Als er wieder wach wurde, schreckte Alfred sofort panisch hoch. Die Sonne schien unangenehm hell durch das Fenster, er lag nicht in seinem Bett und sein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment in tausend Teile zerspringen.
Vorsichtig blickte er sich im Raum um und erkannte das Wohnzimmer seines Vaters. Noch um einiges vorsichtiger blickte er auf seine Armbanduhr und sank erleichtert wieder auf das Sofapolster zurück.
Es war schon in Ordnung, dass sich das ganze Zimmer drehte und seine Schläfen schmerzhaft pochten. Es war ja nicht so schlimm, dass ihm allgemein ganz sterbenselend zumute war. Die Hauptsache war, dass er rechtzeitig aufgewacht war und erst in einigen Stunden das Haus verlassen musste, um pünktlich--
Oh Himmel.
Bruchstückhaft tauchten einige Szenen des vergangenen Abends in seiner Erinnerung auf und Alfred zog mit einem leidvollen Stöhnen die Wolldecke komplett über seinen Kopf.
Nein.
Er würde nicht aufstehen.
Nie wieder würde er das Haus verlassen.
Keinem einzigen Menschen konnte er je wieder unter die Augen treten.
Auch wenn Alfred keinen blassen Schimmer hatte, warum er nicht lieber nach Hause gewollt hatte und wie er überhaupt hierhergekommen war – die Erinnerungsfetzen reichten aus, um sich in Grund und Boden zu schämen, dass er sich in aller Öffentlichkeit betrunken hatte.
Je länger er darüber nachdachte und je mehr ihm einige Dinge wieder einfielen, desto weniger wollte er weitere Details wissen. Am besten er verschwand schnell nach Hause, ehe sein Vater ihn zu Gesicht bekam, oder löste sich am besten gleich komplett in Luft auf.
Aber wie immer fiel ihm nach solchen Gedankengängen sofort auf, wie oft er solche Pläne hatte und wie unmöglich es war, sie in die Tat umzusetzen. Und immer lief es auf genau dasselbe hinaus; verflucht sei auf ewig sein eigenes Pflichtbewusstsein.
Egal wann und egal wieso, egal ob er sich vornahm, sich für immer irgendwo lebendig einzugraben oder mit dem Gedanken spielte, sich einen Tag lang wegen eines Unwohlseins gleich welcher Art krank zu melden:
Letzten Endes saß er ja doch wieder pünktlich neben Jasper Sundström und harrte allen möglichen und unmöglichen Dingen, die da kommen mochten.
Sein Vater hatte ihn gnädigerweise wieder mit dem Auto zur Arbeit gefahren und Alfred schrieb sich eine mentale Notiz, dass diese neue Mode wieder aufhören musste, bevor er sich am Ende noch schwer tat, überhaupt wieder die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Egal wie bequem es war, nicht mit der Bahn fahren zu müssen, schon allein für sein persönliches Selbstwertgefühl konnte er sich nicht dauerhaft von seinem Vater durch die Gegend kutschieren lassen.
Die Vorwürfe für sein beschämendes Verhalten waren interessanterweise sogar weitestgehend ausgeblieben.
Alfred vermutete also zwangsläufig, dass er sich dermaßen daneben benommen hatte, dass dieser Abend in seiner Gesamtheit nun fortan zu den Dingen gehören würden, die zwischen ihnen beiden totgeschwiegen wurden.
Die einzige Alternative zu dieser Möglichkeit war, dass sich sein Vater ernsthafte Sorgen gemacht hatte – denn über sowas sprachen sie in der Regel ja auch nicht. Lediglich in irgendeiner Streitsituation würde sein Vater das Thema wieder zur Sprache bringen und somit einen neuen Punkt auf der langen Liste an Argumenten haben, die belegten, dass Alfred eine komplette Enttäuschung war.
„Alles in Ordnung, Alfred?“
Jaspers zaghafte Stimme riss ihn aus den trübsinnigen Gedanken und er blinzelte den jungen Mann kurz verwirrt an, ehe er hastig nickte.
„Alles bestens“, log er.
Es war wieder eine dieser höflichen Notlügen, denn auch wenn Alfred vermutete, dass Jasper zu den wenigen Menschen auf der Welt gehörte, die auf diese Frage eine ehrliche Antwort erwarteten, konnte er unmöglich alles aufzählen, was nicht so ganz in Ordnung war.
Denn nach Alfreds Erfahrung gehörte Jasper ebenfalls zu jenen seltenen Menschen, die sich anschließend noch wahnsinnig viele Gedanken zu einer solchen Antwort machten, und das wollte er ihm wirklich nicht zumuten.
