Dass sie das Konzert hinter sich gebracht hatten, sah man dem Probesaal schon auf den ersten Blick an. Es war, als wäre nicht nur die Anspannung abgefallen, sondern auch die professionelle Konzentration gewichen.
Bis zum nächsten regulären Einsatz würde noch einige Zeit vergehen und auch wenn der Leerlauf eigentlich für zukünftige Projekte und regüläre Proben genutzt wurde, war die Stimmung ausgelassen.
Erwin Gebauer saß falsch herum auf einem Stuhl zwischen erster Violine und Dirigentenpult, hatte die Arme auf der Lehne abgestützt und lachte gerade über die von wilden Gesten begleiteten Ausführungen von Jasper Sundström, als ein gewisser Herr Wunderlich mit dem Geigenkoffer in der Hand den Raum betrat.
Ein bisschen fühlte es sich an, als komme er nach einem langen Urlaub nach Hause. Und ein bisschen fühlte es sich an, als würde er gerade sterben.
Herr Wunderlich stand unter Schock. Das war allgemein kein positiver Zustand, doch er hatte das Gefühl, als wäre dies eine ganz und gar grässliche Art davon.
Er fühlte sich, als hätte man ihm nicht nur den Boden unter den Füßen weggezogen, sondern ihn gleich in einen tiefen Abgrund gestürzt. Als hätte man nicht nur einen Eimer Wasser über seinen Kopf ausgeleert, sondern ihn einfach ins eiskalte Wasser geworfen. Und was zuvor noch ein aufgeregtes Flattern in seiner Brust gewesen war, fühlte sich nun wie ein durch und durch schmerzhaftes Pochen an.
Aber Herr Wunderlich ließ sich nichts anmerken, sondern setzte sich mit fast stoischer Miene auf seinen Platz und legte die mit belegten Brötchen gefüllte Tasche achtlos neben seinen Stuhl.
Was hätte er auch anderes tun sollen?
Er wusste nicht einmal, wonach ihm der Sinn stünde, würde er sich gerade nicht in Gesellschaft befinden. Ihm war am ehesten noch danach, sich in sein Bett zu verkriechen oder in wütend verzweifelte Tränen auszubrechen. Aber beide Möglichkeiten hätte er sich nicht einmal erlaubt, wenn er allein gewesen wäre.
Es gab keinen Grund dazu. Absolut keinen Grund dafür, sich so zu fühlen.
Wütend konnte er lediglich auf sich selbst sein, dass er so lange diesem Hirngespinst hinterhergerannt war, das er sich nicht einmal getraut hatte, zu benennen.
Herr Ottesen, der gerade zur Tür hineinkam, als hätte er mit Absicht noch einige Minuten draußen gewartet, hatte damit streng genommen gar nichts zu tun.
Überhaupt nichts. Nicht im Geringsten.
Die Stille lag schwer im Raum und in Herr Wunderlichs Herz, als die Musiker für einen Augenblick allesamt verstummten und Jasper sofort hektisch flüsternd in Richtung Blechbläser gestikulierte, damit sich Erwin schnell wieder auf den eigenen Platz begab.
Herr Wunderlich fühlte sich, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Als würde ihm allein der Anblick von Herrn Ottesen am Pult die Kehle zuschnüren, dessen Blick durch die Reihen wanderte, ohne ausgerechnet bei ihm länger als nötig zu verweilen.
Herr Wunderlich verfluchte sich im Stillen.
Wie einfältig er war. Wie absolut bescheuert er sich verhalten hatte.
Was hatte ihn dazu gebracht, auch nur einen einzigen Moment lang dem Glauben zu erliegen, er könnte eine persönliche Annäherung mit einem professionellen Arbeitsverhältnis vereinbaren?
Ihm war bewusst, dass es nun wenigstens ein Ende hatte.
All das Hoffen, als das Bangen, all die Sorge. All die unangebrachten, unmöglichen Situationen, die sich seiner Kontrolle entzogen. Und so erleichternd sich dies in der Theorie anhörte, so wahnsinnig sehr schmerzte es ihn in der Praxis.
Die kompletten nächsten Stunden flossen an Alfred vorbei, als wäre er gar nicht dabei. Nein, nicht an Alfred. An Herrn Wunderlich natürlich, wie konnte er das bloß vergessen. Wie konnte er überhaupt denken, dass irgendetwas in der letzten Woche irgendeinen Wert gehabt hätte?
Aber das konnte er Darius- nein, das konnte er Herrn Ottesen nicht vorwerfen. Er war ihm nichts schuldig, keine Rechenschaft, keine Erklärung, keine Rechtfertigung. Es war seine eigene Schuld, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hatte. Und nun bekam er die Konsequenzen zu spüren, denn es war Herrn Ottesens gutes Recht, die Sache zu überdenken und sich für die Arbeit zu entscheiden.
