zu verkraften sein, aber willkommen im echten Leben!“
Ungläubig starrte Darius das Telefon an.
Das war so typisch.
„Darius?“, hörte er Alfreds Stimme aus dem Wohnzimmer.
Es ging ihm alles zu schnell. Viel zu viele Sachen gleichzeitig.
Auf der Treppe waren schon durch die Tür hindurch Schritte zu vernehmen.
Darius beschloss, dass Ferdinand die Erleichterung nicht verdient hatte.
Sollte er sich doch Sorgen machen bis er platzte, wenn er ihn nicht ausreden ließ. Dann wusste er eben nicht, dass es gerade an der Tür geklingelt hatte.
„Bist du noch dran?“, fragte Ferdinand, „Darius? Sag was!“
Darius kam nicht schnell genug zum Antworten, denn im selben Atemzug noch schnaubte er wütend, fluchte kurz und beendete den Anruf abrupt mit den Worten, „Ach, leck mich doch am Arsch!“
An der Tür zur Wohnung klopfte es zaghaft.
Einen einzigen Gedanken verschwendete Darius noch daran, dass Theresa besser eine gute Erklärung hatte, um diese furchtbare Unruhe am Morgen zu rechtfertigen. Dann öffnete er die Tür und starrte erst einmal ins Leere.
Als er auf Augenhöhe niemanden entdecken konnte, senkte er vorsichtig den Kopf und sah in zwei große, braune und sehr verquollene Augen.
Ein zittriges Schniefen, ein hoffnungsvoller Blick.
„Onkel Darius?“
Einige Momente starrte er nur in ein blasses, verheultes Gesicht.
„Nina!“, entfuhr es ihm ungläubig.
Dann lagen auch schon zwei Arme um ihn und ein kleiner schmaler Körper presste sich erdrückend aufdringlich nah an seinen.
„Was machst du denn hier?“, fragte er verwirrt.
Aber sie schluchzte nur kläglich und umarmte ihn noch fester.
„Komm erst mal rein“, sagte er mit einem Seufzen.
So konnte er sie nicht nach Hause schicken. Was auch immer vorgefallen war – Ihr Vater würde sowas wohl nicht verstehen. Immerhin wusste Darius ja selbst nur zu gut, wie unausstehlich Gabriel sein konnte.
„Solltest du nicht in der Schule sein?“, versuchte er noch einmal, sie zur Rede zu stellen, als sie sich schließlich ein bisschen von ihm löste.
„Was ist denn passiert?“, er bekam keine Antwort auf seine Fragen.
Darum seufzte er nur tief, legte eine Hand vorsichtig auf ihre Schulter und führte sie nach innen in seine Wohnung.
Überfordert war er immer noch und wo Theresa abgeblieben war, wusste anscheinend immer noch kein Mensch, aber es half alles nichts. Er musste sich erst einmal um das kleine Häufchen Elend hier kümmern. Anscheinend hatte es wenigstens nicht wieder zur regnen begonnen, aber sie bibberte trotzdem am ganzen Leib, als sie ihm ins Wohnzimmer folgte.
Dass Alfred da war, fiel Darius erst wieder siedend heiß ein, als die beiden einander sichtlich verwirrt ansahen und dann fast gleichzeitig zu ihm blicken.
„Ähm“, machte Darius wohl nur leidlich intelligent, „Wir haben Besuch.“
Alfred hatte sich schnell zumindest in eine sitzende Position aufgerappelt.
„Warum liegt ein Mann auf deinem Sofa?“, fragte Nina trotzdem.
Alfred gähnte hinter vorgehaltener Hand, dann musste er schmunzeln. Er wirkte noch ganz verschlafen, wie er sich verlegen am Kopf kratzte. Darius bewunderte seine Ruhe und die Selbstverständlichkeit, mit der er reagierte.
Statt in Panik zu verfallen, schien er es nämlich für die beste Idee zu halten, sich einfach höflich vorzustellen.
„Guten Morgen erst einmal“, sagte er lächelnd, „Ich bin Alfred-“
„-Wunderlich, ich weiß“, beendete Nina wie selbstverständlich seinen Namen.
Ein kurzes Grinsen stahl sich auf ihre verheulten Züge und ließ sie gleich wieder ein bisschen fröhlicher wirken, „Das beantwortet aber nicht die Frage!“
Alfred musste lachen.
Nina lachte mit und zuckte wohl ein bisschen unsicher mit den Schultern.