Ihm war ja bewusst, dass er mit Sicherheit leichenblass im Gesicht war und mindestens so mies aussehen musste, wie er sich nach seinem persönlichen Alkoholexzess gestern immer noch fühlte, aber wie würde sein Vater sagen:
Die Show muss weitergehen.
Ganz egal, wie absurd das Affentheater auch sein mochte, jeder Schauspieler musste in seiner Rolle bleiben und genau das tat er. Zumindest solange bis von hinten die belustigte Stimme von Erwin an sein Ohr drang:
„Seit wann grüßt du eigentlich nicht mehr, wenn wir uns begegnen?“
Alfred sah prüfend nach hinten und hob verwundert eine Augenbraue, denn Erwin sah tatsächlich direkt zu ihm und er hätte schwören können, ihm vorhin sogar die Hand gegeben zu haben.
„Einen wunderschönen guten Tag, lieber Herr Gebauer“, grüßte er dennoch noch einmal und tat so, als würde er einen unsichtbaren Hut auf seinem Kopf anheben, „Doppelt hält besser, nicht wahr?“
Erwin schüttelte den Kopf und grinste über das ganze Gesicht.
„Herzlichen Dank, lieber Herr Wunderlich“, lachte er, „Ich sprach allerdings von gestern Abend!“
Alfred war, als hätte jemand einen Eimer voll mit eiskaltem Wasser über seinem Kopf ausgeleert.
Ein paar Momente lang starrte er Erwin einfach nur an.
„Bitte?“, fragte er verwirrt und fühlte sich ertappt.
Dabei hatte er ja eigentlich keine Geheimnisse, sondern nur seinen Vater zu einem Konzert begleitet. Alles andere war niemals geschehen und er würde sich doch mit Sicherheit an eine mögliche Begegnung mit Erwin Gebauer erinnern. Oder?
Selbst Jasper schien sich ein amüsiertes Glucksen verkneifen zu müssen und Alfred wandte den verständnislosen Blick an seinen Nebensitzer, der mittlerweile hochrot angelaufen war.
„Ich glaube, du hast uns zwischen all den Leuten in der Halle gar nicht gesehen“, meinte Jasper verlegen, „Und hinterher haben wir dich gar nicht mehr gefunden, dann sind wir nach Hause gegangen.“
Erst als er erleichtert ausatmete, bemerkte Alfred, dass er den Atem überhaupt für einige Momente angehalten hatte, als hätte er erwartet, dass ihm nun das volle Ausmaß der Begebenheiten während seines Filmrisses zu Ohren kommen würde.
„Dabei wollte ich dir unbedingt noch sagen, wie fesch du ausgesehen hast!“, lachte Erwin erheitert und zwinkerte ihm zu.
Kurze Zeit versank Alfred beinahe in diesem „Was wäre wenn“-Szenario, das sich nun in seinen Gedanken abspielte. Sicherlich wäre alles besser gelaufen, wäre er auf die beiden aufmerksam geworden und hätte sich diskret entschuldigt, um mit ihnen zu sprechen.
Bestimmt wäre in diesem Fall nicht alles dermaßen aus dem Ruder gelaufen. Aber jetzt im Nachhinein war es nicht mehr zu ändern und seine Gedanken waren vergeudete Energie.
„Erst war ich ja skeptisch, aber Jasper hat mich überredet, weil er nicht allein hingehen wollte“, plauderte Erwin einfach weiter, „Aber nun ja, du hättest ruhig was sagen können!“
Alfred seufzte erneut, schüttelte dann aber schmunzelnd den Kopf.
„Ich war mit meinem Vater dort“, sagte er wahrheitsgemäß, „Hätte ich gewusst, dass ihr auch kommen würdet, hätte ich sicherlich nach euch Ausschau gehalten.“
Jaspers Wangen waren immer noch gerötet, aber selbst er grinste nun, „Eigentlich wollte ich Erwin nur davon überzeugen, dass er Doktor Marquardt nicht hinterhertrauern muss.“
Alfred sah wieder zu Erwin und hob eine Augenbraue, „Und war die Überzeugungsarbeit ausreichend?“
„Nun ja“, begann dieser, als würde er zu einer langatmigen Erklärung ansetzen, „Ich sag es mal so: Wenn der Ottesen mit insgesamt, ähm, sagen wir geschätzt vierzig Leuten das Deutsche Requiem auf die Beine stellen kann, dann drücke ich doch gern mal ein Auge zu und gewähre ihm eine Probezeit von sagen wir etwa drei Tagen, in der er sich beweisen kann!“
Alfred schnaubte amüsiert, „Das klingt so, als ob du irgendeinen Einfluss darauf hättest.“
Erwin hob mahnend den Zeigefinger, lachte aber noch, „Nun ja, du vergisst da eines. Letzten Endes ist er mehr auf uns angewiesen als wir auf ihn!“
Dann fügte er noch hinzu:
„Und vielleicht hilft es ja, dass er sich jetzt ausschließlich auf unsere Sache konzentrieren kann und nicht noch ein anderes Süppchen im Hintergrund kocht!“
Da musste Alfred ihm ausnahmsweise zustimmen.
