Wie bereits erwartet ergab sich aus dem so kurzfristig noch improvisierten Konzert am folgenden Sonntag kein durchschlagender Erfolg in der Öffentlichkeit. Weder dem Orchester noch dem Komponisten würde die Darbietung zu internationaler Bekanntheit oder irgendeiner Form von offiziellem Ruhm verhelfen, soviel war sicher. Dafür waren die Musiker in dieser viel zu kurzen Zeit um einiges zu unsicher und die gemeinsame Darbietung zudem auch viel zu persönlich.
Doch es wurde ein wunderschöner gemeinsamer Abend, der allen Beteiligten aus verschiedensten Gründen noch lange in seliger Erinnerung bleiben würde. Sie musizierten gemeinsam, sie feierten die vergangene Zeit mit all ihren Höhen und Tiefen und trösteten einander über den bevorstehenden Abschied hinweg. Neben den Musikern des Orchesters waren nicht viele Menschen anwesend, das kleine Publikum war bunt zusammengewürfelt. Der sogenannte „große Saal“ in der Aula des Gebäudes hätte auch kaum mehr Menschen gefasst, im Vergleich zum pompösen Opernhaus wirkte alles hier sehr familiär.
Die Zuschauer bestanden zum Großteil aus Familienmitgliedern und Freunden, sowie einigen noch dazu eingeladenen Schülern und Lehrkräften der Musikschule Frey. Luise hatte sich Mühe gegeben, alles festlich herzurichten, die Technik und die Abläufe funktionieren reibungslos und nachdem diese kleine, durch und durch unperfekte und extrem inoffizielle Uraufführung von Darius Ottesens erster Sinfonie mit tosendem Applaus über die Bühne gegangen war, dachte im Traum keiner daran, sofort nach Hause zu gehen.
Viel eher wurde es noch einige Stunden lang zu einem gemütlichen Beisammensein, bei dem viel miteinander gelacht, geredet und irgendwann in spontan zusammengestellten kleinen Konstellationen noch mehr musiziert wurde.
Natürlich hatte Alfred seinen Vater eingeladen, der ihn kurz nach dem Konzert schon scherzhaft fragte, ob alle schon vorher betrunken waren, ehe er ihm auf die Schulter klopfte und ihm mit feuchten Augen gestand, wie wahnsinnig stolz er auf ihn war.
In seinem besten Anzug stand er eine ganze Weile bei Renate und trank Sekt mit ihr, während sie lustig über vergangene Zeiten plauderten. Schließlich forderte er einen Sohn auf, ob er denn nicht mit ihm singen wollte. Und das taten sie.
Jasper war wieder in Begleitung erschienen, Alfred konnte sich nicht vorstellen, dass sie nur gute Kumpels waren, so wie sie einander ansahen, während sie miteinander scherzten und lachten. Selbst Erwin hatte seine immer als so anstrengend bezeichnete Frau nun freiwillig dabei und entgegen seiner Aussagen wirkten die beiden doch sehr liebevoll miteinander, Seite an Seite mit ihren gefüllten Weingläsern – denn das lang ersehnte Betrinken ließ sich Erwin nun nicht nehmen und die holde Frau Gebauer schien erstaunlich trinkfest dabei. Ja, fast wirkte es nach einiger Zeit, als könnte sie ihren Ehemann jederzeit unter den Tisch trinken.
Nur sehr wenige der Musiker und Zuschauer verabschiedeten sich alsbald, der Großteil saß und stand noch gemütlich zusammen. Die Gastgeberin hatte gemeinsam mit den Lehrkräften ein kleines Buffet mit allerlei Leckereien zum Trinken und Essen auf die Beine gestellt, in der Eingangshalle waren Tische aufgestellt und die Gesellschaft verteilte sich zwischen eben jener und dem großen Saal, sodass kein allzu großes Gedränge herrschte.
