Kurze Zeit später stand der Schlachtplan fest.
Darius würde hier seine Zeit absitzen, bis der Arzt grünes Licht für seine Verlegung gab. Theresa versprach, ihn täglich zu besuchen und alles zu regeln, damit er sich nicht auch noch den Stress mit der Organisation machen musste.
Die folgenden Wochen würde er in einer privaten Spezialklinik verbringen und so sehr Theresa ihn eigentlich auch lieber in der Nähe wissen wollte, es gab keine andere Wahl als dieselbe wie damals auch schon. Wie ironisch es war, dass er nun nicht mit dem Orchester, sondern allein nach Deutschland fahren würde. Beinahe höhnisch zeigte ihm das Schicksal auf, dass er sich selbst zuzuschreiben hatte, dass er dort nicht proben und ein Konzert geben, sondern essen, reden, mehr essen, kochen, mehr reden und noch mehr essen würde.
Dass Theresa mit keinem Wort erwähnte, dass er sich noch bei Ferdinand krank melden musste, nahm er als Anzeichen dafür, dass sie auch diesbezüglich schon alles geregelt hatte. Wer ihn solange vertreten würde, wusste Darius nicht. Vielleicht wollte er es auch gar nicht wissen, denn unterschwellig hatte er Angst, dass diese Person ihm in dieser Zwischenzeit nicht nur aushelfen, sondern ihn gleich ganz ersetzen würde.
Aber das Orchester hatte gewählt.
Die Musiker hatten einstimmig beschlossen, dass sie ihn wollten.
Und wenn es innerhalb von einigen Wochen jemand schaffen sollte, diese Loyalität zu zerstören, dann konnte er daran wohl nichts ändern und hatte sich eben doch darin getäuscht, dass eine Art persönliches Band bestanden hatte.
„Also schau“, riss Theresa ihn wieder aus seinen Gedankengängen und kramte in ihrer Handtasche, „Ich habe dir den Fragebogen zur Aufnahme schon ausgedruckt, die Anmeldung selbst habe ich telefonisch erledigt. Der Antwortbrief war heute noch nicht dabei, aber-“
Sie zog einige Umschläge aus ihrer Tasche und Darius erhaschte aus dem Augenwinkel, dass sie einen davon wieder hastig darin verschwinden ließ, ehe sie den Rest aufs Bett legte.
„Ich hab deinen Briefkasten geleert, die Heizung runtergedreht, alle Fenster geschlossen und nochmal ein bisschen aufgeräumt und sauber gemacht“, versicherte sie ihm, wohl damit er sich keine Gedanken mehr um Organisatorisches machen musste.
„Und was war das eben?“, fragte er und deutete auf ihre Tasche.
„Ansonsten ist das meiste schon hier“, Theresa führte ihren Monolog geschäftig fort, „Ich hab die Wäsche aus dem Trockner genommen und mitgebracht, alles was ich sonst noch gefunden habe, nehme ich mit zu mir und wasche es dort.“
Darius wurde misstrauisch, sagte aber noch nichts.
„Wenn du noch etwas in der Wohnung hast, was du brauchst, fahre ich natürlich nochmal hin. Gerade was deinen Notenkram angeht, das kann ich nicht einschätzen, also falls du da noch etwas mitnehmen willst, musst du mir sagen, wie und was und wo ich das finde-“, plapperte sie ungerührt weiter.
„Was ist das für ein Brief?“, fragte er tonlos.
Theresa griff nach dem erstbesten auf dem Stapel und besah ihn sich eingehend, „Ach, das sieht mir nach den Kontoauszügen vom letzten Monat aus, soll ich mal reinschauen? Aber du hast das doch sicherlich auch am Handy, oder?“
„Theresa“, presste er durch zusammengebissene Zähne und betonte jedes Wort einzeln, bis er sich nicht mehr zusammenreißen konnte, „Was. War. Das. Für ein Brief, den du ganz schnell wieder in deine Tasche gesteckt hast, damit ich ihn nicht sehe!“
Sie konnte ihm nicht die Augen blicken.
