Tatsächlich schaffte er es nicht einmal mehr, zu weinen.
Es wäre auch unangebracht und peinlich, aber so sehr ihm eigentlich danach zumute war, Alfred hatte keine einzige Träne mehr in sich übrig.
Als er die Tür öffnete und zu seinem Schließfach ging, fühlte er sich einfach nur leer. So als würde ihn die Realität gar nicht mehr erreichen. Er kannte dieses Gebäude mittlerweile in- und auswendig, aber es fühlte sich fremd an.
Das Stimmengewirr aus dem Probensaal konnte man schon draußen vernehmen und die Lautstärke war unerträglich, als Alfred eintrat.
Er ging zu seinem Platz, wo er schon sehnlich erwartet wurde.
„Alfred!“, begrüßte ihn Jasper Sundström mit piepsiger Stimme und sorgenvollem Gesicht, „Hast du schon mitbekommen, wir fahren nicht weg!“
Erwin Gebauer schnaubte.
„Nun ja, das wird er schon bemerkt haben“, meinte er belustigt, „Sonst wären wir längst im Kloster angekommen. Ich hoffe, unser lieber Ottesen hat dafür eine gute Erklärung, ansonsten gehe ich auf die Barrikaden!“
Alfred sah von einem zum anderen und schwieg betreten.
„Die Pläne haben sich kurzfristig geändert, hat Berentz am Telefon gesagt“, piepste Jasper, „Dass er uns alles heute erklären wird, hat er gesagt!“
Erwin Gebauer schnaufte tief durch.
„Hat er auch gesagt, was aus dem Konzert dort wird?“, wollte er wissen.
„Nein“, meinte Jasper kleinlaut, „Das hat er nicht gesagt.“
Während Erwin hauptsächlich wütend wirkte, sah Jasper so niedergeschlagen und verzweifelt aus, wie Alfred sich fühlte.
„Na, dann warten wir mal auf den Herrn Maestro, nicht wahr?“, meinte Erwin.
Jasper nickte zaghaft, nur Alfred wusste, dass er nicht kommen würde.
Die Tür zum Saal öffnete sich und mit einem Schlag war es komplett still.
Alfreds Gesichtszüge entgleisten.
Statt Ferdinand Berentz hatte eine Frau den Raum betreten.
Sie war etwa im selben Alter wie Alfred, ihr dunkles Haar reichte etwa bis zu den Schultern. Ein hübsches Gesicht, streng durch die Reihen blickende Augen.
Sie war nicht groß, doch wirkte sie in Hemd und Stoffhose mit einer schmalen Statur, die wenig weibliche Rundungen aufwies, fast schlaksig. Als sie ihn erblickte, hoben sich kurz ihre Augenbrauen.
Dann stellte sie sich ans Pult und ließ den Blick über die Musiker schweifen.
Alfred starrte.
Warum hatte sie sich die Haare geschnitten?
In Anbetracht aller Umstände war diese Frage wohl die Dümmste, die er sich gerade stellen konnte. Aber ihm fiel nichts besseres ein.
„Guten Morgen, die Herren“, wandte sie sich schließlich an das Orchester.
„Mein Name ist Renate Sigmund und ich übernehme bis auf weiteres ab sofort kurzfristig die Stelle von Herrn Ottesen“, erklärte sie sachlich, „Wir werden sehen, was die Zukunft längerfristig bringt. Herr Direktor Berentz lässt sich entschuldigen, er hat noch Organisatorisches zu bewältigen.“
Gemurmel brach aus.
„Ist das ein verspäteter Aprilscherz?“, echauffierte sich Erwin lautstark.
Jasper sah aus, als würde er gleich zu weinen beginnen.
Alfred starrte einfach nur.
Renate Sigmund hob beschwichtigend die Hände, aber Erwin Gebauer ließ sich nicht beruhigen. Er war hochrot angelaufen und vom Stuhl aufgesprungen.
