Wie wunderbar diese Welt sein konnte. Wie schön das Leben war!
Es fiel Darius in genau diesen Momenten auf, in denen alles plötzlich perfekt schien. Momente, in denen alles Ungeordnete mit einem Mal an seinen Platz zu fallen schien, ohne dass er nachhelfen musste.
Alle Mühen lohnten sich in diesen Augenblicken.
Alles, was zuvor ein Kampf gewesen war, ging ihm mit einem Mal so einfach von der Hand und was zuvor wie ein sperriger Holzklotz schien, wurde mit nur einer einzigen Berührung zu Gold.
Alfred schlief noch immer seelenruhig auf seinem Sofa, zumindest hatte er seit der letzten Kanne voll Kaffee, die er aus der Küche geholt hatte, nichts Gegenteiliges an Geräuschen vernommen.
Ein einziges Mal vibrierte sein Telefon und eigentlich sollte es um diese Uhrzeit fast drängend klingen, doch ohne den angezeigten Namen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, schaltete Darius es aus. Egal wie wichtig eine Nachricht oder ein Anruf mitten in der Nacht sein konnte, er hatte keine Zeit.
Ablenkung kam nicht in Frage. Nicht jetzt. Diese Angelegenheit würde warten müssen, egal worum es ging.
Die Wohnung war still – denn im Gegensatz zu der Dame vom Erdgeschoss war Alfred nicht schwerhörig und so konnte Darius nun unmöglich Klavierspielen – doch sein gesamtes Bewusstsein war von Musik erfüllt.
Er hörte jede einzelne Note schon lange, bevor er sie niederschrieb und immer wieder verging eine halbe Stunde oder mehr, ehe er überhaupt den Bleistift absetzen musste – manchmal nur, um ihn wieder anzuspitzen.
Darius lief zur Höchstform auf, die Inspiration hatte ihn gepackt und die Melodien in seinem Kopf flossen ungehindert auf das Papier. Irgendwann würde all diese Fragmente auswerten, irgendwann wäre es vollbracht, doch damit wollte er sich gerade nicht aufhalten.
Mittlerweile war ihm klar, dass es Alfred war.
Alfred, der zwar tief und fest schlief, aber doch so unendlich schöne Klänge in ihm zum Schwingen brachte.
Irgendwann würde er es ihm offenbaren, irgendwann würde er all dies zu Hören bekommen und irgendwann, ja irgendwann würde er ihm sagen, dass es nicht der Verdienst des Komponisten, sondern der seiner Muse war. Irgendwann, wenn er all die losen beschriebenen Blätter ordnen, sortieren und zusammenheften würde. Wenn er all die Notizen mit Bleistift fein säuberlich mit Tinte nachzeichnen und mit der fertigen Sinfonie im Gepäck nach Paris fahren würde, um-
Und das war der Moment, in dem Darius‘ Herz einen Schlag lang aussetzte und die Musik in seinem Inneren verstummte.
Stille.
Bis auf das klackernde Geräusch des Bleistifts, der ihm aus den plötzlich zitternden Fingern rutschte und zu Boden fiel.
Stille. Schweigen.
Eine lähmende Leere machte sich in ihm breit, als Darius erkannte, dass ihm da ein gewaltiger Denkfehler unterlaufen war.
Nein. Wie konnte er nur so bescheuert sein?
Frustriert erhob er sich vom Klavierhocker und lief einige Zeit lang sich die Haare raufend im Zimmer auf und ab. Er konnte jederzeit nach Paris fliegen, soviel war klar. Das eigentliche Ziel dieser Pläne schien aber unerreichbar ohne diese eine gewisse Komponente, die er längst wieder verdrängt hatte.
Ja, er konnte mit seinem gesammelten Lebenswerk nach Paris fahren.
Er würde es sicherlich sogar schaffen, den momentanen Aufenthaltsort von Monsieur Chevalier ausfindig zu machen.
Aber was dann?
Wie würde er erreichen, dass dieser Mann ihn überhaupt wahrnahm? Wie sollte er es hinbekommen, dass sein Idol nur einen Moment seiner kostbaren Zeit opferte, um ihn wenigstens sein Anliegen formulieren zu lassen?
Monsieur Chevalier war ein vielbeschäftigter Mann.
Er war berühmt, er war von allen Seiten gefragt und heiß begehrt – ohne ein gutes Wort von einem geschätzten Kollegen würde er keinen Gedanken an einen dahergelaufenen Spinner verschwenden. Egal ob er extra aus Wien gekommen war, um seinen Rat und Segen zu erbeten.
Wie erbittert ihn die Realität einholte.
Ohne Vorwarnung streckte sie die eisigen Finger nach ihm aus und dass sie ihn erwischte, war längst nichts mehr Neues.
