Mehrere Minuten der Pause zwischen den beiden Konzerthälften verbrachte Alfred damit, eine vollkommen aufgelöste Theresa Berentz vor der Tür zum Sanitätsraum der Oper zu trösten – oder es zumindest zu versuchen. Das Unterfangen erwies sich als nicht gerade einfach, zumal Alfred seine eigenen Worte absolut nicht glaubte, während er ihr zum wiederholten Mal versicherte, dass alles gut war.
„Nein, Alfred“, schluchzte sie immer wieder, „Gar nichts ist gut!“
Eine weinende Frau, die sich verkrampft an seinen Arm klammerte und Halt an seiner Schulter suchte, fühlte sich in diesen Momenten fast ebenso besorgniserregend an wie die Tatsache, dass man nicht einmal ihr endlich mitteilte, wie es um den Zustand des Dirigenten bestellt war.
„Ich bin mir sicher, das wird mit ein wenig Ruhe und Erholung wieder. Für meinen Teil hielt ich es zugegeben auch nicht für die beste Idee, mit einem verletzten Bein stundenlang zu stehen, als wäre nichts passiert. Die Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein, aber darum wird sich bestimmt gerade gekümmert!“, Alfred versuchte, sie zu beschwichtigen, doch Theresas Augen weiteten sich vor Schreck.
„Wie, was - verletztes Bein!“, fuhr sie ihn auf einmal fast zornig an, „Du willst mir gerade sagen, dass du von einer solchen Verletzung wusstest und nichts dagegen unternommen hast, dass er sich mit Schmerzen auf die Bühne stellt?“
Alfred zuckte zusammen und starrte Theresa einige Zeit nur an.
„Er meinte, es würde schon gehen“, versuchte er etwas verlegen, sich zu verteidigen, „Ich dachte, er könne es selbst wohl am besten einschätzen.“
„Da siehst du ja nun, wie gut er das kann!“, fauchte Theresa ihn an, als wäre es seine Schuld, „Mensch, Alfred!“
Und irgendwie machte er sich ja schon selbst Vorwürfe, dass er all die Zeichen anscheinend nicht ernst genug genommen hatte, die darauf hingedeutet hatten, dass Darius in der letzten Zeit wiederholt absolut nicht wohl gewesen war.
Dann jedoch schien sich Theresa auf eine ganz andere Sache zu besinnen und mit einem Mal wurde ihre Wut wieder zu bitterlichen Tränen, während sie sich gegen Alfreds Schulter lehnte.
„Es tut mir leid“, hauchte sie erstickt, „Ich mache mir nur solche Sorgen. Wenn du nicht gewesen wärst, an der Treppe – weiß Gott, was hätte passieren können! Ich kann dir nicht genug danken, Alfred.“
Dass sie es sich derartig zu Herzen nahm, war für Alfred mittlerweile irgendwie zu erwarten gewesen. Es erklärte jedoch lange nicht, dass Ferdinand Berentz ihr nicht verunsichert prüfende Fragen stellte, als er kurz darauf mit Schweißperlen auf der Stirn eintraf, sondern lediglich Alfred von ihrem Klammergriff erlöste.
Der Anblick des langjährigen Ehepaares, das sich so vertraut in den Armen lag, hatte auch für Alfred etwas Tröstendes, auch wenn er sich keinen Reim daraus machen konnte, dass der Direktor weder rasend vor Wut über den plötzlichen Ausfall des Dirigenten während des Konzert noch verwundert über Theresas immense Angst um Darius Ottesen schien.
Er hielt sie lediglich fest in seinen Armen, streichelte ihren Rücken, küsste ihr Haar und nickte verständnisvoll, als sie ihm die Situation schilderte. Dann warf er Alfred einen auffordernden, aber gleichermaßen fast warnenden Blick zu und deutete eindringlich auf Theresa. Fast wirkte es, als sollte er sich um sie kümmern, während er die Sache in die Hand nahm und Alfreds Kopf war ein einziges Desaster aus Verständnislosigkeit, Millionen von Fragen und brennender Sorge.
Direktor Berentz klopfte knapp an der Tür, ehe er sie noch in der selben Bewegung öffnete und sich durch einen diskreten Spalt in den Sanitätsraum quetschte. Er schloss die Tür hinter sich und Theresa schluchzte leise, während sie mit spitzen Fingern versuchte, die verwischte Schminke aus ihrem tränenüberströmten Gesicht zu entfernen und sie dabei noch mehr verschmierte.