Darius hatte sich nach der Darbietung erst einmal zurückgezogen. Er hatte zu Alfred gemeint, dass er sich ein bisschen ausruhen wollte, ehe er sich dazu gesellte und dieser konnte es ihm nicht verübeln. Theresa leistete ihm wohl eine Weile Gesellschaft, denn sie war eine Zeit lang nirgendwo aufzufinden. Doch als sie sich schließlich in ihrem eindrucksvollen Kleid wieder unter die Feiernden mischte, lagen doch einige Blicke sehr angetan auf ihr. Sie war ohne ihren Ehemann gekommen, niemand hatte ihn eingeladen.
Etwas verdrossen wirkte sie kurz mit ihrem Sektglas allein an einem Stehtisch, als würde sie überlegen, ob sie überhaupt Lust auf den weiteren Verlauf des Abends hatte. Aber ihre Augen begannen sofort zu strahlen, als sich Renate ihren Weg durch die Umstehenden bahnte und bei ihr zum Stehen kam. Die beiden hatten wohl einiges zu besprechen und niemand wollte die beiden Damen dabei stören.
Schon kurz nach dem Auftritt war Nina zu Alfred gelaufen, war ihm um den Hals gefallen und nachdem sie wie ein Wasserfall über alles Mögliche geplappert hatte, als würde sie gar kein Ende finden, legte sie noch einmal ganz fest ihre Arme um ihn und flüsterte in sein Ohr, dass sie ihn total lieb hatte.
Gabriel war ebenfalls anwesend und entgegen Alfreds intuitiver Vermutung ging er der Gastgeberin des Abends absolut nicht aus dem Weg. Kurz hatte er noch mit ihm gesprochen, eine wirklich alberne verspiegelte Fliegerbrille ließ ihn tatsächlich wie ein Rockstar wirken und verdeckte fast erfolgreich sein blaues Auge.
Laut der Polizei würde Dahl nun erst einmal unter Beobachtung stehen, irgendein findiger Inspektor habe nochmals die internationale Aktenlage über diesen Mann erneut aufgerollt und beschlossen, dass er die vergangenen, fallen gelassenen Anzeigen nochmals überprüfen würde. Bis Darius würde aussagen können rechnete Gabriel in einem fast bissig wirkenden Kommentar zwar noch mit Jahren, aber er schien dennoch zufrieden mit seiner Leistung diesbezüglich und klopfte Alfred nochmal voller Anerkennung auf die Schulter, ehe er im Gedränge nach seiner Tochter suchte.
Einige Zeit verbrachte Nina stolz grinsend zwischen ihren Eltern stehend, die wohl einiges miteinander zu besprechen hatten und sich angeregt unterhielten. Dann umarmte sie beide und gesellte sich zu den wenigen Gleichaltrigen, die sie wohl durch die Musikschule kannte. Mit den Erwachsenen wurde es verständlicherweise ja irgendwann langweilig, Alfred verübelte es ihr ganz und gar nicht.
Zwischen all den Menschen stand fast etwas einsam und verloren ein Mann, der Alfred erstaunlich bekannt vorkam. Vielleicht war es sogar eben jene Person, mit der er nun an diesem Abend und nach allem, was geschehen war, am Allerwenigsten gerechnet hatte. Alfred blieb für einen Moment komplett die Spucke weg.
Der Mann hatte ihn längst erblickt und kam zügig auf ihn zu. Alfred schnappte nach Luft und schnaufte angestrengt.
„Doktor Marquardt?“, entfuhr es ihm schließlich verblüfft.
Der ältere Herr grinste und winkte mit einer ausladenden Handbewegung ab.
„Ach, ich bitte dich, mein guter Alfred“, meinte er fast väterlich, „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich doch bitte endlich Helge nennen sollst?“
Alfred verstand die Welt nicht mehr.
„Sie- ich meine, du-“, begann er verwirrt, aber Marquardt erlöste ihn schnell von seinen komplett verworrenen Gedankengängen.