„Was für ein Brief?“, fragte sie wie beiläufig und schaffte es nicht, überzeugend zu klingen.
Darius verengte die Augen.
„Gib mir deine Tasche“, verlangte er.
Theresa sah ihn schockiert an.
„Da ist kein Brief!“, ihre Stimme allein schon verriet ihm, dass sie noch immer nicht gut lügen konnte. Er sah es ihr an der Nasenspitze an.
„Theresa“, sagte er nochmals betont ruhig, „Gib mir diesen Brief.“
Sie hielt die Tasche zu fest umfasst, dass er sich einreden konnte, sich das alles nur eingebildet zu haben.
„Nein“, sagte sie dann panisch.
Darius strich sich mit zittrigen Händen durchs Haar und konnte es nicht fassen. Seine Gedanken rasten wild durcheinander. Es gab nicht viele Möglichkeiten und erst jetzt fiel ihm auf, wie dumm er war.
Wie bescheuert und naiv es gewesen war zu glauben, dass wirklich alles geregelt war. Wie einfältig von ihm zu glauben, dass Ferdinand bei dieser Sache mitspielen würde, wie verdammt naiv er sein musste, um zu denken, dass alles gut war.
Dann verlor er die Beherrschung.
„Ach so! Wenn ich ihn nicht sehe, dann existiert er natürlich nicht!“, fuhr er sie an und klang dabei um einiges wütender als beabsichtigt, „Mensch Darius, mach dir doch keine Gedanken, ignoriere es einfach, damit du dich nicht aufregst, das wäre schlecht für dich! Wir hoffen einfach mal, dass du es in diesem Zustand sowieso gleich wieder vergisst und dich dann erst wieder damit auseinandersetzen musst, wenn du stabil genug bist?“
Theresa biss sich auf die Unterlippe und seufzte schwer.
Sie wollte ihm wohl beruhigend übers Haar streicheln, doch er schlug ihre Hand von sich, „Fass mich nicht an!“
„Darius, ich bitte dich-“, begann sie.
Er rang nach Atem, auf dem Monitor wurde das Piepsen schneller.
„Nein“, sagte er knapp, „Ich bin nicht bescheuert! Wenn du mir nicht sagen willst, was das für ein Brief ist, dann weiß ich sowohl von wem er ist als auch was darin steht!“
„Darius“, sagte Theresa sanft, „Das regelt sich schon wieder. Bis du zurückkommst, ist das alles geklärt. Du kennst ihn doch, er übertreibt manchmal, er wird sich das wieder anders überlegen und- und dann-“
Darius schnaubte.
„Er hasst mich, Theresa“, sagte er tonlos, „Und ja, ich kenne ihn. Gut genug, um zu wissen, dass sich dieser Umstand niemals ändern wird.“
„Unsinn“, flüsterte sie erstickt, dann schüttelte sie heftig den Kopf.
Bei Darius hingegen setzte die Erkenntnis gerade ein und er starrte einige Momente nur die weiße Bettdecke an, unfähig sich zu rühren oder noch etwas zu erwidern. Langsam wurde ihm bewusst, was das bedeutete.
Viel tiefer als die Wut über den Versuch von Theresa, ihm die Information zu unterschlagen, saß der Schmerz darüber, dass alles vorbei war, bevor es richtig begonnen hatte. Es lag natürlich nicht am Orchester. Es lag verflucht nochmal an diesem launischen und jähzornigen Mann, mit dem sein Glück wieder einmal stand und fiel, wie es ihm in den Kram passte.
„Er hasst dich nicht“, versicherte sie ihm, „Und ich werde dafür sorgen, dass er es sich anders überlegt. Lass ihn spinnen, ihm wird schon wieder einfallen, was du geleistet hast. Er kann das nicht durchziehen, Darius. Kein einziger Mensch im Orchester würde da mitmachen!“
Darius brauchte einige Momente, bis er überhaupt aufblicken konnte.
„Haben sie denn eine Wahl, wenn er entschieden hat?“, fragte er tonlos.