Alfred sah sich schon möglichst unauffällig nach irgendeiner Chance auf ein Taschentuch oder ähnlichem um, als sie sich mit brüchiger Stimme an ihn wandte.
„Warum dauert das bloß so lange?“, fragte sie verzweifelt, obwohl seither bestimmt nur einige Sekunden vergangen waren.
Er brachte es beim besten Willen nicht über sich, sie in eine tröstende Umarmung zu ziehen, weil er nicht einschätzen konnte, was Berentz gutheißen würde und was nicht. Was auch immer er von ihm erwartete, Alfred fühlte sich ohnehin wie in einer zeitlosen Parallelwelt, in der niemand daran dachte, dass mehrere hundert Menschen in Eingangshalle und großem Saal darauf warteten, dass in einigen Minuten eigentlich das Konzert weitergehen sollte.
Selbst nicht mehr sicher, ob nun eine halbe Ewigkeit oder nur einige Momente vergangen waren, schaffte Alfred es gerade noch so, eine Hand auf ihre Schulter zu legen, als Berentz schon wieder nach draußen trat, die Tür hinter sich offen stehen ließ und seine Frau zu sich winkte.
Theresa riss sich sofort von Alfred los und stürmte voller Panik in den Raum.
Während Alfred sich mit einem Mal extrem fehl am Platz fühlte, tupfte Berentz sich die Stirn mit seinem Stofftaschentuch ab. Er würdigte Alfred nur eines kurzen Blickes, ehe er mit einem theatralischen Seufzen auf die Uhr sah.
„Das war’s nun wohl“, sagte er verdrossen, scheinbar mehr zu sich selbst als zu irgendwem, „Ich kann einpacken. Aus und vorbei.“
„Wie bitte?“, hörte Alfred sich selbst fast schon entrüstet fragen.
Berentz sah ihn mit einem zutiefst resignierten Blick an.
„Sie glauben nicht wirklich, dass ich nach all diesen Vorkommnissen noch lange in meiner Position hier tätig sein kann, oder?“, meinte er und Alfred traute seinen Ohren kaum, „Die Leute zerreißen sich doch jetzt schon die Mäuler. Ich will gar nicht wissen, was in der Klatschpresse stehen wird nach diesem Abend.“
Alfred fühlte sich weder in der Position, Ferdinand Berentz nach seinen Prioritäten zu fragen, noch in der Lage, ihm irgendwelche aufmunternden Lügen aufzutischen. Er selbst fühlte sich, als stecke sein Kopf unter einer riesigen Käseglocke. Dumpf drang die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass eventuelle Kritiken über den vorzeitigen Abbruch des Konzerts zwar wirklich einiges an Wellen schlagen würden, für ihn persönlich doch aber das kleinste Übel an der ganzen Misere war.
Es fiel ihm schwer, etwas anderes zu fühlen als eine dumpf dröhnende Leere.
Die Zeit zog sich mittlerweile endlos dahin und die Sorge um Theresa wurde nur von der Angst um Darius überdeckt. Aber er konnte es kaum mehr an sich heranlassen, sein gesamter Körper und sein Kopf fühlten sich taub an, als würde er als Statist zusehen, wie alles den Bach herunterging.
Für Direktor Berentz‘ Sorgen hatte er gerade keine Kapazität mehr frei.
Ihm tat in diesem Moment lediglich Jasper Sundström leid, Erwin Gebauer, das gesamte Orchester, all die Musiker, die dafür gekämpft hatten, das hier auf die Beine zu stellen. Die Zuschauer, die sich auf einen schönen Abend gefreut hatten, sich von ihren alltäglichen Sorgen lösen und die Musik genießen gewollt hatten.
Aber Ferdinand Berentz? Alfred wollte sicherlich nicht in seiner Haut stecken, so viel war sicher. Doch in diesem Moment, in dem seine Ehefrau aus unerfindlichen Gründen die Hölle durchqueren musste, an seine Karriere zu denken, kam Alfred einem Verrat an jeglicher menschlicher Empathie gleich.