Immerhin hatte er hart für diese Position gekämpft.
Es war verständlich. Über alle Maßen angebracht sogar, wenn er es bedachte.
Dabei kamen sie heute gar nicht zum Spielen, es ging lediglich um die Planung der nächsten Wochen und Monate, um die Verteilung der als nächstes wieder gebrauchten Noten und sonstige organisatorischen Dinge, bevor Ferdinand Berentz den Raum betrat.
Der Direktor sprach ebenfalls noch einige Worte, die komplett an Hernn Wunderlich vorübergingen, während er die ganze Zeit verdrossen auf ein anderes, immer noch auffallend schönes, blasses Gesicht sah, das ihn aber keines Blickes würdigte und mit einem Mal doch aus kaltem Porzellan geformt schien.
Irgendwie ging die Zeit vorbei, auch wenn sie sich endlos anfühlte.
Er hatte nicht die Kraft, einfach so aufgebracht aus dem Raum zu stürmen, wie er es eigentlich gern getan hätte. Selbst in der durchaus sehr unnötigen Pause war er sitzen geblieben und hatte geistesabwesend nur die Hälfte von den Anliegen verstanden, die Jasper und Erwin an ihn wandten.
Hatte genickt und gelächelt, hastig abgewinkt und liebevoll belegte Brötchen verteilt, so wie es eben geplant gewesen war.
Auch wenn der Augenblick dieser Planung schon Jahre zurückzuliegen schien und sich gar nicht mehr wirklich anfühlte.
So als wäre nie geschehen, was er sich in seiner Erinnerung da gerade zusammenträumte. Als hätte er sich das alles nur in seinem Wunschdenken ausgemalt.
Tatsächlich war es irgendwann doch vorbei, auch wenn es sich anfühlte, als würde der Verlauf dieses Tages einfach kein Ende nehmen.
Als Herr Wunderlich das Gebäude verließ, stand draußen noch Herr Ottesen und rauchte mit zitternden Fingern eine Zigarette.
Er war gerade schon im Begriff, ohne ein Wort an ihm vorbeizugehen, um ihm seinen persönlichen Raum zu gewähren, da wandte dieser sich hastig zu ihm und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
„Alfred-“, der Klang seines Vornamens ließ Herrn Wunderlich das Blut in den Adern gefrieren, „Bitte warte noch einen Moment!“
Er fror in seiner Bewegung ein, dann drehte er sich wie in Zeitlupe um und sah in die etwas ratlosen Züge von Darius Ottesen, der sich wohl keinen Reim aus seiner Reaktion zu diesem Umstand machen konnte.
„Hast du es dir anders überlegt?“, fragte Alfred vorsichtig.
Er wagte ja gar nicht zu hoffen, doch er verstand einfach nicht.
„Bitte was?“, Darius hob verwirrt eine Augenbraue, „Was anders überlegt?“
Kurz herrschte Schweigen. Alfred kratzte sich am Kinn.
„Ich meine-“, Alfred stockte.
Darius sah ihn auffordernd an. Ja, fast wirkte es schon herausfordernd.
Denn als er wieder sprach, fühlte Alfred sich mit einem mal noch um einiges schlechter als in der Probe zuvor. Was zuvor noch eiskalte Ernüchterung gewesen war, fühlte sich an wie heiße Wut, die plötzlich in ihm hochkochte.
„Das sollte nicht heißen, dass sich etwas ändert“, erklärte er, „Ich trenne lediglich Berufliches von Privatem. So ist es einfacher.“
Alfred stand einige Momente einfach nur der Mund offen.
Ihm dämmerte jetzt erst, dass Darius nicht plötzlich einen Rückzieher gemacht hatte, sondern einfach nur bewusst seinen Nachnamen benutzt hatte, um die nötige Distanz für die Arbeit zwischen ihnen zu schaffen. Das klang durchaus nachvollziehbar, geradezu logisch. Sehr angebracht und durch und durch verständlich.
Es war das Beste, was er hätte tun können, wenn man darüber nachdachte.
Aber warum in aller Welt fühlte es sich dann nicht so an?
„Einfacher“, widerholte er.
Einige Augenblicke starrte er Darius einfach nur an.
Es war für ihn also einfacher, wenn Alfred stundenlang litt und sich fragte, was in Gottes Namen er nun falsch gemacht hatte. Wenn Alfred sein ganzes Leben in Frage stellte, dann war es für Darius einfacher.
Es fühlte sich nicht mehr an, als hätte er ihm mit seinen Worten sämtliche Energie genommen. Es fühlte sich viel eher an, als hätte er ihm den Taktstock gerade brutal ins Herz gerammt.
