Er hatte gar keine Zeit mehr, das Werk nochmals zu begutachten, sondern stürmte geradezu in Richtung Tür, wartete nach einem kurzen Moment der Besinnung dann mit aufgeregt rasendem Herzen und schweißnassen Händen aber zumindest noch solange, dass es nicht wirkte, als wäre er direkt dahintergestanden.
Dann betätigte er das kleine Knöpfchen für den Öffnungsmechanismus der Haustür und öffnete die Wohnungstür, um ins Treppenhaus zu treten und auf das Geräusch von Schritten zu warten.
„Geht es mit den Stufen?“, rief er vorsichtig, als ihm einfiel, dass Darius eine Verletzung am Bein hatte.
Kurze Zeit später stand dieser schon vor ihm, wirkte leicht außer Atem, strahlte aber über das ganze Gesicht. Wie versprochen hatte er eine Papiertüte von der Bäckerei dabei, in der anderen Hand hielt er den altbekannten Aktenkoffer.
„Guten Morgen, Alfred“, begrüßte Darius ihn lächelnd.
Alfred interessierte sich absolut nicht mehr dafür, dass seine eigene Haarfrisur wohl katastrophal aussehen musste. Er hatte nur noch Augen für Darius.
Der wirkte adrett wie eh und je. Dass er sich gerade von einer Verletzung erholte, konnte man lediglich an den dunklen Schatten unter seinen Augen vermuten. Außerdem wirkte er blasser als sonst, aber Alfred war der festen Überzeugung, dass ein ausgiebiges Frühstück dagegen nur helfen konnte.
„Schön, dass du den Weg gefunden hast“, sagte Alfred lächelnd.
Darius streifte sich schon ohne Aufforderung die Schuhe von den Füßen und Alfred tat so, als wäre er ein sehr ordentlicher Mensch und stellte sie ganz säuberlich neben seine eigenen ins Regal.
Diesen Anblick betrachtete er länger als notwendig und erwischte sich dabei, wie sein Herz einen kleinen Hüpfer machte. Kurz überlegte er noch, ob er ihm zur Begrüßung die Hand reichen sollte, aber davon hatte er keine mehr frei, was zugegeben auch andere Möglichkeiten etwas erschwerte.
„Komm erst mal rein in die gute Stube!“, meinte er also und hielt ihm die Tür zur Wohnung auf.
Als er sie hinter ihnen beiden schloss und Darius zum Esstisch führte, bemerkte er noch, dass dieser wohl unauffällig versuchte, sich neugierig umzusehen.
Kurz brach Alfred in nervösen Schweiß aus, weil er gar keine Zeit mehr zum Aufräumen und Saubermachen gehabt hatte. Dann allerdings entschied er, dass er daran eh nichts mehr ändern konnte. Er sollte Darius also besser ablenken, bevor dieser überhaupt bemerken konnte, dass er seit sicherlich mehr als einer Woche nicht mehr abgestaubt hatte.
Am Sonntag hatte er zwar noch wenigstens die wichtigsten Arbeiten im Haushalt verrichtet und hatte seitdem auch nicht mehr allzu viel Chaos angerichtet, aber sicher war sicher. Wenn Darius in solchen Dingen nur halb so perfektionistisch veranlagt war wie im Beruf, dann würde er bestimmt trotzdem die Hände über Alfreds Nachlässigkeit über dem Kopf zusammenschlagen.
„Schön hast du es hier!“, sagte er jedoch und Alfred lächelte erleichtert.
Darius hatte seine Jacke mitsamt der Tasche an der Garderobe abgelegt und die Papiertüte auf der Arbeitsplatte platziert. Alfred war der Meinung, dass nun ohnehin schon so viel Zeit vergangen war, dass jegliche Art von Begrüßung nurmehr befremdlich wirken würde.
„Fühl dich wie zuhause“, meinte er also nur und beobachtete, wie Darius scheinbar interessiert zuerst die Standuhr seiner Großmutter in Augenschein nahm und dann seinen Blick über die eingerahmten Fotografien an den Wänden schweifen ließ.
