Die überwältigenden Glücksgefühle über diesen bahnbrechenden Erfolg hielten nicht lange an. Zumindest nicht ohne Vorbehalte, denn nun, da Darius das Werk der letzten Jahre fertig gestellt in seinen Händen hielt, traf ihn der Gedanke mit voller Wucht, dass dieser einfache, mit Noten beschriebene Papierstapel so wichtig und unersetzlich war, dass er ihn nicht einfach hier herumliegen lassen konnte.
Fast schon überkam ihn Panik bei dem bloßen Gedanken, dass er nie darüber hinwegkommen würde, wenn er auch nur eine Seite davon verlieren würde.
Dann wäre es nicht mehr komplett, dann wäre alles andere nichts wert, es würde ihn dermaßen aus der Bahn werfen, dass er womöglich nie wieder auch nur einen Ton komponieren würde.
Er stoppte sich selbst, sich die Möglichkeiten auszumalen, die dazu führen konnten, dass er seine Sinfonie verlieren würde.
Im schlimmsten Fall würde das ganze Haus abbrennen und eigentlich übertrieb er vollkommen, das war ihm bewusst. Aber doch war sein Bewusstsein dermaßen auf dieses Werk fixiert, dass er es nicht aushielt zu wissen, dass dies die einzige Fassung seiner Mühen war.
Noch während er den hochmodernen Drucker anschaltete und die ersten Seiten zum Kopieren bereit machte, überkam ihn mit einem Mal noch mehr Panik.
Es war vielleicht ebenso an den Haaren herbeigezogen, so etwas anzunehmen, doch der Gedanke, dass irgendjemand Interesse daran haben könnte, die Sinfonie als seine eigene zu vermarkten und sein gedankliches Eigentum stehlen würde, war beinahe noch grauenvoller als der zufällige Verlust.
Selbst wenn die Sinfonie nicht einmal etwas taugte oder gut genug war, dass damit irgendjemand auch nur im Entferntesten etwas anfangen konnte – Darius stand nach den letzten Tagen und Wochen, vor allem aber auch nach den letzten Jahren und nicht zuletzt nach einer weiteren durchgemachten Nacht emotional so am Abgrund, dass er sich bei paranoiden Gedanken erwischte.
Er war in einem Zustand angekommen, in dem er das Gefühl hatte, als ginge es nur noch ums pure Überleben. Und neben der allgegenwärtigen Krankheit, die er jahrelang als persönliche Entscheidung oder bestenfalls als schlechte Angewohnheit abgetan hatte, drohte vor allem eine ganz bestimmte Person.
Natürlich hätte Kristian Interesse daran, die Partitur in die Hände zu bekommen. Er hätte ein weiteres Druckmittel, er könnte gar behaupten, dass ihm dieser Stapel Blätter mehr bedeutete als alle Menschen auf dieser Welt und ihn damit noch ein Stückchen tiefer in den Wahnsinn treiben.
Und selbst wenn Darius auf keine seiner Forderungen, auf keines seiner Spielchen einsteigen würde, könnte er am Ende über den finalen Sieg triumphieren.
Je nach Qualität seiner Arbeit, die Darius natürlich durch den emotionalen Wert nicht mehr abschätzen konnte, würde er darüber entscheiden, ob er die Sinfonie einfach nur vernichtete oder ob er selbst fröhlich zu Chevalier marschieren würde und es ihm als sein eigenes Werk vorstellen würde.
Denn leider kannte Kristian ihn zu gut, um sich dieser Macht nicht bewusst zu sein. Diese Partitur zu verlieren wäre eine Sache, über die er nie hinwegkommen würde, so viel war sicher.
Die Sinfonie, die er selbst geschrieben hatte, aber irgendwann unter dem Namen eines anderen, nein, unter genau diesem Namen irgendwo zu hören und am Ende vielleicht sogar niemals die Chance zu bekommen, sie selbst zu dirigieren, die genaue Ausführung beim Einstudieren und Vortragen aus der Hand zu geben, keinen Einfluss mehr auf das Endresultat zu haben, sodass alles womöglich verzerrt und falsch interpretiert werden könnte – es würde ihn zerstören.