Er wiegte gedankenverloren den Kopf hin und her, dann zuckte er mit den Schultern und gestikulierte ausladend, „Manchmal sind Veränderungen im Leben gar nicht so übel, wie man zunächst denkt. Es tut mir leid, dass es in einem solchen Missverständnis ausarten mussten, aber Ferdinand konnte wohl wirklich nicht akzeptieren, dass ich zur Geburt meiner erster Enkeltochter einige Zeit mit meiner Familie in Berlin verbringen wollte.“
Alfred blieb der Mund offen stehen.
„Bitte was?“, entfuhr es ihm.
Marquardt winkte ab, „Ich bin mittlerweile doch in einem Alter, in dem ich Prioritäten setzen muss. Es tut mir leid, dass ich selbst nicht mehr dazu gekommen bin, mich persönlich zu verabschieden, aber meine Tochter und ihr Kind hatten es eiliger als gedacht.“
Alfred musste trotz aller Verblüfftheit schmunzeln, „Das verstehe ich.“
„Nachdem Ferdinand so reagieren musste, hatte ich zugegeben nicht den Schneid, mich nochmals blicken zu lassen“, fuhr Marquardt fort, „Meine Entschuldigung kommt reichlich spät, aber vielleicht sollte ich viel eher froh darüber sein, dass alles so gekommen ist, nicht wahr?“
Alfred schnaufte angestrengt.
„Wie meinen Sie das?“, fragte er unsicher.
„Ottesen hatte eine Chance verdient“, erklärte Marquardt, „Ich wollte ihm nicht die Gelegenheit nehmen, sich in Wien zu beweisen, wo doch ein Großteil seiner Familie hier lebt. Dass es so laufen würde, konnte niemand ahnen und natürlich ist es für ihn persönlich sehr viel tragischer als für das Orchester.“
Alfred holte tief Luft, um etwas zu sagen, aber Marquardt war allen Anschein nach noch nicht fertig.
„Mittlerweile bin ich mir jedoch sicher, dass ihm die gesamte Welt offen steht, sobald es ihm wieder besser geht. Die Gesundheit geht in jedem Falle vor, doch ich will nicht bescheidener wirken als ich bin-“ fuhr er mit seinem Monolog fort.
Alfred verstand beim besten Willen nicht, aber Marquardt lächelte ebenso gütig wie vielsagend, „Als mir ein langjähriger Bekannter zum wiederholten Male von den so herausragenden Fähigkeiten eines unbekannten Komponisten berichtete und mich dazu gar in meinem privaten Zweitwohnsitz in Paris aufsuchte, musste ich mir doch nun endlich selbst ein Bild von diesem vielversprechenden jungen Mann machen.“
„Ich verstehe nicht“, gab Alfred zu, „Was meinen Sie damit?“
Marquardt schmunzelte und zwinkerte Alfred verschwörerisch zu.
„Mit Verlaub“, meinte er lachend, „Das ist nur eine Sache zwischen mir und Herrn Ottesen. Als ich vorhin mit ihm sprach, schien er jedoch nach einer kurzen Erklärung über diverse Künstlernamen, die man sich mit der Zeit in meinem Alter so zurecht legt, ganz gut zu verstehen, was ich meine. Und das ist das Wichtigste.“
Alfred musste ein Augenrollen unterdrücken, schnaufte tief durch und musste dann ebenfalls lächeln. Der Doktor war schon immer ein ganz besonders verwirrender Mensch gewesen. Vielleicht lagen Genie und Wahnsinn nicht so nah beieinander wie der Vergleich von Marquardt zu einem weisen Mentor.
Aber als dieser sich schließlich verabschiedete, weil er ja noch so viel zu tun hatte und ja auf einigen Ebenen ein sehr vielbeschäftigter Mann war, hielt Alfred sich nicht mehr lange damit auf. Es war schön und gut, so viele bekannte Leute zu treffen. Doch auch er seine musste Prioritäten setzen und so suchte er inmitten von all den anderen getrieben von Sehnsucht nach einem ganz bestimmten Gesicht.