Alfred räusperte sich kurz, während er die Kaffeekanne auf den Tisch stellte, um Darius vor dem Anblick der sicherlich schon zentimeterdicken Staubschicht auf den alten Fotos zu bewahren, die er selbst beim letzten ordentlichen Großputz sicherlich vergessen hatte.
Das schien ihn allerdings herzlich wenig zu interessieren, denn er warf ihm nur kurz einen besorgten Blick zu, als hätte er Angst, dass Alfred gleich an einem erneuten Hustenanfall ersticken würde – dann schenkte er ihm ein Lächeln und wandte sich wieder zu der Fotografie, der er momentan am nächsten stand und blies einmal kräftig gegen das Glas, damit er besser sehen konnte, nachdem sich die Staubwolke gelichtet hatte.
Fast hätte Alfred ja vergessen, dass dieser Mensch einfach unmöglich war, nun aber wurde ihm das volle Ausmaß erst bewusst, als er sich einfach nicht dabei stören ließ, ungefragt die vergangenen Jahrzehnte in Form von Bildern zu mustern.
Kurz war es ihm sehr peinlich, dann aber wurde ihm warm ums Herz, denn Darius schien gar nicht einfach nur neugierig zu sein, sondern sich ernsthaft dafür zu interessieren. So seufzte er nur leise, schnappte sich ein Küchenhandtuch von der Arbeitsfläche, trat mit einem sanften Schmunzeln zu ihm und beschloss, dass das Frühstück warten konnte.
„Möchtest du dich denn nicht setzen?“, fragte er ein bisschen unsicher, „Du hast doch sicherlich noch Schmerzen?“
„Unsinn“, Darius wandte sich grinsend zu ihm, „Es sei denn, die Bilder sind zu privat um sie mich anschauen zu lassen? Dann jedoch würde ich sie an deiner Stelle nicht so gut sichtbar aufhängen!“
Alfred lachte kurz und schüttelte den Kopf.
„Ich habe keine Geheimnisse“, meinte er sanft und nutzte das Tuch, um den Staub auch von den restlichen Bilderrahmen zu wischen.
Darius fand wohl besonderes Interesse an einem Bild von seinem allerersten Urlaub in Paris, darum sah Alfred sich fast schon genötigt, ein paar Worte darüber zu verlieren. Ein junger, wahnsinnig gut aussehender Kurt grinste vor dem Eiffelturm in die Kamera und hatte den Arm um seinen Sohn gelegt, der ihm zu diesem Zeitpunkt nur knapp bis zur Brust reichte.
„Das muss irgendwann Mitte-Ende der Achtziger gewesen sein, wir haben für die Reise extra noch einen Farbfilm geholt“, erklärte er und fühlte die Sentimentalität über sich hereinbrechen.
„Dann bist das etwa gar nicht du mit deinem kleinen Bruder?“, neckte er ihn und Alfred musste lachen.
„Nein, ich bin der verwöhnte Bengel, dem ohne jegliche Geschwister die ganze Zeit furchtbar langweilig war“, meinte er grinsend, „Dass ich meinem Vater anscheinend sehr ähnlich sehe, fasse ich jedoch zunächst einmal als Tatsache und nicht als Beleidigung auf!“
Darius warf beim Lachen wieder den Kopf zurück und Alfred musste sich zusammenreißen, nicht den ganzen Urlaub aus seiner Erinnerung nachzuerzählen.
Mit allen Details, die ihm gerade wieder einfielen, würde der Kaffee bis dahin kalt werden, Darius allerdings schien durchaus nicht abgeneigt, all die Geschichten zu den Bildern zu hören, denn seine Augen strahlten, als Alfred weiter sprach.