Darius‘ Herz raste, während er Papier nachlegte, um die Kopien vollständig anfertigen zu können. Währen der Drucker arbeitete, überprüfte er die Reihenfolge der bereits fertigen Seite, verglich alles akribisch mit dem Original und lief unruhig im Zimmer auf und ab, sah sich panisch um auf der Suche nach einem guten, sicheren Versteck, das niemand außer ihm finden würde.
Letzten Endes entschied er sich dafür, das Original stets bei sich zu tragen.
Er würde es einfach in seine Tasche stecken und darin aufbewahren, er würde seine Tasche niemals aus den Augen lassen und überall hin mitnehmen.
Als die Kopien schließlich fertig gedruckt und überprüft wieder komplett und sortiert auf einem Stapel lagen, zerbrach sich Darius den Kopf. Was sollte er nun damit anstellen? Was hatte er sich dabei gedacht?
Mit der Vervielfältigung sank die Chance, dass ihm das Werk abhanden kommen würde zwar, aber dafür stieg das Risiko, dass es in falsche Hände geraten würde, was am Ende vielleicht noch um einiges fataler wäre. Er brauchte Sicherheit. Er musste eine Lösung für dieses Problem finden.
Vielleicht sollte er die Kopie der Partitur tatsächlich aus der Hand geben.
Jemand anderen darum bitten, sie für ihn aufzubewahren. Jemand, dem er vertraute, der dieses Vertrauen zu schätzen wusste und niemals enttäuschen würde.
Alfred. Alfred Wunderlich.
Er würde Alfred diese Kopie anvertrauen und – Darius stockte der Atem – ihn damit noch mehr zur Zielscheibe für Kristians Verbrechen machen? Nein.
Nein, das konnte er nicht tun.
Vielleicht übertrieb er gerade maßlos, vielleicht war der gesamte Gedankengang nicht nur gesponnen, sondern auch über alle Maßen narzisstisch und paranoid, aber er wurde ihn nicht mehr los. Im nächsten Anflug von Panik nahm Darius einen Briefumschlag mit derartig zittrigen Händen aus dem Stapel, dass drei andere noch auf den Boden fielen.
Er fluchte leise, während er versuchte, den Stapel in den Umschlag zu stecken. Es funktionierte nicht, er war viel zu mächtig als dass er darin Platz haben würde.
Vielleicht wurde er einfach nur verrückt.
Das Haus würde nicht zufällig mal eben abbrennen und Kristian würde auch nicht bei Alfred einbrechen und ihn umbringen, nur um Darius‘ wahrscheinlich wenn überhaupt nur durchschnittlich gelungene Sinfonie zu stehlen.
Was dachte er sich überhaupt? Was bildete er sich ein?
Darius brauchte Schlaf. Dringend.
Es würde ihn nicht loslassen, wenn er weitergrübelte.
Es würde nicht helfen, wenn er sich in die Sache hineinsteigerte.
Letzten Endes waren es doch nur einige Blatt Papier.
Als er sich nach einem resignierten, kopfschüttelnden Seufzen schließlich zum Fußboden bückte, um die restlichen Umschläge aufzusammeln, durchfuhr es ihn.
Das war die rettende Eingebung.
Warum hatte er daran nicht schon früher gedacht?
Er würde die einzelnen Sätze voneinander trennen, allein waren sie zwar immer noch vollständig, aber mit nur einem davon in fremden Händen unbrauchbar.
Jeden der vier Sätze würde er fein säuberlich in einen Umschlag packen. Jeden davon würde er einer Person anvertrauen, damit diese darauf acht geben und den jeweiligen Teil des Ganzen für ihn aufbewahren würden.
Vier Personen, denen er unter Umständen sein Leben anvertrauen würde – und das war nun, während er so darüber nachdachte, doch schwieriger als gedacht.
Ohne zu zögern würde ihm selbstverständlich zuerst Theresa einfallen.
Der zweite Gedanke galt sofort Alfred, der sich sowieso ständig zurück in sein Bewusstsein schlich, egal wie sehr er versuchte, dagegen anzukämpfen.
Aber danach haperte es schon ein wenig.
