Wie bereits erwartet kam Erwin Gebauer am nächsten Tag wieder zur Probe. Wider Erwarten stand anstelle Ottesen jedoch Ferdinand Berentz am Pult und bat ungeduldig um Ruhe. Jasper sah Alfred mit großen Augen an, doch dieser hatte auch keine weiteren Informationen, nur eine unangenehme Vermutung.
„Meine Herren! Meine Herren!“, Berentz klatschte in die Hände, als das allgemeine Gemurmel nicht aufhören wollte.
„Wie Sie alle wissen, ist die nächste Aufführung in fünf Tagen. Das sind fünf Tage, an denen wir uns keine weiteren Verzögerungen leisten können!“
Es wurde still im Raum. Alfred musste husten, aber Berentz beachtete ihn gar nicht weiter. Lediglich Jasper sah ihn besorgt an, aber Alfred rang sich ein müdes Lächeln ab und räusperte sich noch kurz, ehe er es schaffte, sich endlich wieder zusammenzureißen.
Berentz war nüchtern und schien noch mieser gelaunt als zuvor.
„Doktor Marquardt wird nicht zurückkommen“, sagte Berentz.
Aus den hinteren Reihen rief Erwin Gebauer wieder dazwischen.
„Ottesen hoffentlich auch nicht! Ich wäre dankbar für eine endgültige Lösung zu diesem Problem, immerhin haben wir nur noch fünf Tage!“
„Genug!“, rief Berentz mit hochrotem Kopf, „Herr Ottesen wird gleich hier sein. Das ist mein allerletztes Wort – und Sie, Gebauer, Sie können gern abermals gehen, wenn Ihnen etwas nicht in den Kram passt!“
Es wurde wieder still im Saal, Berentz wischte sich mit dem Taschentuch energisch den Schweiß von den Schläfen, seine Stimme war aber noch immer bedrohlich laut:
„Das gilt für alle – wer etwas zu sagen hat, soll in mein Büro kommen. Ich dulde keine weiteren Vorkommnisse!“
Dann rauschte der Direktor ab und in den Räumlichkeiten brach wieder Gemurmel aus. Alfred schloss für einen Moment mit einem Seufzen die Augen, dann stand er auf und winkte Erwin zu sich, dass er zu ihnen kam. Er zog einen leeren Stuhl heran und setzte sich verkehrt herum drauf, als Alfred ihn bat, kurz bei ihnen zu bleiben.
Natürlich hatte er die Absicht gehabt, mit Erwin über Ottesen zu sprechen, aber nun da er sich in der Lage befand, wollten die Worte nicht so recht aus seinem Mund kommen und er zögerte zu lange auf der Suche nach einer treffenden Formulierung.
„Das war kurios“, sagte stattdessen Jasper, als sie nun alle da saßen und warteten.
„Nun ja“, Erwin zuckte mit den Schultern, zog ungefragt sein Vesper aus der Tasche und biss von seinem Butterbrot ab.
„Es war eher peinlich! Wer hätte gedacht, dass der hochwohlgeborene Ottesen diese – nun ja, fast schon mütterliche Unterstützung von Berentz benötigt, um sich zwischen uns professionellen, kultivierten Menschen durchzusetzen?“
Alfred sagte nichts, sondern trank einen Schluck Wasser, um endlich das unangenehme Gefühl in seinem Hals loszuwerden.
„Du hast es ihm aber auch nicht gerade einfach gemacht“, meinte Jasper leise.
„Nun ja“, Erwin biss nochmal in sein Brot, „Das hat er es uns ja auch nicht – und noch viel weniger Berentz!“
Alfred räusperte sich erneut und meldete sich dann doch zu Wort:
„Vielleicht sollten wir nicht außer Acht lassen, dass uns Marquardt in diese Situation gebracht hat; Niemand sonst.“
Jasper und Erwin nickten beide. Erwin kaute geräuschvoll und sprach weiter, noch bevor er geschluckt hatte, „Ich bin maßlos enttäuscht. Er hätte wenigstens etwas sagen können. Das wäre er uns nach all den Jahren schuldig gewesen!“
Alfred seufzte leise und schraubte den Verschluss der Wasserflasche wieder zu.