Alfred war irgendwo noch bewusst, dass er sich gerade sehr unprofessionell verhielt. Eigentlich schon komplett töricht, wenn man bedachte, wie unangebracht es von ihm war, diese Sache derartig persönlich zu nehmen. Er wusste, dass er sich gerade lächerlich machte, aber dennoch ging es einfach mit ihm durch.
Wusste Darius überhaupt, wie tief er ihn verletzt hatte? War ihm denn auhc nur im Ansatz bewusst, dass er dies nicht einfach mit ein paar flapsigen Worten zur Erklärung wieder gutmachen konnte?
„Ja, einfacher“, meinte Darius mit einem schiefen Lächeln.
Es wirkte für Alfred in diesem Moment, als würde er sich über ihn lustig machen. Wie dumm er war. Wie unsagbar einfältig, dass er sich eingeredet hatte, er würde einem Mann wie Darius Ottesen vielleicht auf irgendeiner Ebene womöglich auf irgendeiner Art irgendetwas bedeuten können, was auch nur um Ansatz an Theresa Berentz und den unbekannten Mann auf der Bank herankommen könnte.
Alfred nickte verstehend und gleichermaßen verdrossen.
Natürlich war es einfacher, wenn er diese Antwort akzeptieren würde.
Ihm lag einiges auf der Zunge zu dieser Ansicht, aber nichts davon verließ seine Lippen. Dass es absolut nicht einfach war, wollte er ihm an den Kopf werfen. Dass er so etwas nicht mit sich machen ließ, wollte er sagen. Dass Darius nicht einfach mit seinen Gefühlen spielen konnte, wie es ihm gerade einfacher vorkam.
Dann aber fiel ihm auf, dass diese Worte nur Konsistenz hätten, würden seine widersprüchlichen Empfindungen in Darius‘ Nähe irgendeine Relevanz haben.
„Ich verstehe“, sagte Alfred also nur.
Auf der gemeinsamen Heimfahrt mit der Bahn sprachen sie kein Wort.
Er wagte es nicht einmal mehr, Darius anzusehen und dieser machte auch keine Anstalten, sich noch einmal an ihn zu wenden.
Sie verabschiedeten sich mit einem knappen „Bis morgen“ und Alfred hätte die Welt dafür gegeben, in Erfahrung bringen zu können, was in Darius‘ Kopf vor sich ging. Dennoch verlor er kein einziges weiteres Wort mehr, während sich ihre Wege trennten und es sich mit einem Mal so schmerzhaft endgültig anfühlte.
Als Alfred nach Hause kam, rief er nur kurz seinen Vater an, um ihm ein bisschen Gesellschaft zu leisten, wich aber sämtlichen gestellten Fragen aus.
Kurt gab sich wohl damit zufrieden, denn irgendwann gingen sie ihm aus.
Auf dem Weg in die Küche fiel Alfreds Blick an die Garderobe, wo noch immer fast verschwindend schmal geschnitten und in ihrer bloßen Existenz ganz einsam wirkend eine schicke, schwarze Jacke hing.
Alfred konnte sich trotz aller guten Vorsätze nicht davon abhalten, sie vom Haken zu nehmen und sehr viel länger als notwendig in der Hand zu halten. An den Duft von Lavendel hatte er sich so sehr gewöhnt, dass er ihm nichts mehr Störendes abgewinnen konnte und doch ließ gerade die schmerzvolle Vertrautheit Tränen in seine Augen steigen, die er energisch wegblinzelte.
Um sie am nächsten Morgen nicht zu vergessen, hängte er die Jacke kurzerhand über den Knauf der Wohnungstür.
Dann setzte er sich mit dem Abendbrot an den Schreibtisch, öffnete den vor Wochen schon eingetroffenen Brief von Renate und las ihn endlich, wenngleich auch mit schwindender Konzentration.
Seine Gedanken schweiften schnell ab, aber zumindest eine Antwort sollte sie doch in jedem Fall bekommen, wenn sie sich die Mühe gemacht hatte, ihm zu schreiben. Eigentlich war es ja lange noch so gewesen, dass sie Briefe in regelmäßigen Abständen zueinander hin und her schickten, in denen sie sich von aktuellen Erlebnissen berichteten.
Vielleicht wäre es das einzig richtige, wenigstens diesen Kontakt zu pflegen. Sie verstanden sich doch noch recht gut und auch wenn sicherlich niemals etwas aus ihnen werden würde, war sie ihm lange Zeit eine wichtige Vertraute gewesen.