Während er überlegte, welchen anderen Menschen auf dieser Welt er sein Herzblut anvertrauen würde, in wessen Hände er das wichtigste Dokument überhaupt legen konnte, der wissen würde, wie viel es ihm bedeutete und es mit dem nötigen Respekt behandelte, drängte sich noch ein anderer, ganz und gar giftig wirkender Gedanke in seinen Kopf.
Gab es überhaupt Menschen, die in einem umgekehrten Fall an ihn denken würden? Würde irgendjemand ihn für eine solche Aufgabe wählen?
Natürlich würde Theresa sofort seinen Namen nennen.
Ohne darüber nachzudenken, ob er diesem Vertrauen überhaupt gewachsen war, würde sie es als einen Beweis ihrer Liebe sehen. Aber wenn es wirklich darauf ankam, traute sie ihm ja nicht einmal zu, allein zu überleben.
Und auch wenn sie dabei durchaus Argumente vorzuweisen hatte und er daran wohl selbst schuld war, wurmte ihn dieser Gedanke gewaltig.
Wäre er denn überhaupt in der Lage, ein solches Versprechen aufrecht zu erhalten? Wer würde ihn dafür auswählen, wenn er schon so oft bewiesen hatte, dass man sich einfach nicht auf ihn verlassen konnte?
Natürlich würden viele das anders sehen. Aber es waren hauptsächlich Personen, die ihn nicht wirklich kannten. Denn wer ihn länger als ein paar Tage und tiefer als vom bloßen Sehen und durch oberflächliche Unterhaltungen kannte, würde um diese entstellenden Makel seiner Persönlichkeit wissen.
Darius sank mit einem Seufzen auf den Klavierhocker und vergrub das Gesicht in den Händen. Als er gerade verzweifeln wollte, drängte sich ungefragt aus heiterem Himmel ein Name in sein Bewusstsein.
Jasper.
Er konnte sich gerade zwar keinen Reim daraus machen, aber irgendwie hatte Darius das Gefühl, dass Jasper Sundström in einer solchen Situation neben dem Rest des Trios auch an ihn denken würde.
Vielleicht lag er damit falsch und Jasper konnte sehr viel engere Freunde mittlerweile nicht mehr an zwei Händen abzählen, vielleicht war es respektlos, ihm zu unterstellen, dass Erwin und Alfred die einzigen Personen in seinem Leben waren und er ansonsten so einsam war, dass er ausgerechnet seinen Dirigenten als weiteren Träger einer Verantwortung auswählen würde.
Aber wenn er weiterhin darüber grübelte, musste Darius sich zugestehen, dass zumindest für ihn selbst Jasper nach einer Person klang, die der Partitur seiner ersten Sinfonie würdig war.
Nach all den Jahren hatte er ihn nicht vergessen.
Sofort hatte er ihm eine Chance im Orchester gegeben und sogar Erwin Gebauer nach anfänglichen Zweifeln vom Gegenteil überzeugt. Er hatte ihm mehrmals das Gefühl gegeben, geschätzt und gebraucht zu werden und sogar im Krankenhaus hatte er ihn besucht.
Noch dazu war es im Grunde genommen einzig und allein Darius‘ Schuld gewesen, dass der doch recht enge Kontakt damals abgebrochen war. Jasper hatte ihm noch lange geschrieben, nachdem er Wien verlassen hatte.
Ein paar E-Mails hatten sie noch ausgetauscht, zu Weihnachten hatte Jasper ihm mit der Post ein wirklich nett gestaltetes Päckchen geschickt, in das er gemeinsam mit verschiedenen lustigen Notizen allerlei Krimskrams gepackt hatte – Dinge, die Darius seiner Meinung nach dringend zum Überleben brauchte, jeweils mit einer Argumentation, warum ihm dies nun fehlen würde, wenn er schon nicht mehr in unmittelbarer Nähe zu ihm oder Theresa war.
Zum achtzehnten Geburtstag hatte er Jasper noch am Telefon gratuliert, der Anruf hatte ein halbes Vermögen gekostet – über allem danach war ein tiefes Schweigen gelegen und irgendwann hatte Jasper es aufgegeben, erfolglos anzurufen oder Nachrichten zu schreiben, auf die er nie Antwort erhielt.
Während sich Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in seinem Kopf abspielten, hatte Darius längst den zweiten Satz der Sinfonie in einen Umschlag gepackt und mit der Aufschrift „Jasper Sundström“ zwar nur unzureichend adressiert, doch seine Entscheidung stand fest.