Theresa schien kurz zu überlegen. Dann nahm sie seine Hand, ignorierte diesmal, dass er davon nicht sonderlich begeistert war, und küsste sie.
„Ich werde mich über die Antwort auf genau diese Frage schlau machen, Darius“, sagte sie dann und wirkte fest entschlossen, „Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich werde ihn damit konfrontieren, dass das Orchester gewählt hat. Er kann dich nicht benutzen, wenn er gerade dringend jemanden braucht und wieder wegwerfen, wenn er Ersatz findet.“
Darius starrte mittlerweile nur noch Löcher in die Luft.
Theresa küsste seine Stirn.
„Vielleicht hat er recht“, murmelte er abwesend, „Nicht nur damit, dass ich nicht in der Lage bin, die Anforderungen in diesem Beruf verantwortungsbewusst zu erfüllen. Sondern damit, dass ich es bin, der einen Keil zwischen euch treibt und eure Ehe zerstört.“
Theresa schnaufte tief durch. Dann lachte sie kurz auf und es klang bitter.
„Dazu habe ich genau zwei Sachen zu sagen, Darius“, sagte sie leise, „Meine Prioritäten haben sich nicht geändert, die Familie- nein, du- Du stehst an erster Stelle und wenn er damit nicht zurechtkommt, dann ist das sein Verlust.“
Darius gab auf, sich zu wehren. Er schmiegte seine Wange an ihre Schulter und sie streichelte sein Haar.
„Und außerdem“, begann sie noch etwas leiser, „Musst du dir über meine Ehe wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Es ist wohl kaum möglich etwas zu zerstören, das sowieso schon längst kaputt ist.“
Sein Atem zitterte und er legte die Arme um sie, ehe er sie mit feuchten Augen ansah. Mehrere Anläufe brauchte er, um auch nur irgendein Wort herauszubringen.
„Es-“, er musste schlucken, „Es tut mir leid.“
Theresa schüttelte den Kopf.
„Schh“, machte sie und küsste seine Nasenspitze, „Nichts muss dir leid tun.“
Darius schnappte nach Luft.
„Nicht nur das. Nicht nur- Ich meine-“, wisperte er erstickt, „Alles- Alles meine ich. Es tut mir leid, Theresa. Es tut mir so leid.“
Sie hielt ihn fest umfasst und schüttelte wieder und wieder den Kopf.
„Es ist alles gut, mein kleiner Schatz“, flüsterte sie in sein Ohr, „Und alles wird wieder gut. Wir schaffen das. Ich bin für dich da, immer. Du musst dich nicht entschuldigen. Du kannst doch nichts dafür.“
Darius bekam alles nur noch wie in Trance mit.
Es war zu viel. Es war einfach zu viel. Irgendwo schlich sich noch eine andere drängende Frage in seinen Kopf und er wurde sie nicht mehr los. Er musste sie stellen, es ging nicht anders.
„Wer?“, fragte er kaum hörbar.
Theresa sah ihn an.
„Wer was?“, stellte sie ihm verwirrt eine Gegenfrage, statt zu antworten, „Wer etwas dafür kann? Das hatten wir doch alles schon und es ist nicht wichtig, Schatz. Es geht nur darum, dass-“
Darius schüttelte heftig den Kopf.
„Nein“, schnaufte er, „Wer dirigiert jetzt das Orchester, meinte ich.“
Theresa streichelte seinen Rücken.
„Ist das denn wichtig für dich?“, fragte sie sanft, dann schien sie kurz zu überlegen, „Ich kann das mit Sicherheit in Erfahrung bringen. Ferdinand meinte irgendetwas von irgendeinem Sigmund, den er jetzt endlich hatte erreichen können. Aber frag mich nicht wie der weiter heißt und wer das überhaupt ist.“
Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Vielleicht war es besser, er würde Theresa nicht darin einweihen, wie viel beißenden Sarkasmus das Schicksal wieder einmal an den Tag legte, um ihn in seine Schranken zu weisen. Er würde ihr nicht sagen, dass er wusste, wer gemeint war. Theresa musste nicht wissen, dass Sigmund nicht der Vornamen dieser Person war. Sie musste nicht wissen, dass ihm Renate Sigmund schon längst und nun noch um einiges persönlicher ein Begriff war. Und vor allem musste sie nicht wissen, wie schmerzhaft sich in ihm alles zusammenzog bei allen sich aufdrängenden Gedanken.