„Wir hatten damals das erste Jahr den Wohnwagen und ich weiß noch, dass ich die Nacht zuvor mit der Taschenlampe unter der Bettdecke noch bis Mitternacht gelesen habe. Wahrscheinlich schau ich deswegen so mürrisch drein – aber ich war sowieso nie der größte Liebhaber davon, auf Fotos abgebildet zu werden!“
Darius betrachtete das Bild noch eine ganze Weile mit einem so wahnsinnig sanften Lächeln, dass es Alfred erröten ließ. Dann trat er einen Schritt zur Seite und nahm sich das anscheinend gleich nächste vor.
„Dafür aber wohl ein großer Liebhaber von Frankreich - das hatten wir übrigens noch gar nicht zuende diskutiert!“, war sein erster Kommentar dazu und Alfred sah kurz verwirrt auf die Fotografie, die gar kein Wahrzeichen oder irgendeinen anderen markanten Punkt abbildete, an dem er hätte erkennen können, dass es dort aufgenommen wurde.
Auf dem Foto war auf den ersten Blick lediglich sein Vater zu sehen. Diesmal schon einige Jahre später hatte man ihn mit stolzer Pose und einer albernen Sonnenbrille auf der Nase vor dem Wohnwagen abgebildet. Darius begann zu lachen, als er schließlich entdeckte, dass der Alfred auf dem Bild, damals in den besten Flegeljahren, gerade aus dem Fenster schaute und eine Grimasse zog.
„Das ist doch dieser Campingplatz gleich bei Versailles“, fragte Darius dann und Alfred war einige Momente lang einfach nur zu erstaunt, um überhaupt zu antworten, ehe er schon fortfuhr, „Ich meine fast, dass wir damals nur einige hundert Meter von eurem Standort auf diesem Bild entfernt waren – und vielleicht zehn Jahre später, aber trotzdem!“
Er klang hellauf begeistert, während er studierte, was im Hintergrund von der Anlage zu sehen war, dann jedoch fast eilig zum nächsten Bild trat, als könne er gar nicht genug davon bekommen, in Alfreds Vergangenheit zu stöbern.
Eigentlich schmeichelte es ihm dieses Interesse sehr, trotzdem kam er gar nicht mehr dazu, noch weiter zu lustigen Erklärungen der Bilder auszuholen, denn das nächste versetzte ihm dann doch einen Stich im Herzen. Lange war er täglich mehrmals an den ganzen Bildern vorbei gelaufen, ohne sie überhaupt bewusst wahrzunehmen – nun schaute ihn aus liebevollen, gütigen Augen in einem zarten, hübschen Gesicht ausgerechnet Charlotte Wunderlich an.
Die vorherigen Bilder hatte sie von den beiden aufgenommen, weil sie das fotografieren geliebt hatte. Hier waren sie jedoch auf die Idee gekommen, einen Passanten zu fragen, ob er den Auslöser betätigen würde, damit es auch eine Aufnahme von allen Dreien gab.
Der Alfred auf dem Bild war mittlerweile erwachsen geworden, stand mit einem schiefen Lächeln in der Mitte seiner Eltern, hatte jedoch beide Arme um seine liebe gute Mutter gelegt, als wolle er sie vor allem schützen, was nach heutigem Wissensstand schon kurze Zeit später auf sie zukommen würde.
Darius betrachtete das Bild lange, ohne ein Wort zu sagen.
Es war bestimmt recht offensichtlich, wer diese Frau auf dem Bild war und auch wenn er sie nie erwähnt hatte, wusste Darius zumindest, dass zwar sein Vater, nicht jedoch die Mutter zum Konzert erschienen war.
Ja, gerade weil Alfred sie mit keinem Wort erwähnt hatte, während Darius seinen Vater längst kannte, schien es beinahe offensichtlich, dass und warum sie nicht mehr die Gelegenheit hatte, seine Konzerte zu besuchen.
Fast als würde er vorgeben, dass Alfred noch etwas Staub beim Abwischen vergessen hatte, strich Darius‘ Finger fast zärtlich über den Rahmen des Bildes, ehe er Alfred mit einem durchdringenden, schmerzerfüllten Blick ansah.