Darius schmunzelte erleichtert, „Darf ich vorstellen? Das ist Nina – meine äußerst charmante Nichte!“
„Freut mich“, sagte Alfred lächelnd.
„Und mich erst“, erwiderte sie frech und strahlte schon wieder über das ganze Gesicht, was Darius zugegeben etwas leichter ums Herz werden ließ.
Was auch immer geschehen war, so schlimm schien es ja nicht gewesen zu sein.
Eigentlich sollte er sich wirklich darum kümmern, den momentanen Aufenthaltsort von Theresa in Erfahrung zu bringen, aber er konnte Alfred schlecht zumuten, jetzt den Babysitter spielen zu müssen.
„Möchtest du einen Kaffee trinken?“, fragte er etwas ratlos.
Nina prustete los.
Vielleicht tat es ihr auch einfach gut, ein bisschen Ablenkung zu bekommen.
„Ich darf gar keinen Kaffee trinken“, meinte sie grinsend, „Hast du Kakao?“
Darius schnaufte, schon nach dieser kurzen Zeit ein bisschen entnervt.
„Nein“, sagte er knapp, „Ich habe nur Kaffee.“
Nina runzelte die Stirn.
„Und Milch?“, fragte sie weiter.
„Nein“, wiederholte er ungeduldig, „Wie ich schon sagte, nur Kaffee! Wasser noch, ja – aber ansonsten nur Kaffee. Nach Tee und Saft und Limonade brauchst du also auch nicht mehr fragen.“
Nina verdrehte die Augen, als wäre er es, der schwer von Begriff war.
„Das wollte ich doch gar nicht wissen“, meinte sie belehrend, „Aber immerhin trinken viele Leute ihren Kaffee mit Milch, also hätte es durchaus sein können!“
Darius holte tief Luft, um zumindest anzudeuten, dass sie nicht davon ausgehen konnte, dass er extra für sie eingekauft hatte, wenn sie unangemeldet vor der Tür stand. Aber Alfred war mittlerweile aufgestanden, faltete die Decke säuberlich zusammen und fiel ihm in den Rücken.
„Wie bitte?“, fragte er nämlich belustigt, „Du hast keine Milch da? Wie soll ich denn da meinen Kaffee trinken?“
Nina gluckste.
Selbst Darius musste lachen.
Etwas hilfesuchend sah er zu Alfred, „Ehrlich gesagt kann ich euch absolut kein Frühstück anbieten. Aber wenn ihr euch solange beschäftigen könnte, bis ich ein paar Telefonate erledigt habe-“
„Aber nicht Papa anrufen!“, fiel ihm Nina panisch ins Wort.
Darius hob eine Augenbraue.
Nina schien sich unter seinem fragenden Blick mit einem Mal ertappt und zu einer Erklärung genötigt zu fühlen.
„Er soll nicht wissen, wo ich bin“, meinte sie kleinlaut.
Alfred kratzte sich am Kinn und wirkte ein bisschen peinlich berührt, dass er all diese Dinge nun so ungeplant mitbekam.
Darius jedoch atmete einige Male tief durch, um nicht die Fassung zu verlieren. Mit einem Schlag ergab das alles erstaunlich viel Sinn, wenn er die losen Fäden verknüpfte und alle Hinweise richtig auslegte.
„Du willst mir also erzählen, dass er nicht weiß, wo dich herumtreibst?“, fragte er noch betont ruhig nach.
Sie nickte zerknirscht.
„Wir haben uns gestritten“, erklärte sie noch etwas unsicher, „Dann bin ich weg gelaufen, weil er denken soll, dass ich ganz alleine in der Stadt herumirre, damit er sich Sorgen macht, wenn er schon so doof zu mir ist!“
Darius schnaufte ungläubig.
„Ist das dein Ernst?“, fragte er.
Nina zuckte mit den Schultern und nickte mit einem verlegenen Grinsen.
„Lass mich das nochmal zusammenfassen“, begann Darius kühl und sie schrumpfte immer mehr vor ihm zusammen, „Es könnte also sein, dass sich dein Vater gerade den Kopf zerbricht und womöglich die Polizei verständigt, weil du einfach von zuhause fort bist?“
Sie nickte. Darius konnte nur hoffen, dass ihr langsam selbst dämmerte, was für eine bescheuerte Aktion das war.
„Könnte es denn auch sein“, fuhr er fort, „Dass das schon gestern war und mittlerweile nicht nur dein Vater, sondern auch deine Tante vergeblich nach dir sucht, weil er sie vielleicht um Hilfe gebeten hat?“
Nina verzog das Gesicht.