„Wir haben gewählt! Die Wahl wurde einstimmig beschlossen“, regte er sich auf, „Es gibt keinen Grund für Berentz, uns schon wieder jemand Neues vorzusetzen, das- Das ist eine Zumutung!“
Jasper schnappte nach Luft.
Der Geräuschpegel im Raum stieg an, aber Renate klatschte laut in die Hände.
„Genug jetzt! Hören Sie mir bitte zu!“, ging sie dazwischen.
Kurz darauf wurde es wieder ruhiger.
„Mir ist bewusst, dass Sie Fragen haben, die ich nur unzureichend beantworten kann, aber das wird Herr Direktor Berentz zum gegebenen Zeitpunkt übernehmen“, begann sie mit schneidender Stimme, „Herr Ottesen hat beschlossen, das Orchester zu verlassen und ich denke, er wird seine Kündigung nicht zurückziehen, auch wenn das Horn vorne links sich auf den Kopf stellt!“
Erwin Gebauer schwieg.
Jasper war kurz davor, zu hyperventilieren und Alfred legte sachte eine Hand auf seine Schulter. Er schüttelte eindringlich den Kopf.
„Das glaube ich nicht. Das würde er nie tun!“, wisperte Jasper verstört, „Das glaube ich nicht, das glaube ich nicht, das glaube ich nicht. Das würde er nicht tun. Nein, das ergibt keinen Sinn!“
Erst jetzt sank der tatsächliche Aufbau des Satzes in Alfreds Kopf.
Kurz spielte er mit dem Gedanken, Renate über das Missverständnis aufzuklären und sie zu bitten, dass sie dies doch bitte richtig stellte.
Dann jedoch verstand er.
Berentz. Berentz stellte es so dar, als wäre es Darius‘ Entscheidung gewesen.
Das war ein äußerst raffinierter Schachzug von ihm, denn auf diese Art und Weise ließ er nicht nur die Proteste verstummen, sondern verschloss Darius gleichermaßen jegliche Tür zurück.
Selbst wenn er vor Gericht klagen würde, weil eine Kündigung im Krankenstand womöglich nicht rechtens war und zurückkommen dürfte- niemand würde das mitmachen, niemand würde ihn akzeptieren.
Es war nicht fair.
Das war nicht nur eine Frechheit und eine persönliche Beleidigung.
Das war Rufmord. Eine Verschwörung.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, hörte Alfred sich selbst laut und deutlich sagen, „Aber wenn ich kurz einwerfen dürfte, dass-“
Renate sah ihn mit einem durchdringenden Blick an.
„Wenn wir alle durcheinander reden kommen wir zu nichts! Ich bitte darum, die Fragen an Herrn Direktor Berentz zu richten, denn ich kann Ihnen allen nur sagen, was ich selbst weiß!“, sprach sie ein Machtwort.
Alfred biss sich auf die Unterlippe und warf Jasper einen kurzen Blick zu.
Er würde ihm später erklären, was vorgefallen war.
Er würde es ihnen allen erklären! Er würde dagegen vorgehen, er würde Berentz zur Rede stellen, er würde sofort Theresa davon erzählen!
„Ich kann mir vorstellen, dass es eine unglückliche Situation für sie alle ist, aber ich kann daran nichts ändern“, sagte Renate, „Ich bin lediglich hier, damit wir das Material für die kommende Saison vorbereiten können, darum schlage ich vor, dass wir nun an die Arbeit gehen!“
Erwin hatte es sich anscheinend anders überlegt.
Mit verschränkten Armen stand er da und sah Renate feindselig an.
„Wir wollen Ottesen zurück!“, rief er, als wolle er eine Revolution anzetteln.
Leider pflichtete ihm keiner bei.
Denn auch wenn Alfred ihm insgeheim zustimmte, so brachte diese Herangehensweise absolut nichts in diesem Moment.
Stille. Selbst Jasper entpuppte sich in Erwins Augen wohl als Verräter.
Er sah aber eher aus, als würden seine Nerven so blank liegen, als könne er gerade sowieso gar keine andere Aktion ausführen als die jahrelang einstudierte Bewegung, in der er seine Violine an Kinn setzte und den Bogen hob.