Dazu fiel ihm wirklich nichts ein, aber er wurde sich seiner Untätigkeit durch diesen Zustand kompletter Zerstreuung erst bewusst, als Theresas aufgebrachte Stimme geradezu unangebracht laut für die Situation an seine Ohren drang.
„Ganz sicher nicht!“, fauchte sie wohl gerade einen der Sanitäter an, der sie aus dem Zimmer schicken wollte, „Das kannst du dir sonstwo hinschieben! Hast du überhaupt eine Ahnung, was- Nein! Jetzt- Halt. Stop! Setz dich. Setz dich sofort wieder hin, wenn dir dein Leben lieb ist, bevor ich mich vergesse!“
Alfreds Herz setzte einen Schlag aus und mit einem Mal war ihm alles egal. Seine Beine hatten sich sowieso schon ohne sein Zutun in Bewegung gesetzt, nicht einmal Berentz sagte auch nur ein Wort der Widerrede, als er vorsichtig zur Tür trat und mit einem sehr flauen Gefühl in der Magengrube in den Raum spähte.
Es dauerte keine drei Sekunden, ehe Theresa sich hilfesuchend über ihre Schulter hinweg an ihn wandte, während sie vergeblich versuchte, einen durchaus noch benommen wirkenden, aber wieder um einiges lebendiger aussehenden Darius zurück auf die Klappliege zu drücken und dort festzuhalten.
„Alfred!“, Theresas Stimme hatte einiges an Stabilität gewonnen, klang aber schrill und panisch in seinen Ohren, „Kannst du- Würdest du-“
Sie holte Luft und sah anklagend bis hilfesuchend vom einen zum anderen.
„Mach ihm bitte klar, dass sich das mit dem Konzert sowas von erledigt hat!“
Alfred fühlte sich einen Moment lang noch extrem motiviert, Darius genau das ans Herz zu legen, dann aber komplett überfordert mit dieser Aufgabe, als er einen Blick auf dessen immer noch leichenblasses, aber so entschlossen wirkendes Gesicht erhaschte.
„Niemals“, sagte Darius nämlich und schien bemüht, seine Stimme fest und sicher klingen zu lassen, „Bevor das gesamte Orchester unter meinem Versagen leiden muss, soll mich doch der Teufel holen!“
Er stemmte die Hände gegen das Polster der Klappliege, um sich mit dem gesamten Körpergewicht gegen Theresa zur Wehr zu setzen, die ihn scheinbar lieber wieder liegen sehen wollte. Hilfesuchend sah er zu Alfred und als sich ihre Blicke trafen, war der sich gar nicht mehr so sicher, ob es Darius überhaupt zugute kommen würde, dieses Konzert nun vor der zweiten Hälfte abzubrechen.
Selbst wenn er alle anderen außer Acht ließ, wäre es sicherlich unendlich niederschmetternd für Darius, sich durch all die Strapazen der letzten Tage gekämpft zu haben, ohne die Früchte seiner Arbeit ernten zu dürfen.
Natürlich schien es fast schon über alle Maßen einfältig und verantwortungslos, ihn nach diesem Zusammenbruch wieder einfach auf die Bühne zu lassen. Und eigentlich war gerade Alfred der Mensch, der immer auf Nummer sicher und bloß kein Risiko eingehen würde. Aber in diesem Moment fühlte Alfred viel eher Darius‘ Verzweiflung, die ihn fast selbst schon schmerzte, als dass er sich überhaupt auch nur einen Moment lang auf die Vernunft besinnen konnte.
„Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie das machen wollen?“, fragte er dennoch sanft, „Ich halte das prinzipiell für äußerst unangebracht.“
Darius‘ Miene hatte sich merklich verfinstert, dann jedoch legte sich nicht nur ein erhellendes Lächeln auf seine Züge, sondern auch wieder dieser besondere, intensive Blick in seine Augen, als Alfred weitersprach.
„Allerdings“, sagte er nämlich, „Hatten wir ja bereits beschlossen, dass uns derartige Umstände nicht kümmern sollten. Daher geht es einzig und allein darum, was Sie in diesem Fall möchten.“
Theresa sah Alfred empört an und schnappte einige Male verzweifelt nach Luft.
