Tatsächlich verschätzte Alfred sich in der Uhrzeit gewaltig.
Er hatte noch einige Male hin und her überlegt, ob es sich lohnen würde, kurz nach Hause zu fahren und sich zumindest noch etwas ordentliches anzuziehen. Auf dem Weg zur Haltestelle hatte er beschlossen, dass er lieber kein Risiko eingehen würde, zu spät zu kommen.
Auch wenn Darius geschrieben hatte, dass er in jedem Fall warten würde, wollte er ihn unter keinen Umständen versetzen – und sowieso trafen sie sich lediglich zum Reden, da machte es wenig Unterschied, wie er aussah.
Es war vielleicht die ernüchterndste Verabredung, die er sich vorstellen konnte. Dennoch war Alfred unverhältnismäßig sehr aufgeregt, versuchte sich damit vorzubereiten, alle möglichen Szenarien in seinem Kopf durchzuspielen und sich das schlimmstmögliche Ergebnis auszumalen, damit ihn nichts aus der Bahn werden konnte. Dass er fast eine ganze Stunde zu früh am nicht einmal verabredeten Treffpunkt ankam, änderte nichts an seinem wilden Herzschlag, als er aus der Bahn stieg und den restlichen Weg beinahe im Dauerlauf überbrückte.
Natürlich traf er Darius weder im Café noch auf der Terrasse an, immerhin war dieses Mal ja zumindest die Uhrzeit abgemacht. Erschöpft lehnte sich Alfred gegen das Geländer des Außenbereichs und schnaufte erst einmal tief durch.
Er war verrückt. Vollkommen liebeskrank, sein Vater behielt wieder einmal recht. Und doch konnte er nichts daran ändern, es stand gar in den Sternen, ob er etwas daran ändern würde, wenn es in seiner Macht stünde.
Sein Herz pochte schmerzhaft gegen seine Rippen und seine Brust fühlte sich so eng an, dass es ihm beinahe die Luft abschnürte. Irgendwo war ihm noch bewusst, dass sich Liebe so nicht anfühlen sollte. Aber das zählte gerade nicht.
Einige Minuten blieb er stehen und rang um Atem, erst als er sich wieder beruhigt hatte, wagte es wohl einer der Angestellten, ihn zu fragen, ob er sich setzen und etwas bestellen wollte. Alfred fühlte sich ertappt, entschuldigte sich mit den Worten, dass er noch auf jemanden wartete und beschloss, sich in der verbleibenden Wartezeit lieber außerhalb des Lokals die Beine zu vertreten.
Mittlerweile war es kühler geworden, doch die Vögel zwitscherten fröhlich, die Sonne neigte sich am fast wolkenlosen Himmel leuchtend der Abenddämmerung zu und am Flussufer blühten die Wiesen und Büsche.
In einem Anflug von Wehmut dachte Alfred an den Spaziergang zu der jungen Entenfamilie, zu dem sie es nie geschafft hatten. Und an einen anderen Abend, an dem sie auf dem Weg hierher plötzlich ganz andere Pläne verfolgt hatten und niemals angekommen waren. Es war, als würden all diese Erinnerungen wie ein Abschied an ihm vorbeiziehen und betrübt schlenderte er den Fußweg entlang.
Irgendwo schnatterte eine Ente. Ein stolzer Schwan zog im Wasser seine Bahnen und als Alfred nach einer ganzen Weile wieder den Blick hob, entdeckte er eine schmale Gestalt einsam und verlassen am Ufer stehen.
Alfreds Herz machte einen kleinen Hüpfer.
Anscheinend gab es noch einen Menschen, der viel zu früh hier erschienen war und keine andere Möglichkeit gesehen hatte, als noch hierher zu kommen.
Ohne sein eigenes Zutun wurden Alfreds Schritte schneller, er keuchte und unterdrückte ein Husten, während er immer hastiger zu seinem Ziel zu laufen begann und schließlich komplett außer Atem wieder langsamer wurde, um die letzten hundert Meter zumindest noch etwas Fassung wieder zu erlangen.