Vielleicht war es tatsächlich die bessere Entscheidung. Vielleicht war Renate Sigmund einfach die weitaus bessere Wahl. Für das Orchester. Für Ferdinand Berentz. Und vor allem für Alfred Wunderlich.
Darius blinzelte erneut aufkommende Tränen aus seinen Wimpern und hielt sich verkrampft an Theresa fest. Vielleicht hatte sie recht. Aber damit war es nicht getan. Vielleicht konnte er für mache Sachen wirklich nichts, vielleicht waren manche Dinge wirklich nicht seine eigene Schuld.
Doch darauf konnte er sich nicht ausruhen. Er musste anfangen, etwas dagegen zu tun. Sie hatte Recht. Es wurde nicht besser, wenn alles so weiterlief, wie es bisher gelaufen war.
Es war eine Sackgasse, sich der Krankheit hinzugeben und darauf zu berufen, dass er ja nichts dafür konnte. Der Plan, sich darauf zu verlassen, dass andere ihm aus der Klemme halfen, wenn er selbst nicht weiterkam, würde nicht aufgehen. Er musste selbst aktiv werden. Er musste handeln.
Und Darius wusste, was zu tun war.
Vielleicht war es wirklich nicht so schlimm, wie es sich anfühlte. Vielleicht würde es wirklich wieder vorbeigehen und irgendwann wäre alles wieder gut. Vermutlich würde es nicht von allein passieren, das war ihm irgendwo noch bewusst. Er musste dafür selbst etwas tun, selbst dafür kämpfen.
Aber wie, schoss es ihm noch durch den Kopf, bevor er erschöpft die Augen schloss. Wie sollte er für etwas kämpfen, wenn er weder die Kraft dazu hatte noch überhaupt einen Lichtblick sehen konnte.
„Schlaf noch ein bisschen, ja?“, flüsterte Theresa und küsste seine Stirn.
Ihr Gesicht war das Letzte, was Darius wahrnahm, ehe er in einen leichten Schlaf abdriftete und sich in einem Wirrwarr aus angsterfüllten Träumen verlor.
Darius schreckte hoch, als sein Telefon klingelte.
Noch komplett benommen warf er keinen einzigen Blick auf das Display, sondern nahm den Anruf einfach nur entgegen und brachte nicht mehr als ein eher unverständlich genuscheltes „Ottesen“ zustande. Er war gerade im Begriff, sich aufzurichten und zumindest zu versuchen, wieder halbwegs zu Bewusstsein zu gelangen, als ihm die Stimme aus dem Lautsprecher im selben Moment das Blut in den Adern gefrieren ließ, in der er sie erkannte.
Die Stimme, die er zu jedem erdenklichen Zeitpunkt unter Tausenden würde herausfiltern können, weil sie sich so tief in sein Bewusstsein eingebrannt hatte. Gemeinsam mit so vielen Aussagen, die er noch im detailgetreuen Wortlaut würde wiedergeben können, wenn es darauf ankäme- Darius konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen.
„Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass mir ausgerechnet Berentz wirklich deine echte Nummer anvertraut“, Kristian Dahl klang amüsiert und zufrieden zugleich, „Scheinbar gibt es da einige Differenzen zwischen ihm und seinem Hausdrachen.“
Ein kurzes, fast übertrieben affektiert klingendes Lachen.
„Wie dem auch sei- schön, dass du dich bei mir gemeldet hast, mir geht es gut danke der Nachfrage und so weiter. Ich gehe recht in der Annahme, dass Dornröschen aus dem Schönheitsschlaf erwacht ist?“
Darius stockte der Atem. Aber was hatte er erwartet? Er hätte es wissen müssen. Er hätte es verdammt nochmal besser wissen müssen.