„Meine Mutter“, erklärte Alfred überflüssigerweise mit einem sanften Lächeln, das Darius hoffentlich ein bisschen aufmuntern würde.
Bewusst hatte Alfred verhindern wollen, dass die Trauer des Verlustes all das Glück und die Freude ihres vergangenen Lebens überdeckte. Er wollte nicht jedes Mal nur in Schmerz an sie denken, sondern sie vor allem in liebevoller Erinnerung behalten.
An dieser Einstellung hatte er lange gearbeitet, nicht immer gelang es ihm, aber den Prozess, dass es irgendwann so in seinem Bewusstsein verankert wäre, wollte er weiter verfolgen.
Darius hingegen schien untröstlich, obwohl er sie nicht einmal gekannt hatte, was Alfred zugegeben etwas verwirrte. Allerdings verlor er kein Wort darüber, viel lieber wollte er ihn davon überzeugen, dass zumindest für ihn selbst und zumindest in diesem Moment alles in Ordnung war.
Wollte ihm aufzeigen, dass dieses Bild zwar nach wie vor die Wehmut, sie unendlich zu vermissen, in ihm auslöste, aber deswegen keine weniger erfreuliche Erinnerung aus einer fröhlichen Zeit damals war.
„Sie ist wunderschön“, flüsterte Darius mit erstickter Stimme.
Alfred fühlte sich einige Momente lang fast unsicher, dann fasste er Darius ungefragt sanft am Arm und lächelte ihn an.
„Und ein wundervoller Mensch noch dazu“, meinte er leise, „Aber daran wird sich nie etwas ändern. Auch wenn sie nicht mehr da ist und ich sie wahnsinnig vermisse – Die schönen Erinnerungen kann mir keiner nehmen, solange ich nicht zulasse, dass sie von diesem Schmerz überschattet werden.“
Darius nickte verständnisvoll, aber sein Lächeln wirkte so endlos traurig, dass Alfred es kaum noch einordnen konnte und auch wirklich nicht wusste, wie er diese Situation nun retten sollte.
„Das sind wahre Worte“, sagte Darius und seine Stimme klang heiser, „Ich wünschte, ich könnte mir das ebenso zu Herzen nehmen.“
Und Alfred verstand.
Mit einem Mal verstand er es und ohne dass noch ein einziges Wort gesprochen wurde, schien die einzig angebrachte Reaktion auf diesen durch und durch privaten Moment, dass er Darius in seine Arme schloss.
Dieser klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihn und Alfred fühlte sich in dieser Situation beinahe schlecht dafür, dass sein Herz wie wild ganz aufgeregt gegen seine Brust hämmerte, bis er glaubte, es müsste eigentlich Darius‘ Ohren dröhnen, was für ein emotionales Chaos diese eigentlich tröstend gemeinte Geste in ihm auslöste.
„Möchtest du den Kaffee warm oder kalt trinken?“, fragte Alfred dann sanft mit einem kleinen, hoffentlich etwas aufmunternden Augenzwinkern, als er sich widerwillig aus der Umarmung gelöst hatte.
Darius schmunzelte tatsächlich ein bisschen und zuckte mit den Schultern, „Am besten wir schauen einfach mal und lassen uns überraschen, welche Temperatur er momentan hat!“
Auch wenn Alfred bemerkte, wie sehr er diesen Moment der emotionalen wie körperlichen Nähe auf gänzlich unangebrachte Art und Weise schon jetzt vermisste, so hoffte er doch zumindest, dass dieser besondere Augenblick nicht nur in seinem Herz die Schmerzen einer klar vermuteten tiefen Wunde ein bisschen gelindert hatte.
Und er hoffte, dass dieser Effekt zumindest solange anhalten würde, bis er selbst den Mut finden würde, Darius einfach nur fest an seine Brust zu drücken, ohne dafür erst einen triftigen Grund zu brauchen.