Als der Mann am Ufer ihn bemerkte und sich in Alfreds Wahrnehmung wie in Zeitlupe zu ihm wandte, setzte Alfreds Herz einen Schlag aus.
Selbst in der Idylle des kleinen Fleckchens Natur mitten in der Großstadt und getaucht in das sanfte Licht der untergehenden Sonne sah Darius um einiges schlimmer aus, als er es erwartet hatte. Alfred spürte seine Hände klamm werden, sein Herz klopfte bis zum Hals und er stoppte seine unsicheren Schritte einige Meter, bevor er Darius erreichte.
Ihm blieb die Luft weg, als sich auf dessen Züge ein kleines Schmunzeln schlich. Mit einem Mal wirkten die dunklen Augen so viel weniger leer, das blasse Gesicht so viel weniger leblos und erst als er die raue, fast heiser klingende Stimme hören konnte, drang die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass Darius nicht weniger aufgeregt vor diesem Treffen sein konnte.
Ein wichtiges Treffen. Ein entscheidendes. Und womöglich sogar das letzte.
„Alfred-“, begann er leise, dann lächelte er schwach, „Du bist viel zu früh da.“
Es fühlte sich an, als würde Alfreds Herz bluten, als er noch einen Schritt näher trat und selbst sanft wisperte, „Du auch.“
Vielleicht hatten sie so mehr Zeit miteinander. Vielleicht aber auch gerade dadurch weniger, doch so sehr Alfred zuvor noch gegrübelt hatte, in diesem Moment setzten seine Gedankengänge komplett aus, als sein gesamter Körper nur noch mit Emotionen überschwemmt wurde.
Es war Darius, der sich zaghaft in Bewegung setzte und vorsichtig noch einen Schritt in seine Richtung machte. Manchmal sagten Blicke mehr als tausend Worte.
Alfred fiel keine Formulierung ein, die ausdrücken konnte, wie sehnsuchtsvoll, dankbar und doch so traurig und verzweifelt Darius ihn ansah. Als würde er keinen Ausweg sehen, keine andere Möglichkeit, als sein Vorhaben hier durchzuziehen, egal wie es enden würde.
Und so sehr Alfred sich wünschte, dass es nicht im Guten zu Ende ging, sondern absolut noch nicht endete, er konnte sich kaum mehr rühren und seine Hände zitterten, als er bemerkte, dass er nicht einmal an Blumen gedacht hatte, an denen er sich nun festhalten konnte.
„Alfred“, hauchte Darius nochmal erstickt.
Der Klang seines Namens aus dessen Mund tat fast ebenso sehr weh wie sein Anblick, der gleichermaßen so fremd wie doch auch vertraut schien.
Im Gegensatz zu ihm selbst schien Darius um einiges mehr Zeit damit verbracht zu haben, sich für dieses Treffen äußerlich vorzubereiten, doch weder die schicke Weste noch sein säuberlich gescheiteltes Haar konnten mittlerweile über seinen Zustand mehr hinwegtäuschen.
Wie lange hatte Alfred die Augen davor verschlossen? Wie viel von Darius war in der letzten Woche verloren gegangen? Wie viel von dem Menschen, in den Alfred sich so Hals über Kopf verliebt hatte, war überhaupt noch übrig?
In Ermangelung von anderen Worten, die ihm in den Sinn gekommen wären, entschied sich Alfred doch für das einzige, was noch Relevanz hatte.
„Darius“, flüsterte er zärtlich und ging noch einen kleinen Schritt auf ihn zu.
Anstatt zurückzuweichen, konnte Darius nicht verbergen, dass er sich wohl selbst zusammenreißen musste, eine anscheinend für ihn dringend benötigte Distanz zu wahren. Der Blick, mit dem er Alfred bedachte, wurde unsicher und seine Mundwinkel zuckten so sehr, dass man das Lächeln nicht mehr erkennen konnte.
„Wir müssen reden“, sagte Darius ernst und es klang härter, als Alfred es ertrug.