Trotz der deutlich sichtbaren Spuren seiner furchtbaren Krankheit wirkte Darius in seinem schicken Anzug, vor allem aber mit der entspannten Körperhaltung und dem strahlenden Lachen auf seinem Gesicht so tief glücklich und zufrieden, dass Alfred sich des Gedanken nicht erwehren konnte, wie sehr er von ihm angetan war.
Wie heiß und innig, aber auch wie still und heimlich er ihn liebte.
Und als langsam ein bisschen Ruhe einkehrte, stand eben dieser Mann vom Klavierhocker auf, auf dem er sich wohl immer wieder eine Weile vom Stehen erholt hatte und ging mit einem aufgeregt wirkenden Schmunzeln direkt auf Alfred zu.
Dieser verabschiedete sich von seinem Vater, sah sich dann verstohlen um und folgte Darius nach draußen. Es war längst dunkel, aber angenehm mild und Alfred legte seine Jacke instinktiv um Darius‘ Schultern, als dieser leicht zu zittern begann. Als sie sich auf einer kleinen Holzbank neben der Tür niederließen, sprach keiner von beiden ein Wort.
Der Himmel über ihnen war sternenklar und obwohl sie nebeneinander saßen und sich nur ihre Schultern leicht berührten, hatte Alfred sich ihm niemals näher gefühlt. Es war Darius, der zaghaft nach seiner Hand tastete und seinen Kopf auf Alfreds Schulter sinken ließ.
Beide hatten den Blick nach oben gewandt und betrachteten einvernehmlich schweigend die Sterne. Alfred spürte tiefen inneren Frieden und als eine Sternschnuppe ihnen zublinzelte, schloss er die Augen und wünschte sich etwas.
Sein Herz schlug so stark und froh gegen seine Brust, in seinen Adern floss das pure Leben durch seinen Körper. Darius sah ihn an und hauchte einen zarten Kuss auf seine Wange. Alfred schloss ihn in seine Arme, lächelte verträumt und sang mit sanfter Stimme ein leises Liebeslied.
Und so sehr ihn der bevorstehende Abschied schmerzte, gerade war er einfach nur in diesem Moment. So sehr ihn die Ängste oft gefangen hielten, dass sie einander womöglich niemals wiedersehen würden oder eine feste Beziehung aus anderen Gründen nicht zustande kam – in diesem Moment fühlte er nur die Hoffnung.
Warum sollte er verzagen? Die gesamte Zukunft lag vor ihnen.
Im Ungewissen zwar, doch Alfred spürte es so deutlich wie selten zuvor.
Er war am Leben. So durch und durch, dass sein Lebenslied nicht mehr einen Klagegesang glich, sondern dem Auftakt zu seiner ganz eigenen, still auf ihn wartenden Sinfonie. Und die wurde nicht mehr in Moll geschrieben, so viel war sicher. Er flüsterte Darius etwas ins Ohr und dieser nahm lachend seine Hände. So rasant wie die letzten Wochen vergangen waren, so tief wie sie ihre Spuren hinterlassen hatten und so wie er sich nun fühlte, konnte er es beim besten Willen in seiner scherzhaften Planung bei einem Vivace belassen. Das war mindestens Vivacissimo.
Gemeinsam mit Darius genoss Alfred den Frieden der Nacht, schloss träumend die Augen und seufzte selig. Sie würden es schaffen, ganz sicher. Es würde womöglich doch alles gut werden.
So voller Leben hatte er sich bei näherem Betrachten vielleicht bisher noch nicht gefühlt. Egal wie unangebracht der Gedanke nun sein mochte, aber er war am Leben. So klar und deutlich, wie Alfred es nie zuvor gespürt hatte.
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