Er hätte niemals so naiv sein sollen und glauben, dass es eine Situation geben würde, in der Kristian nicht bekommen würde, was er wollte. Es war so dumm von ihm gewesen, anzunehmen, dass er sich irgendwo vor ihm verstecken konnte. Wie unendlich einfältig zu glauben, dass er vor ihm weglaufen konnte.
„Was willst du?“, fragte Darius, als er seine Stimme wiederfand und versuchte, dabei kalt und abweisend zu klingen.
Kristian lachte kurz auf, als würde er diesen kläglichen Versuch für äußerst charmant befinden. Sie wussten beide, dass Darius keine Chance hatte.
„Die Frage ist viel eher, was du eigentlich willst“, sagte er eiskalt, „Du scheinst es selbst nicht zu wissen, deswegen wollte ich deiner Entscheidungsfreudigkeit ein bisschen auf die Sprünge helfen. Dein Rosenkavalier – wie hieß er noch gleich, Wunderlich?“
Darius schloss die Augen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Kristian ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen und dann blieb ihm alles, was er sagen wollte, im Hals stecken.
„Weiß er denn, dass du gern mehrere Optionen zur Auswahl hast?“, fragte Kristian, „Je nachdem, was dich gerade weiterbringen könnte. Ist ihm bei seiner unendlichen Liebe für das, was er glaubt in dir zu sehen, denn überhaupt bewusst, dass Darius Ottesen nicht lange zögert, wenn sich ihm eine andere Chance bietet?“
Darius traute seinen Ohren kaum. Vielleicht schlief er noch, vielleicht war das nur ein sehr seltsamer Traum.
„Dass er seine Würde aufgibt für einen einzigen Moment, in dem er im Rampenlicht stehen kann? Statt seiner Seele seinen Körper verkauft, um die Karriereleiter ein bisschen emporklettern zu können?“, fuhr Kristian fort, dann musste er wohl selbst lachen, aber es klang bitter und unterkühlt, „Oder ist der Wunderlich wirklich so naiv, dass er glaubt, du hättest aufrichtige Gefühle für ihn?“
Das war der Moment, in dem Darius tatsächlich etwas erwidert hätte, doch Kristian unterbrach ihn, noch bevor er ein einzige Wort sagte.
„Ich will dir eines sagen, Darius“, mittlerweile klang er beinahe aufgebracht, als hätte er sich mit seinem kleinen Monolog in Rage geredet, „Du sprichst die ganze Zeit von deinem Stolz, aber auch ich werde nicht auf mir sitzen lassen, dass du mich benutzt, wie dir gerade der Sinn danach steht. Und du weißt, dass ich ungern Kompromisse eingehe.“
Wäre die Situation nicht so absurd, hätte Darius vielleicht gelacht. In diesem Moment aber lief es ihm nur eiskalt über den Rücken, denn so gern er behauptet hätte, dass Kristian einfach nur seine übliche Masche abzog, so viel Erfolg hatte er trotz bestem Wissen um den Sachverhalt damit.
Wie immer. Es war einfach so wie es schon immer gewesen war. Noch während Darius sich im Kopf die Worte zurechtlegte, ihm sagte wollte, dass er gerade wieder einmal die Tatsachen komplett verdrehte und absoluten Mist redete, meldete sich in seinem Hinterkopf die leise Stimme zu Wort, die ihm in Erinnerung rief, dass Kristian doch recht hatte. Dass er immer recht hatte und dass Darius sich selbst nur besser fühlen wollte und sich deswegen einredete, dass Kristian die Dinge anders darstellte als wie waren.
Theresa widersprach ihm lediglich, damit Darius sich besser fühlte. Sie musste das so machen, immerhin war sie seine Schwester und liebte ihn. Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst wäre, würde sie ihm ebenfalls recht geben. Es war wie verdammt nochmal immer und Darius schaffte es auch jetzt nicht, Kristian mehr zu hassen als er sich selbst hasste.
Bevor er sich in den Gedanken verlieren konnte, erwartete dieser aber wohl zumindest irgendeine Art der Rückmeldung - oder wenigstens die Bestätigung, dass Darius alle Widerworte im Hals stecken blieben.