Danach steckte er den ersten Satz in den Umschlag für Theresa und bestückte den Umschlag für Alfred mit dem dritten Satz der Sinfonie.
Bei der Findung des Adressaten für den vierten und letzten Teil verfiel er wieder ins Grübeln.
Am Rande bemerkte Darius noch, dass es vielleicht ein Armutszeugnis war, keine nennenswerten Freunde in Oslo zurückgelassen zu haben und selbst in Wien bislang neben alten Bekannten und seiner Familie lediglich eine neue Liebschaft kennen gelernt hatte, mit der alles wieder kompliziert war.
Vielleicht war es ebenso ein Armutszeugnis, dass er nicht einmal im Traum daran dachte, den letzten noch fehlenden Umschlag Gabriel anzuvertrauen.
Er würde damit nichts anfangen können, weder mit dem Inhalt noch mit der Ehre, die ihm dadurch zuteil werden würde. Es war mehr als kompliziert, nun da auf beiden Seiten nicht mehr sture Verbissenheit herrschte, sondern eine wenngleich auch unzureichende Annäherung wieder stattgefunden hatte.
Vielleicht nicht für immer, vielleicht nicht ohne Hilfe, aber dennoch-
Nina, schoss es ihm durch den Kopf.
Wer auch sonst? Wieso war ihm das nicht sofort eingefallen?
Verdammt nochmal – wer, wenn nicht sie, hätte ein Recht auf den vierten Umschlag? Es lag wohl so dermaßen offensichtlich auf der Hand, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen hatte.
Darius hatte Tränen in den Augen, als er den Umschlag mit dem letzten Satz mit Ninas Namen versah und einige Male erst noch tief durchatmen musste.
Dann schrieb er sich eine mentale Notiz, die Adressen von Jasper und Alfred herauszufinden, die anderen beiden Kuverts würde er persönlich überbringen. Er versah jeden Umschlag mit sich selbst als Absender und legte den Teilen der Partitur jeweils noch eine kleine Notiz bei.
Als er fertig war und alles sicher in seiner Tasche verstaut hatte, blieb er noch einige Momente einfach nur sitzen. Alles um ihn herum schien sich zu drehen.
Es ergab mit einem Mal so erstaunlich viel Sinn.
Mehr als er sich selbst zugetraut hatte.
Mehr als er es je zu hoffen gewagt hatte.
Irgendwann kam Theresa verschlafen ins Zimmer geschlurft, doch noch bevor sie eine Frage stellen konnte, mussten seine Augen allein Bände sprechen.
Auf ihr besorgtes Gesicht legte sich ein trauriges und doch so zärtliches Lächeln, als sie den Umschlag öffnete, einen kurzen Blick hinein warf, beinahe andächtig nickte, ihn wieder sicher verschloss.
Dann zog sie ihn in ihre Arme, küsste seine Wange und flüsterte in sein Ohr.
„Ich bin so wahnsinnig stolz auf dich.“
Erinnerung in e-Moll, schoss es ihm noch durch den Kopf.
Nachdem sie gemeinsam Kaffee getrunken hatten, legte er sich ohne weitere Aufforderung doch vollkommen erschöpft auf dem Sofa ab und brauchte einige Zeit, in der Theresa einfach nur neben ihm saß und sein Haar streichelte, bis er dann wirklich die Augen schließen konnte.
Auch dieser Kampf war nun vorbei. Aber aus diesem war er siegreich hervorgegangen. Alle manchmal so verzweifelten Mühen hatten sich gelohnt.
Seine erste Sinfonie war fertig. Er hatte es geschafft.
Mit dem Gedanken, dass alles besser werden würde, schlief Darius ein.
Wenn er diesen Schritt gegangen war, so erfolgreich das Werk der dunklen Stunden seiner Vergangenheit endlich vollendet hatte, dann würde er es wieder schaffen. Dann stand ihm nichts mehr im Weg.
Wenn er nur eine Bruchteil desselben Ehrgeiz, derselbe Sturheit auch für andere Dinge anwenden konnte, so würde er auch alles bezwingen können, was sich ihm in den Weg stellte – vor allem sich selbst.