Somit blieb Erwin nichts übrig, als unter dem mittlerweile etwas entnervt wirkenden Blick von Renate Sigmund wieder kleinlaut Platz zu nehmen.
„Können wir dann beginnen?“, fragte sie und nahm die Partitur zur Hand.
Betretenes Schweigen.
Ungestellte Fragen.
Alfred fühlte sich selbst wie ein Verräter, als sie begannen.
Und irgendwie saß er auch zwischen den Stühlen, denn Renate konnte weder etwas dafür, noch überhaupt ahnen, wie es wirklich um die Situation bestellt war.
Er würde später mit Berentz sprechen, es gab keine andere Möglichkeit.
Wenn er schon unvorsichtig genug war, Alfred betrunken die Wahrheit anzuvertrauen und er sie nicht erst von Theresa hören würde, so sollte ihm das nun eine Lehre sein. Nichts rechtfertigte, dass er den ordentlich gewählten Dirigenten aufgrund von irgendwelcher persönlicher Differenzen ausgerechnet im Krankenstand entließ und dabei auch noch behauptete, es wäre seine Entscheidung gewesen.
Alfred würde ihm die Hölle heiß machen und wenn er dabei seinen Job verlor, sollte es ihm egal sein.
Es ging dabei nicht darum, wie unangenehm ihm das plötzliche Auftauchen von Renate war. Es ging um die Gerechtigkeit.
Außerdem wollte Alfred sich nicht vorstellen, was für ein Schock es für Darius wäre, auf der Intensivstation wach zu werden und diesen Umstand in Erfahrung zu bringen. Vielleicht würde Berentz heute auch noch einmal davon kommen, denn lieber fuhr Alfred direkt nach Feierabend ins Krankenhaus als auch nur eine Minute an den Direktor zu verschwenden, die er hätte mit Darius verbringen können. Doch er würde nicht ewig damit warten, ihn zur Rede zu stellen.
Vielleicht konnte er auch mit Renate sprechen.
Sie sollte zumindest die Lüge revidieren, die Berentz ihr aufgetischt hatte.
Das Orchester sollte wissen, dass nicht Darius sie im Stich gelassen hatte, sondern Berentz gegen ihn intrigierte. Auch wenn es an der Situation per se nichts ändern würde, würde es einen großen Unterschied machen.
Vielleicht ging Alfred nicht unvoreingenommen an diese Sache heran.
Aber Berentz musste sich verantworten, es ging nicht anders.
Er unterstellte einem kranken Mann Unzuverlässigkeit und sorgte dann dafür, dass das gesamte Orchester unter einer Entscheidung leiden musste, die er vermutlich im Suff getroffen hatte?
Alfreds Wut ebbte nicht ab.
In seinen Gedanken ging es sogar soweit, dass womöglich auch die Sache mit Marquardt ganz anders abgelaufen war, als Berentz es erzählt hatte.
Er hatte Alfreds Vertrauen komplett eingebüßt, aber wie er schon hinreichend erörtert hatte, konnte Renate nichts dafür und somit machte er notgedrungen gute Miene zu bösem Spiel.
„Natürlich müssen wir einander erst einmal kennen lernen und Mozart ist vielleicht nicht ganz die beste Wahl dafür, aber ich bin mir sicher, wir bekommen das dennoch hin“, meinte sie zuversichtlich.
Sie hob den Taktstock und ihr Blick lag kurze Zeit in Alfreds Augen.
Ihm fiel am Rande noch ein, dass er in seinen Briefen zwar angedeutet hatte, dass er einen Plan B in Erwägung ziehen würde, aber dennoch eigentlich nie erwähnt hatte, wohin es ihn verschlagen hatte. Dass sie ihn nun hier traf, hatte also auch sie nicht ahnen können.
Wahrscheinlich war es ihr ziemlich gleich, wer hier die erste Geige spielte, solange derjenige seine Arbeit gut machte. Am Ende hatte nur Alfred viel mehr Gedanken dazu im Kopf als notwendig.