„Bist du noch dran?“, fragte er nämlich.
Darius brachte nicht mehr als ein klägliches „Ja“ zustande.
„Sehr gut“, sagte Kristian, wirkte aber noch lange nicht zufrieden, denn er sprach weiter, ohne irgendeine weitere Reaktion abzuwarten, „Lass dir also besser noch einmal durch den Kopf gehen, ob dir dein Rosenkavalier wichtig genug ist, dass du dich in seinem Sinne für eine Einigung mit mir entscheidest. Es wäre doch bestimmt unerträglich für dich, wenn du nun explizit weißt, dass du der Grund bist, warum ihm ganz unerwartet vielleicht etwas zustoßen könnte.“
Kristian ließ sich Zeit für eine künstlerische Pause.
Darius wartete wie in einer Trance aus absolutem Grauen darauf, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden.
„Es wäre doch sicherlich furchtbar für dich, wenn ihm nur wegen deiner Sturheit und deinem sogenannten Stolz etwas geschehen würde, nicht wahr?“
Das war nicht sein Ernst. Das konnte nicht sein Ernst sein.
Nicht einmal jemand wie Kristian würde so weit gehen- er würde doch nicht-
„Du wirst ihm nichts antun“, presste Darius zähneknirschend hervor.
Kristian lachte tonlos auf.
„Ach Darius- du lernst nicht dazu, oder?“, Kristian seufzte theatralisch, „Nein, eigentlich hatte ich das nicht vor, immerhin hat er mit uns beiden ja streng genommen nicht viel zu tun. Wenn er aber meint, dass er sich in meine Angelegenheiten einmischen muss und du dich weiterhin uneinsichtig zeigst- da bleibt mir dann wohl leider keine andere Wahl!“
Darius sank entkräftet in sich zusammen und zurück ins Kissen. Er spürte die Tränen in seinen Augenwinkeln brennen, er spürte den dicken Kloß in seinem Hals, er bekam keine Luft und er schaffte es nicht einmal, den Tränen freien Lauf zu lassen. Stattdessen biss er sich auf die Unterlippe, um ein verzweifeltes Schluchzen zu unterdrücken.
„Hast du mich verstanden?“, fragte Kristian ruhig.
„J-ja“, antwortete Darius zaghaft.
„Ob du mich verstanden hast, habe ich gefragt“, sagte Kristian lauter.
„Ja“, versuchte Darius, seine Stimme fester und deutlich klingen zu lassen.
Kristian schien sich tatsächlich damit zufrieden zu geben.
„Ich rufe dich morgen wieder an. Bis dahin kannst du dir durch den Kopf gehen lassen, wie du deine Prioritäten setzen möchtest“, erklärte er ruhig, bevor sein Tonfall schärfer wurde, um die anschließende Drohung nochmals zu untermauern, „Und in der Zwischenzeit kannst du darauf hoffen, dass mir dein Rosenkavalier nicht mehr unter die Augen tritt. Ich mag es nicht, wenn mir jemand mein Eigentum streitig macht- Er soll die Finger von dem lassen, was mir gehört!“
Damit legte er auf und Darius fühlte sich so schwach, dass ihm das Telefon aus der Hand rutschte, als er es eigentlich weglegen wollte. Es fiel zwar weich auf die Matratze und er schob es energisch unter das Kopfkissen, aber dennoch konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Die ungeweinten Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Obwohl er lag, schien sich alles um ihn herum zu drehen. Irgendwann driftete er ab, ganz weit weg von all den unsagbar beängstigenden Ereignissen. Er wusste zwar nicht, ob er bewusstlos wurde oder wieder einschlief, aber er träumte.
Er träumte von Alfred. Seinem lieben, guten Alfred, wie er zaghaft an der Tür klopfte, vorsichtig den zerzausten Wuschelkopf ins Zimmer streckte, ihn mit einem sanften Lächeln erblickte und ganz ganz leise, um ihn nicht zu wecken, den Raum betrat und zu seinem Bett schlich.