Darius riss die Jalousien hoch, stützte sich mit den Händen auf dem Fensterbrett ab und lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe.
Draußen dämmerte es schon.
Er schloss für einen Moment die Augen, dann öffnete er das Fenster, um ein wenig frische Luft ins Zimmer zu lassen. Dann ließ er den Blick über die immer deutlicher sichtbar werdenden Dächer schweifen, als suche er im Licht der Morgendämmerung eine Antwort auf all seine Fragen.
Es hatte aufgehört zu regnen, nur die dicken Wolken hingen schwer zwischen ihm und der Unendlichkeit am Horizont.
Als die ersten Sonnenstrahlen hinter den Häusern hervorblinzelten, tauchten sie den Himmel in warmes Licht. Es ließ die vereinzelten Regenwolken fast sanft wirken.
Darius wurde erst bewusst, dass er immer noch dort stand, als er unverhoffte Wärme an seinem Rücken spürte. Zwei starke Arme schlangen sich sanft um seinen Körper.
Es schien irrelevant, wie aussichtslos die Situation wieder schien. Es war egal, wie er sich in seinen ganzen ungeklärten Angelegenheiten verstrickte.
Darius musste lächeln.
„Guten Morgen“, flüsterte er.
Alfred seufzte tief und schmiegte sich ein bisschen näher.
„Mhm“, machte er, scheinbar noch ganz schläfrig, „Morgen.“
Darius schmunzelte, „Hast du gut geschlafen?“
Alfred schnaufte und vergrub das Gesicht murrend in Darius‘ Schulter.
„Es ist noch zu früh“, beschwerte er sich in einer herzerwärmend verschlafenen Stimmlage, „Warum bist du schon wach? Ich hab dich vermisst, da musste ich dich suchen. Komm wieder ins Bett- aufs Sofa- was auch immer. Es ist viel zu früh.“
So wenig Darius danach zumute war, sich nach einer produktiven langen Nacht hinzulegen, er konnte sich diesem schlaftrunkenen Charme kaum erwehren. Es war einfach zuckersüß.
Es hatte etwas Intimes an sich, etwas wunderschön Privates; Alfred Wunderlich, der immer noch seinen Pullover trug und sich im Halbschlaf an ihn schmuste, um ihn wieder zu sich zu holen. Dennoch wollte Darius sich in dieser Situation nicht hinlegen.
Er wusste gut, dass sein Körper sich gern selbst nahm, was er nicht bekommen durfte. In diesem Fall würde er womöglich stundenlang in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf fallen, bei dem Alfred sich langweilen würde, allein bei ihm zuhause.
Die Erfahrung hatte selbst gezeigt, dass es ratsamer war, überhaupt nicht zu schlafen. Besser, als nach ein paar Stunden geweckt zu werden und nicht mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand. Ein Nickerchen machte ihn nicht wieder fit, es machte ihn nur zerschlagener.
Dennoch seufzte er ergeben, als Alfred die Haare an seinem Hinterkopf zur Seite strich, um sanft seinen Nacken zu küssen und ihn dann an der Hand in Richtung Wohnzimmer zog.
Wenigstens einen kurzen Blick wollte Darius im Vorbeigehen auf sein Telefon werfen, aber Alfred verzog schmollend das Gesicht, als er sich dem Handy widmete. Darum schüttelte er nur schmunzelnd den Kopf, schaltete das Display aus und nahm es mit aufs Sofa.
Zumindest schaffte er es, den Ton vorher wieder einzuschalten.
Vielleicht war es gar keine schlechte Idee.
Zumindest seinen Körper konnte er ein wenig ausruhen, selbst wenn er nur solange die Augen schloss, wie er mit Alfred kuschelte.
Sobald dieser wieder eingeschlafen wäre, konnte er womöglich gar am Telefon ein paar Mails beantworten. So musste er nicht auf die Nähe verzichten, konnte aber trotzdem produktiv sein.
Alfred war das Beste, was ihm hätte passieren können.
Jemand, der ein bisschen auf ihn und seine schlechten Angewohnheiten acht gab, ohne dabei so bevormundend zu sein wie Theresa.
Jemand, der dabei so vorsichtig war, dass er diese Hilfe annehmen konnte.
Was für ein Unsinn, dachte sich Darius, als er sich neben ihn legte.
Das hatte Alfred nicht verdient.
Es wäre einfältig, ihn damit zu belasten. Allein der Gedanke war unverzeihlich, eine aufkeimende Beziehung mit dieser Verantwortung zu zerstören.
Nein. Er musste es allein schaffen. Für Alfred.
Darius wollte nicht, dass Alfred in diese belastende Situation mit hineingezogen wurde. Aber es war eine große Motivation, sich endgültig von dieser zu lösen.
Alfred zog die warme Decke über sie und schmiegte sich zufrieden näher an Darius, der die Arme um ihn legte und lächelte.