„Woher soll ich das wissen?“, meinte sie trotzig, „Ist nicht mein Problem!“
Darius hob auch noch die andere Augenbraue.
„Wo warst du dann die ganze Nacht über?“, wollte er wissen.
Alfred schien sich zusehends unwohler und fehl am Platz bei diesem Verhör zu fühlen, aber daran konnte Darius nun auch nichts ändern.
„Ich- ich lass euch mal kurz unter vier Augen reden“, meinte Alfred leise und entschuldigte sich ins Badezimmer.
Darius nickte nur geistesabwesend.
Er wusste gerade nicht, ob er lachen, weinen oder aus der Haut fahren sollte.
Nina legte den Kopf schief und versuchte es mit einem zuckersüßen, schiefen Lächeln, „Äh- vielleicht bei einem neuen Kumpel aus der Schule? Zumindest solange, bis ich gehen musste?“
Darius sah sie einfach nur an. Sein Blick musste Bände sprechen, denn sie schob schnell noch weitere Details hinter ihre Erklärung.
„Da war es aber noch dunkel!“, verteidigte sie sich, „Und dann wollte ich nicht nach Hause und in die Schule wollte ich auch nicht und dann dachte ich, dass ich zu dir gehen könnte und dann hab ich mich total verlaufen, aber dann letzten Endes hab ich es doch gefunden!“
Das alles war doch vollkommen absurd.
Er konnte nicht einmal einen Anfang finden für all die Fragen, die ihm durch den Kopf schossen. Wusste sie eigentlich, wie gefährlich es für ein kleines Mädchen war, mitten in der Nacht allein durch die Großstadt zu laufen? Wusste sie überhaupt, was für Sorgen sich alle machen mussten?
Und warum war sie nicht zu ihrer Mutter gegangen? Warum nicht zu Theresa und Ferdinand? Warum kam sie ausgerechnet zu ihm in dieser Situation?
„Nenn mir einen guten Grund, warum ich nicht deinen Vater anrufen soll, damit er dich abholt und zur Schule bringt“, sagte Darius tonlos.
Nina starrte ihn erschrocken an.
Ihr Blick wirkte fast panisch und es versetzte Darius einen tiefen Stich.
„Nein!“, sagte sie schnell und diesmal klang es beinahe flehend, „Wir haben uns doch gestritten – und er war echt gemein zu mir!“
Einige Momente sahen sie einander nur an.
Dann musste Darius den Blick abwenden, weil er sich einbildete, in ihren verzweifelten Augen etwas erkennen zu können, was er nicht sehen wollte.
„Ich will bei dir bleiben“, gestand sie nun mit zittriger Stimme, „Zumindest solange bis er sich beruhigt hat und nicht mehr böse auf mich ist!“
Darius seufzte schwer.
Bei aller Vernunft, er wollte nicht einmal beginnen, darüber nachzudenken.
Er hatte geglaubt, Gabriel zumindest insofern einschätzen zu können, dass er niemals auf diese Weise nach seinem Vater kommen würde, doch was wusste er letzten Endes schon über ihn?
Darius wollte es sich nicht vorstellen, womöglich meinte Nina diese Worte auch ganz anders als er es nun auffasste. Dennoch konnte er nicht aus seiner Haut. Es gab gewisse Dinge, die konnte er noch weniger mit sich vereinbaren als die Vorstellung davon, dass Nina womöglich bis zum nächsten Tag bleiben wollte.
Es passte ihm absolut nicht in den Kram.
Nicht jetzt, wo er endlich etwas gemeinsame Zeit mit Alfred allein hätte verbringen können, ehe sie dann während der Reise nur wieder von den anderen umgeben wären. Und dennoch gab es wohl Dinge, die eine höhere Priorität hatten als sein persönliches Bedürfnis nach Glück.
„Na fein“, meinte er leise, „Wir können gern später noch darüber reden. Aber lass mich wenigstens kurz telefonieren, damit zumindest deine Tante weiß, dass dir nichts passiert ist.“
So wenig er dieses nervige Gör auch leiden konnte, so sehr sie ihn auch jetzt schon wieder in den Wahnsinn trieb mit diesem treudoofen Hundeblick; eine Tatsache stand in jedem Fall fest:
Für Gabriel würde Darius trotz allem die Hand nicht ins Feuer legen.
Und kein Kind sollte Angst vor dem eigenen Vater haben müssen.