Womöglich freute sie sich sogar, ihn zu sehen.
Er würde es vermutlich nie erfahren, denn ihr stand die Professionalität ins Gesicht geschrieben. Sie war nicht ohne Grund lange in Berlin gewesen, ihr Bild hatte nicht ohne Grund unzählige Male die Titelseiten der internationalen Presse geziert. Alfred hatte geahnt, dass sie ihren Job gut machte.
Eigentlich hätte er ja behauptet, dies nicht hinreichend einschätzen zu können.
Aber nun war er während der ersten Takte nicht nur positiv überrascht, sondern bedachte sie beinahe mit Ehrfurcht.
Er hatte mitbekommen, wie schwer sie es am Anfang gehabt hatte.
Hatte miterlebt, wie viel unbegründeten Hass und alberne Zweifel sie schon allein aufgrund der Tatsache zu spüren bekommen hatte, dass sie eine Frau war.
Sie hatte es geschafft.
Und auch hier bewies sie, dass sie es sich nicht nur verdient und hart erarbeitet hatte, sondern ihren Beruf lebte.
Routiniert, flexibel und empathisch zeigte sie sich souveräner als er je zu hoffen gewagt hätte und zeigte damit nicht nur allen, die sie damals belächelt hatten, dass sie sich nicht von älteren, engstirnigen Herren einschüchtern ließ.
Von Startschwierigkeiten konnte man hier in diesem Fall nicht sprechen.
Sie hatte alles im Griff.
Alfred bewunderte sie im Stillen.
Die Probe lief so reibungslos wie selten ab, die Übergänge funktionierten, die Stücke saßen noch immer besser als erwartet und Renate führte beinahe mühelos eine Gruppe von ihr beinahe komplett fremden Musikern.
Irgendwann legte die den Taktstock beiseite, als würde sie ihn nicht mehr brauchen. Alfred wusste noch gut, wie sie ihm einmal erklärt hatte, wie fremd er sich in ihrer Hand anfühlte und sie nur im Notfall darauf zurückgriff, wenn die Lichtverhältnisse schlecht oder der allgemeine Überblick ungenügend war.
Einige Stücke dirigierte sie mit bloßen Händen.
Mehrmals ertappte sich Alfred bei dem Gedanken, dass sie nicht professionell und konzentriert wirkte, sondern wahnsinnig selbstbewusst und es den Anschein hatte, als würde sich diese Zuversicht auf das gesamte Orchester auswirken.
Schließlich beendete sie die ausgiebige Aufwärmphase und sah sich mit einem durchaus zufriedenen Ausdruck auf ihrem Gesicht im Saal um.
„Wunderbar, meine Herren!“, sie nickte anerkennend und lächelte leicht, „Man hat mir nicht zu viel versprochen.“
Kurz blätterte sie in der Partitur, dann hob sie die Hand, ohne aufzublicken.
„Noch einmal das Crescendo ab Takt fünfundzwanzig, diesmal aber beginnen die Streicher allesamt mit einem Aufstrich. Die letzten vier Takte des Stücks sind essentiell für den Ausdruck, hier möchte ich eine verstärkte Akzentuierung der einzelnen Töne“, erklärte sie sachlich, „Und diesmal darf das Horn vorne links auch gern mit einsetzen. Wenn Sie nicht spielen wollen, tun Sie wenigstens so!“
Jasper warf einen warnenden Blick über seine Schulter und gestikulierte in Erwins Richtung. Renate klatschte in die Hände.
„Sind wir dann alle soweit?“, fragte sie.
Kurze Zeit später war es, als hätte es nie eine Zeit ohne Renate gegeben.
Der fabelhafte Klang erfüllte den Raum beinahe majestätisch.
Alfred musste es ehrlich zugeben: So gut hatte das Orchester lange nicht mehr bei einer Probe gespielt.
Dennoch fehlte dabei etwas sehr Entscheidendes.
Es klang geradezu phantastisch.
Aber er fühlte nichts.
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