Womöglich wusste Renate sogar irgendeinen Rat. Sie kannte sich schließlich sehr gut mit unmöglichen Menschen und törichten Idioten aus, immerhin hatten sie einige Jahre sehr viel Zeit miteinander verbracht. Und auch seitdem sie in Berlin war, hatte er den Briefkontakt noch nie so lange vernachlässigt wie es nun der Fall gewesen war.
Alfred suchte fast schon meditativ ruhig seine Schreibmappe heraus, überprüfte die Tinte im Füllhalter und schrieb zumindest schon einmal Empfänger und Absender auf den Umschlag.
Den Brief zu beginnen fiel ihm weniger schwer als ihn zu beenden.
„Liebe Renate“, schrieb er fein säuberlich auf Briefpapier, „Es tut mir leid, dass meine Antwort auf sich warten ließ. Ich hoffe, es geht dir gut. Bei mir ist es momentan recht stressig und vielleicht auch ein bisschen kompliziert.“
Dann starrte er einige Stunden nur auf den angefangenen Brief und schrieb schließlich das einzige auf, was ihm durch den Kopf ging und in den Sinn kam.
„Ich gehe davon aus, dass ich langsam verrückt werde. Ich glaube, ich leide unter einer besonders einfältigen Form von Liebeskummer.“
Alfred fand keine Ruhe in dieser Nacht.
Er träumte.
Er träumte viel und so schlimm war es lange nicht gewesen.
Gegen zwölf ging er zu Bett, um halb zwei wurde er das erste Mal wach, weil er sich die Seele aus dem Leib hustete. Um kurz nach drei holte er sich eine Tafel Schokolade aus der Schublade im Nachttisch, dann schlief er wieder ein. Kurz nach vier aß er den Rest davon und wälzte sich solange unruhig hin und her bis er beschloss, dass die Nacht beendet war.
Um halb sechs stand er mit der fremden Jacke unter dem Arm in Ermangelung irgendeiner Alternative vollkommen aufgelöst vor der Tür seines Elternhauses und fühlte sich wie der größte Idiot auf Erden, als er trotz all der Zeitschindereie nicht anders konnte, als um diese Uhrzeit die Klingel zu betätigen.
„Ich glaub ich erleb’s nicht mehr, haben dich alle guten Geister verlassen?“, begrüßte ihn sein Vater im Schlafanzug und mit einem komplett zerknitterten Gesicht, „Bist du zu Fuß da? Komm rein, um Gottes Willen!“
Während sein Vater im Badezimmer war, döste Alfred beinahe am Küchentisch mit dem Kaffee in der Hand ein.
„Was zum Geier, Alfred“, stellte ihn sein Vater zur Rede und ließ ihn abrupt von dem benommenen Halbschlaf hochschrecken, in den er wohl abgedriftet war, „Kannst mir mal bitte erklären, was auf einmal in dich gefahren ist und warum das dann auch noch so früh am Tag passieren muss?“
Vorhin war noch geradezu im Bett gestanden, jetzt fühlte er sich gerädert und so schläfrig, dass er sicherlich zwei Nächte am Stück im Bett verbringen könnte. Allein die vertraute Umgebung dieses Hauses und die Anwesenheit einer weiteren Person waren genau das, was er anscheinend gebraucht hatte.
Aber einem so bodenständigen Mann wie Kurt Wunderlich konnte man solche unangebrachten Gefühlsduseleien wirklich nicht unterbreiten. Nicht wenn man schon genau wusste, wie das ablaufen würde und gut darauf verzichten konnte.
Nicht wenn es schon zu viel verlangt gewesen war, als kleiner Junge mal in den Arm genommen zu werden, wenn man dieselben Alpträume in einem weitaus angebrachteren Alter gehabt hatte. Und schon gar nicht, wenn seit Jahren so viele unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen standen, die sie niemals thematisieren würden. Es gab Dinge, mit denen konnte sein Vater nicht umgehen, das wusste er.
Trotzdem war es der einzige Zufluchtsort, der Alfred in diesen Momenten der Verzweiflung eingefallen war. Vor verschlossenen Türen würde er hier nie stehen.
„Mhm“, machte er kläglich.
Kurt stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm und sah ihn wohl an seiner geistigen Gesundheit zweifelnd an. Alfred bereute für einen Moment, ausgerechnet seinen Schutz in dieser Situation gesucht zu haben.
Aber dann fiel ihm wieder ein, dass es keine Alternative gab.
Sie hatten ja doch nur noch einander.
„Geh ins Bett“, sagte Kurt.
„Mhm“, machte Alfred, „Ich muss zur Arbeit.“
„Erst in ein paar Stunden“, sagte Kurt.
„Mhm“, machte Alfred, „Ich will nicht verschlafen.“
„Dreimal weck ich dich, danach bist selbst schuld“, sagte Kurt.
„Mhm“, machte Alfred.