„Du hast Berentz gehört“, sagte Alfred, „Marquardt kommt nicht zurück. Was bringt es, wenn wir nun vor lauter Aufregung den Kopf verlieren und dann in fünf Tagen auch noch unser Gesicht?“
„Nun ja – also, nun ja!“, Erwin schluckte und verzog das Gesicht, als würde ihm das Brot nicht mehr schmecken, „Ich dachte du warst derjenige, der den Doktor immer als eine Art zweiten Vater angesehen hat. Und jetzt ist es dir egal, dass ihn da so ein dahergelaufener Hampelmann vertreten soll? Das kaufe ich dir nicht ab, werter Herr Wunderlich!“
Jasper traute sich wohl nicht mehr zu Wort, aber Alfred kam gerade erst richtig in Fahrt:
„Ach und ich dachte ‚der Hampelmann da vorne ist grundsätzlich und jederzeit ersetzbar, solange er nicht komplett taub ist‘ – deine Worte, lieber Herr Gebauer!“
Jasper räusperte sich untypisch laut, sodass sowohl Alfred als auch Erwin sofort zu ihm schauten. Er holte tief Luft und erklärte nüchtern:
„Darius Yngve Ottesen wurde 1990 in Kopenhagen als Sohn einer norwegischen Gospelsängerin und eines dänischen Rockgitarristen geboren. Er wuchs in Oslo auf, wo er an der NMH studierte und schon zu Schulzeiten große Erfolge als Pianist feierte. Nach seiner“--
Erwin unterbrach den Vortrag mit schallendem Lachen:
„Wo hast du das denn her? Und vor allem – warum hast du es als so wichtig erachtet, dass du es gleich auswendig gelernt hast?“
Alfred klopfte Jasper behutsam auf die Schulter und lächelte ihn an.
„Du vergisst, dass wir hier ein wahrhaftiges Genie unter uns haben“, sagte er zu Erwin und zwinkerte Jasper zu, der merklich errötete, „Er hat es wahrscheinlich mal irgendwo beiläufig aufgeschnappt und seitdem nur noch nicht genug freien Platz in seinem klugen Kopf benötigt, um die Information wieder als irrelevant auszusortieren!“
„Bitte was?“, fragte Erwin verwirrt.
Jasper und Alfred lachten beide.
Erwin rollte mit den Augen und stopfte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund.
Dann meldete sich Jasper ein bisschen schüchtern doch wieder zu Wort: „Naja, eigentlich weiß ich das nur, weil ich einige Zeit mit ihm zur Schule gegangen bin – aber er erinnert sich bestimmt nicht mehr an mich.“
„Unsinn“, sagte Alfred schnell, „Mit Sicherheit erinnert er sich! Wie könnte man dich denn jemals vergessen?“
Jasper wurde wieder rot und zuckte leicht mit den Schultern.
Erwin wollte allerdings etwas ganz anderes hervorheben: „Nun ja. Der springende Punkt liegt ja auf der Hand – wenn der Ottesen noch keine dreißig ist, sollte er mal bitte ein bisschen Respekt vor einem eingefleischten Orchester-Veteranen wie mir zeigen!“
„Ich würde mal vermuten wie irgendein mir unbekannter, weiser Mann einmal gesagt hat: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch zurück“, gab Alfred zu bedenken.
Erwin lachte schallend, „Ich allerdings vermute eher, dass du eben doch Angst vor Berentz hast, Alfred! Aber ich will ja mal kein Unmensch sein – wir haben viel zu lang geprobt, um dieses Konzert nur wegen irgendeinem Hampelmann zu vergeigen.“
Alfred hob schmunzelnd eine Augenbraue.
Jasper gluckste erfreut, „Du willst die Sache also doch nicht gleich abblasen?“
„So gefällt mir das“, Erwin schlug sich beim Lachen auf den Oberschenkel und zerzauste Jaspers Frisur, als er ihm über den Kopf wuschelte, „Dich haben wir doch super hingekriegt! Da können wir unser Glück ja auch“--
Alle drei fuhren zusammen, als aus heiterem Himmel ein energischer Paukenschlag ertönte.
Kurz herrschte komplette Stille, dann reichte Ottesen mit einem „Ich danke sehr!“ den Schlägel seinem rechtmäßigen Besitzer zurück und Alfred stellte mit Schrecken fest, dass alle anderen gar nicht mal so schockiert nach hinten sahen wie sie drei viel eher im Mittelpunkt der allgemeinen Belustigung standen.
Als Erwin zurück auf seinen eigentlichen Platz gehastet war, stand Ottesen längst am Pult und blickte aufmerksam durch die wieder ernsten Reihen.
„Guten Tag, meine sehr verehrten Herren! Nun da ich die Aufmerksamkeit von allen hier habe – ich würde gern Seite siebzehn ab Takt drei nochmal hören.“
Betretenes Schweigen und hastiges Blättern in Partituren konnten nicht ganz von Jaspers Flüstern in Alfreds Richtung ablenken.
„Mensch, Alfred – meinst du er hat mitgehört, was wir alles gesagt haben?“
Dasselbe fragte Alfred sich auch, aber der strenge Blick Ottesens ließ ihm keine Gelegenheit, um zu antworten. Selbst wenn, es wäre vermutlich in jedem Fall besser, die Sache dabei zu belassen.
In den nachfolgenden Stunden lernte Alfred gleich mehrere Dinge über Ottesen, die in Jaspers Informationsfluss nicht inbegriffen gewesen waren und vermutlich dennoch einen höheren Grad an Relevanz hatten.
Wie er selbst gesagt hatte: Er war mitnichten Doktor Marquardt. Und wo Marquardt zeternd und tobend an die Vernunft aller Musiker appelliert hätte, war Ottesen wohl nicht im Geringsten der Mensch, der je die Stimme erheben würde.