Mit dem Wissen darum, dass der Mann die letzten Tage wohl doppelt beschäftigt war, weil Berentz ihn hier anstelle Marquardts auch noch kurzfristig eingesetzt hatte, waren manche der offensichtlich gestressten Verhaltensweisen vielleicht ein bisschen besser nachvollziehbar.
„Einen wunderschönen guten Tag, meine Herren!“
Wie immer genau dann, wenn gerade über ihn gesprochen wurde, stellte genau der eben Erwähnte seinen Aktenkoffer auf den Boden neben dem Pult und griff diesmal zielsicher nach den benötigten Utensilien darin.
Alfred schielte auf die Uhr und stellte fest, dass er auf die Minute pünktlich war. Er wollte ja schon wie üblich damit beginnen, sich über solche Details aufzuregen, aber irgendwie wollte es gar nicht so recht klappen.
Und als ausgerechnet ihm persönlich dieser Mann dann auch noch ein kurzes herzliches Lächeln schenkte, während er den ansonsten strengen Blick durch die Reihen schweifen ließ, fuhr es Alfred wieder durch Mark und Bein.
Oh Himmel, Herrgott, was hatte er sich bloß bei dieser Sache gedacht?
Nicht viel vermutlich. Vielleicht auch überhaupt nichts, weil sein Kopf komplett benebelt gewesen war.
Dass Ottesen ihn trotzdem anlächelte und nicht mit kompletter Ignoranz bedachte, über die Alfred insgeheim sehr froh gewesen wäre, verwirrte ihn noch umso mehr.
Es wäre sicherlich von Vorteil, sich an den gesamten Abend erinnern zu können, anstatt nur Bruchstücke in Erinnerung behalten zu haben, aber ein einzelnes Wort stach besonders hervor und machte ihm noch immer zu schaffen.
Darius.
Auf das albern hervorgebrachte Angebot, Alfred bei seinem Vornamen zu nennen – was sowieso nun sehr viel unangebrachter schien als in der Nacht zuvor – hatte er ihm im Gegenzug wiederum dasselbe angeboten?
Ach, am Ende hatte er das nie gesagt und Alfred hatte es sich in seinen benommenen Alkoholträumen zusammen gesponnen. Und wenn nicht, dann war es trotzdem komplett irrelevant und was an diesem Abend geschehen war, würde auch nur eine kuriose Erinnerung bleiben.
Denn wirklich, er konnte unter keinerlei Umständen ihren neuen Dirigenten mit dem Vornamen ansprechen.
Manche Vorsätze und selbst aufgestellten Regeln waren immer ein wenig biegsam, aber diese Sache stand fest und war für Alfred in Stein gemeißelt. Er hatte sich bis zum abrupten Schluss geweigert, selbst nach Jahren und auch in privatem Umfeld das „Du“ von Doktor Marquardt anzunehmen.
Deswegen konnte kein dahergelaufener Darius so plötzlich Alfreds mühsam aufgestellte Richtlinien und Standards über den Haufen werfen.
Da konnte eben dieser Darius – nein, da konnte Ottesen noch so untypisch positive Laune versprühen, wie er beschwingt in seiner Partitur blätterte und nachdenklich den Kopf hin und her wippen ließ.
„Meine Herren, wenn ich um Aufmerksamkeit bitten darf!“
Als er sich scheinbar entschieden hatte, wandte er sich nun ganz offiziell in die Runde und es wurde tatsächlich wieder still im Raum.
Ottesen beugte sich abermals zu seinem Koffer und zog einen mysteriösen Papierstapel hervor, den er Alfred in die Hand drückte und dazu aufforderte, den Stapel zu verteilen, indem jeder ein Blatt an sich nahm und dann die restlichen weitergab.
Kurioserweise stand auf dem ersten Papier oben in der Ecke „A. Wunderlich“ und diskret schaute er schnell noch ein paar der nächsten durch; tatsächlich schien der Stapel in der Sitzreihenfolge mit Namen beschriftet und so reichte er das an „J. Sundström“ adressierte Blatt an Jasper weiter.
Nachdem er den Stapel los war, warf Alfred einen Blick auf die augenscheinlichen Neuerungen in der Raumverteilung der Registerproben und hob verwundert eine Braue beim Blick in die Notizen darunter, während Ottesen sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen das Pult lehnte und weiter sprach.