„Du fällst mir in den Rücken? Ich fass es nicht!“, schimpfte sie, „Wenn jetzt nochmal irgendetwas passiert, ich schwöre euch, es ist mir dann egal. Von mir aus, geh schon und bring dich irgendwann selbst um, Darius. Ich werde keine einzige Träne mehr um dich weinen!“
Darius sah noch kurz entschuldigend zu Alfred, warf einen knappen Blick auf die Uhr und schloss dann Theresa für einige Momente fest in seine Arme. Sie wehrte sich nicht einmal, sondern klammerte sich an ihn.
Dann fasste er ihr Gesicht mit beiden Händen, sah ihr fest in die Augen und Alfred wandte beschämt den Blick ab.
„Ich verspreche dir, dass ich nicht tot umfallen werde“, hörte er Darius sagen, „Ausnahmsweise verstehe ich ja, dass du dich sorgst, aber ich kann das Orchester nicht im Stich lassen. Ich war nie gut darin, kluge Entscheidungen zu treffen. Aber lass mich einmal in meinem Leben das richtige tun!“
Theresa schluchzte, „Versprich mir, dass es danach wenigstens ein Ende hat, dass du dich für irgendwelche Nichtigkeiten so kaputt machst!“
Darius schwieg einige Momente und Alfred fühlte sich durchaus fehl am Platz.
„Es geht um die Musik“, sagte Darius leise, „Das ist für mich keine Nichtigkeit. Das ist mein Leben!“
Nun schwieg Theresa und schnaufte einige Male tief durch. Erst als Alfred Schritte hörte, fühlte er sich in der Lage, die beiden wieder anzusehen und als Darius betont aufrecht und sicher auf ihn zuging, bot er ihm dennoch den Arm zur Stütze an. Darius lehnte dankend ab und Theresa verdrehte die Augen.
„Männer!“, schnaufte sie entnervt, „Ich habe nach diesem Abend aber wirklich etwas gut bei euch Verrückten!“
Darius grinste Alfred augenzwinkernd an. Dieser konnte nicht umhin, als eindeutig noch etwas schief, aber mit einem Mal so erleichtert lächeln zu müssen.
„Wollen wir dann?“, fragte Alfred doch etwas unsicher.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte Darius entschlossen.
Theresa lag in Ferdinands Armen, ehe dieser sie zurück in Richtung Konzertsaal führte. Alfred fühlte sich wie ein komplett verantwortungsloser Idiot, als er neben Darius zurück durch die Tür zur Künstlergarderobe trat.
Wie ein besonders einfältiger Idiot, durch dessen Adern das pure Leben floss. Der bereit war, alles zu geben, alles zu riskieren für einen einzigen Moment, als Darius‘ Hand fast unbemerkt die seine streifte und sich für ein paar winzige Augenblicke noch ihre Finger ineinander verflochten, als würde allein dies Darius die Kraft geben, die ganze Sache nun doch bis zum bitteren Ende durchzuziehen.
Alfred bereute seine Entscheidung keine Sekunde lang und vielleicht war es das Unvernünftigste, was er sich in seiner gesamten Existenz je geleistet hatte. Doch es kümmerte ihn unangebrachterweise nicht weiter, wenn er diesen tiefen, ganz besonderen Blick in Darius‘ Augen sah.
Die restlichen Musiker saßen allesamt verdrossen und in sich zusammengesunken in den privaten Räumlichkeiten hinter der Bühne. Selbst auf Erwins Gesicht lag deutlich die Sorge, während er Jasper die Schulter tätschelte, der so aussah, als würde er in den nächsten Momenten in Tränen ausbrechen.
„Meine Herren“, sagte Darius und eine Vielzahl überraschter Blicke zuckten sofort fast schon schockiert zu ihm, „Sie sollten sich schleunigst zurück auf die Bühne begeben! In knapp drei Minuten beginnt die zweite Hälfte des Konzerts!“
Unmöglich, schoss es Alfred geradezu zärtlich durch den Kopf, während ihm ganz warm ums Herz wurde.
Dieser Mann war auf einfach nur unmöglich.
Und das auf die atemberaubendste und zutiefst einnehmendste Art und Weise, die Alfred sich überhaupt nur vorstellen konnte.
Kurt Wunderlich behielt trotz aller Zweifel mal wieder Recht, wie Alfred fast ernüchtert noch beiläufig feststellte. Die Show musste weitergehen.
Und die Show ging weiter.
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