Ob er sich nicht traute oder einfach nicht der Typ dazu war, sei da mal dahingestellt, aber man musste ihm lassen, dass er sein Handwerk beherrschte. Ottesen war nicht nur buchstäblich so exakt wie ein Schweizer Uhrwerk, er hatte wohl auch Ohren wie ein Luchs, wenn es darum ging, minimal wahrzunehmende Fehler zu entdecken – und dabei fast schon leidend sein Gesicht zu verziehen, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, wenn das Gespielte nur minimal von der Partitur abwich.
Und zum Leidwesen aller anderen Anwesenden schien er auch bewusst ein unverbesserlicher Perfektionist zu sein. Selbst Alfred erwischte sich dabei, wie er begann, die Wortkombination „da capo“ zu verabscheuen.
Mehrmals erwischte Alfred wiederum ihn still beobachtend dabei, wie er erst nach beendetem Stück mehrere Seiten blätterte und auch wenn er nicht wusste, ob Ottesen hochmotiviert alles in bester Jasper-Manier auswendig gelernt hatte oder tatsächlich schon Erfahrung mit eben diesem Werk hatte, zog Alfred im Stillen den Hut. Das machte die ganze Sache zumindest ein bisschen einfacher.
Richtig schwierig wurde es erst, als Ottesen um einiges später als Marquardt sonst zur Pause aufrief und nicht wie alle anderen beinahe fluchtartig den Raum verließ, sondern scheinbar auf Alfred zu warten schien, der betont langsam unnötige Notizen mit dem Bleistift vornahm, um Zeit zu schinden.
Er wollte wirklich nicht in die Situation kommen, die angebotene Zigarette abzulehnen – doch noch viel weniger wollte er wirklich wieder mit dem Rauchen beginnen. Die beste Lösung schien es also zu sein, einfach gar nicht gleichzeitig mit Ottesen draußen zu stehen, dann hatte sich das ohnehin erledigt.
Dumm nur, dass Ottesen tatsächlich auf ihn zu warten schien, auch wenn er das nicht laut aussprach oder Alfred anderweitig wissen ließ.
Alfred maßte sich dennoch an, genügend Menschenkenntnis und intuitive Empathie zu besitzen, dass er das sinnlose Herumkramen in dem schweren Koffer als Zeichen für genau dieses Vorhaben deuten konnte.
Es ging eine Weile so. Die meisten Musiker verließen den Raum, um Luft zu schnappen oder sich die Beine zu vertreten, während Alfred nurmehr so tat als würde er sich Notizen machen und Ottesen vermutlich nach etwas nicht Existentem in seiner Tasche suchte. Dann dämmerte Alfred, dass er diese Situation ohne Konfrontation wohl nicht beenden konnte.
Er hatte also wieder zwei Möglichkeiten – seinen langjährigen Triumph über sich selbst zum Fenster hinauswerfen oder das frischgebackene Vertrauen des Dirigenten so schnell wieder verlieren wie er es gewonnen hatte.
Dass es eine dritte gab, hatte er nicht in Erwägung gezogen; aber Ottesen schien entweder aufzugeben oder tatsächlich erst jetzt fündig zu werden, denn er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und Alfred spürte die Hitze in seinem Gesicht aufsteigen.
Hatte er wirklich gedacht, dass Ottesen auf ihn wartete?
Weshalb genau hatte er angenommen, dass Ottesen etwas daran lag, mit Alfred eine Zigarette zu rauchen? Überschätzung des eigenen Charmes oder doch nur Narzissmus? Er schämte sich beinahe, den Gedanken überhaupt ernst genommen zu haben, dass Ottesen aus heiterem Himmel anhänglich geworden war und ohne ihn nicht nach draußen gehen würde.
Der würdigte ihn nämlich noch immer keines Blickes und es wirkte auf einmal mehr geschäftig aus ausweichend, als er auf dem Telefon herumtippte und es anschließend ans Ohr hielt. Ganz kurz sah er zu Alfred, aber dann meldete sich durch die Stille schon ganz leise eine blechern klingende Stimme und Ottesen verließ den Raum mit einigen gedämpften Worten in irgendeiner nordischen Sprache, die Alfred nicht verstand.
Es ließ Alfred nun keine Ruhe mehr, dass er solch alberne Gedanken gehabt hatte.
Die Tasche war groß und zum Bersten voll. Wie sollte man also schneller ein solch schmales kleines Gerät finden? Wie gut, dass Ottesen zumindest des Gedankenlesens noch nicht mächtig war.
Nach wenigen Minuten verließ auch er den Raum.
Draußen an der frischen Luft sah er sich mehrmals um und erst als er sich komplett sicher war, dass niemand ihn sehen konnte, steckte er sich resigniert eine Zigarette an.
Sie würde im Buch des Versagens nicht Ottesens Namen tragen, sondern den Vermerk „meine eigene Einfältigkeit“.