„Wir haben noch drei intensive Proben vor uns, dennoch ist mir bewusst, dass Sie alle auf einen freien Tag verzichtet haben. Dementsprechend schlage ich vor, dass wir heute nach einem einfachen Durchgang gleich in die Register übergehen.“
Entgegen aller Erwartungen brach keine Diskussion aus; nicht einmal Erwin echauffierte sich lautstark über eine weitere Änderung in den üblichen Abläufen, er murmelte lediglich etwas davon, ob der Herr Maestro keine Lust zu arbeiten hatte, aber Alfred war sich nicht ganz sicher, dass er das auch richtig verstanden hatte.
Stattdessen zuckte er zusammen, als Ottesen die Vermutung aufstellte, Ohren wie ein Luchs zu haben:
„Ich werde selbstverständlich jeder der Gruppen einen ausgiebigen Besuch abstatten. Des weiteren gibt es noch ein paar Dinge, die unbedingt geklärt werden müssen. Direktor Berentz ist damit einverstanden, auf externe Instrumentalsolisten zu verzichten.“
Jetzt ging tatsächlich ein Raunen durch die Menge, hier und da fanden einige Wortwechsel statt bis Ottesen sich wieder räusperte.
„Die Planung sieht wie folgt aus: Morgen findet die reguläre Tuttiprobe zwei Stunden später als gewohnt statt. Wer auf dem Informationsblatt eine nicht weiter erläuterte Uhrzeit findet, erscheint allerdings schon zu dieser genau hier. Dafür beginnen wir übermorgen allesamt zwei Stunden später, wobei diese Zeit nicht hinten angehängt wird, sondern für persönliches Üben genutzt werden sollte – für alle.“
Alfred sah hektisch nochmal auf das Blatt und stellte mit Erleichterung fest, dass er nicht zu den Leuten gehörte, die früher erscheinen sollten. Irgendwie hatte er ja die leise Ahnung, dass eben diese Auserwählten nicht etwa ein dubioses Gespräch unter vier Augen mit Ottesen, sondern womöglich eine sehr kurzfristig zugeteilte Solostelle erwartete.
„Am letzten verbleibenden Tag findet wie üblich die Generalprobe statt, die Uhrzeit deren Ende ist noch offen und selbstverständlich situationsabhängig.“
Ottesen ließ die Arme sinken und löste sich vom Pult, um fast schon herausfordernd in die Runde zu blicken:
„Gibt es noch Fragen? Irgendwelche Einwände? Die genauen Daten stehen selbstverständlich auch noch einmal auf dem ausgehändigten Informationsblatt.“
Stille.
Vermutlich getrauten sich nach dieser Ansage selbst diejenigen nicht mehr zu Wort, die tatsächlich Fragen oder Einwände hatten.
Alfred blickte kurz über seine Schulter und sah Erwin mit skeptisch verzogener Miene das Papier mustern, die er nicht so richtig deuten konnte.
Neben sich hörte er ein scharfes Einatmen, keine Sekunde später rüttelte Jasper ihn aufgeregt am Arm und als Alfred sich schnell umwandte, starrte ihn sein Nebensitzer aus weit aufgerissenen Augen wie in panischer Angst entgegen.
„Alfred!“, flüsterte er vollkommen aufgelöst, „Herr Ottesen will mich vorher sprechen. Was soll ich jetzt bloß tun? Bestimmt ist irgendwas nicht in Ordnung! Was denkst du – was hab ich falsch gemacht, Alfred? Ich hab mich doch immer angestrengt, ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich“--
Energisch schüttelte Alfred den Kopf und klopfte Jasper etwas unbeholfen als beruhigende Geste auf die Schulter.
„Ich bin mir sicher, du hast absolut nichts falsch gemacht“, flüsterte er zurück und schenkte ihm ein schiefes, aber aufmuntern gemeintes Lächeln, „Im Gegenteil. Ich könnte wetten, dass er sich sehr wohl an dich erinnert!“
Jaspers Augen weiteten sich noch mehr und sein Mund stand wie schockiert offen. Scheinbar schien es diese Andeutung kein bisschen besser zu machen.
„Aber- aber!“
Alfred lächelte erneut, diesmal beinahe mit liebevoller Güte, während er Jaspers Oberarm tätschelte, der scheinbar die Welt nicht mehr verstand und noch immer ehrfürchtig auf das Blatt starrte.
„Gibt es ein Problem?“, fragte Ottesen.
Jasper zuckte fast ängstlich zusammen und schüttelte heftig den Kopf.
Diesmal war er es, dem Ottesen ein fast schon strahlendes Lächeln schenkte:
„Sehr gut – Wollen wir dann beginnen?“
Alfred wunderte sich mittlerweile schon gar nicht mehr.