Das Handy lag unbeachtet daneben, aber das hatte Zeit.
Wer immer etwas von ihm gewollt hatte, er würde warten können.
Die Zweisamkeit mit war Alfred kostbar und er wollte jede Sekunde genießen. All die Zärtlichkeiten in sich aufnehmen und in seinem Herz behalten, damit er in schlechten Zeiten davon zehren konnte.
Wie sagte man so schön?
Er brauchte nichts weiter als Musik, Luft und Liebe.
Der Plan war freilich, sich an die Arbeit zu machen, wenn Alfred wieder schlafen würde. Und vielleicht hatte Alfred all die innerlichen Dämonen, die sich beim bloßen Gedanken an Kristian in ihm geregt hatten, nicht vertrieben.
Aber in Schach halten konnte er sie mühelos. Ihm würde nichts geschehen.
Bei Alfred war er sicher.
„Mhm“, nuschelte dieser schläfrig und lehnte den Kopf seitlich an seine Schulter, dann beschwerte er sich murrend, „Deine Knochen sind zu hart.“
Darius schnaufte amüsiert; in diesem Zustand war Alfred einfach zu niedlich.
Die Decke raschelte, als sie sich eine etwas gemütlichere Position suchten und schließlich lagen sie ineinander verschlungen auf der Seite, die Köpfe auf dem Kissen gebettet. Auch wenn der untere Arm schon nach einigen Minuten kribbelte und etwas taub zu werden begann, so schloss Darius einfach nur selig die Augen.
Im siebten Himmel, schoss es ihm durch den Kopf.
Doch selbst diese abgedroschene Redewendung konnte seine Gefühle nicht hinreichend beschreiben. Selbst im achten Himmel konnte es nicht schöner sein als in Alfreds Armen.
Dieser wunderbare Mann, der so anhänglich schien, wenn er müde war. Alfred, der immer mehr Nähe suchte und sich enger an ihn kuschelte. Alfred, der schon wieder tief und regelmäßig atmete, dennoch aber den Kopf hob, um ihm einen etwas unbeholfenen, aber so unendlich zarten Kuss zu geben.
Alfred. Sein Alfred.
Der Mann, nach dem er sich so gesehnt hatte.
Der Mensch, von dem er gedacht hatte, dass durch ihn alles wieder gut werden würde. Was für eine undankbare Hoffnung es gewesen war.
Nun hatte er das Ziel erreicht und diesen Mann bei sich. Aber selbst jetzt, als dieser wundervolle Mensch bei ihm lag und nicht vor zu haben schien, so schnell wieder zu gehen – es änderte nichts an all den anderen Dingen, die auf Darius‘ Seele lasteten.
Und Alfred hatte nicht verdient, mit solchen Gedanken bedacht zu werden.
Er hatte nur das Beste auf dieser Welt verdient, so gut und herzlich wie er war. Er hatte es verdient, liebevoll und mit Respekt behandelt zu werden.
Als langsam die Erkenntnis in Darius‘ Bewusstsein drang, die er so lange von sich weg geschoben hatte, nahm es ihm die Luft zum Atmen.
Aber es lag auf der Hand.
Er hatte einen Menschen wie Alfred nicht verdient.
Und das war das Einzige, was zwischen ihnen stand. Alles andere würden sie gemeinsam bezwingen können. Doch wie sollte es jemals gerechtfertigt sein, dass ein so abscheulicher Mensch, wie er es war, einen so wunderbaren Menschen wie Alfred Wunderlich seinen Liebsten nennen durfte?
In ihm schnürte sich wieder alles brutal zusammen.
Darius bekam keine Luft.
Er konnte nichts tun, denn er wollte Alfred nicht wieder aufwecken, wenn er so selig schlief. Der wusste doch gar nicht, worauf er sich da eingelassen hatte, der arme Mann.
Er wusste nicht, wie unmöglich es selbst für eine so starke Frau wie Theresa war, sich dem Sog nach unten zu erwehren, der jeden in denselben Abgrund zu ziehen drohte, der ihm zu nahe kam. Wie sollte sich ein so sanftmütiger Mensch wie Alfred einer solch dunklen Macht stellen?
Was machte Darius sich vor?
Dass er auf ewig alles von sich schieben konnte, was ihm nicht passte?
Dass es besser wurde, wenn er es nur lange genug ignorierte und verdrängte?
Nicht einmal zum Schweigen war er mehr in der Lage.
Als ihm doch ein ersticktes Schluchzen entfuhr, spürte er längst wieder sanfte Arme um sich, die ihn näher zogen und warme Hände, die seinen Rücken streichelten. Weiche Lippen, die seine Stirn küssten und ein Herz, das im selben Takt wie sein eigenes schlug.
Und egal wie falsch es sein mochte – es fühlte sich richtig an.