Alfred seufzte tief. Er wollte nicht reden.
Er wollte nicht angebracht handeln, er wollte unvernünftig sein.
Den Moment leben und die Chance nutzen, Darius in den Arm zu nehmen, ihn fest zu halten und innig zu küssen. Er würde ihm gar keine Gelegenheit lassen, sich zum Ende dieser Sache, die niemals wirklich begonnen hatte, zu äußern – er würde ihn einfach stattdessen küssen, sodass er gar nicht sprechen konnte.
Dennoch tat er nichts dergleichen. Alfred nickte lediglich hastig, versuchte all sein Verständnis dafür aufzubringen und setzte gerade an, noch irgendetwas loswerden, was Darius sicherlich nicht hören wollte- doch er kam nicht dazu.
Er musste nur kurz geblinzelt haben, es konnte kein ganzer Augenblick vergangen sein, doch mit einem Mal spürte er Arme um sich und einen zarten Körper, der sich an seinen presste.
Zittriger Atem und aufgeregtes Herzklopfen verschwammen ineinander, als Alfred sich an Darius klammerte und sein Gesicht an seine Schulter schmiegte, während sich seine Hände so fest in seiner Kleidung vergruben, als würde er ihn nie wieder hergeben. Ein Schluchzen ließ die beiden eng umschlungenen Körper erbeben und Alfred konnte nicht zuordnen, ob es von Darius oder ihm selbst kam.
Es war auch nicht wichtig.
Nichts anderes war mehr wichtig, wenn sie einander so nahe waren.
Egal wie aussichtslos die Situation aus Darius‘ Sicht auch sein mochte, egal wie unsicher ihre Zukunft in den Sternen stand, gerade zählte das alles nicht.
Alfred seufzte zittrig, als er einen zaghaften Kuss auf seinem Haar spürte.
Er schlang seine Arme fester um Darius und schaffte es nicht, auf irgendeine Art und Weise zu reagieren. Aber es machte nichts. Gerade hatte er alles, was er brauchte. Alles, nach dem er sich so lange gesehnt hatte.
Es war nebensächlich, dass Alfred kaum noch etwas anderes wahrnahm als den betörenden Duft von Lavendel, den er doch einst verabscheut hatte, dass er niemals gedacht hätte, ihn derartig zu genießen. Er sog ihn geradezu in sich auf, nie wollte er mehr etwas anderes wahrnehmen.
Als Darius sich vorsichtig, aber bestimmt ein wenig wieder von ihm löste, kämpfte alles in Alfred dagegen an, doch er hatte keine andere Wahl als zuzulassen, dass er wieder etwas Abstand zwischen ihnen schaffte.
Statt sich jedoch von ihm zu entfernen, hob Darius jedoch nur sanft sein Kinn an und Alfred spürte den Boden unter seinen Füßen nicht mehr, als ihre Lippen sich nach so langer Zeit endlich wieder berührten.
Es war nebensächlich, dass diese fast schon verzweifelt innigen Küsse nach Zigarettenrauch und salzigen Tränen schmeckten. Es war einfach nicht weiter wichtig, dass sie gut sichtbar für jeden anderen Spaziergänger am Flussufer im warmen Licht der untergehenden Sonne standen.
Sie hatten einander wieder. Vielleicht nicht für immer. Aber Alfred war töricht genug, dass er sich in diesem Augenblick einbildete, dass dieser Moment genügte.
Er wusste nicht, wie lange sie einander hier eng umschlungen gestanden und nichts weiter getan als einander geküsst hatten. Alfred war komplett außer Atem, er schaffte es nicht, die Augen zu öffnen, die er genießend geschlossen hatte. Er schaffte es nicht, sich von ihm zu lösen, er wollte es auch gar nicht.
Und doch- So vieles stand noch unausgesprochen zwischen ihnen und einmal mehr bemerkte er, dass er für gewisse Abenteuer einfach nicht geschaffen war.
Er brauchte Sicherheit. Er wollte wissen, woran er war.
„Darius-“, flüsterte Alfred in einem plötzlichen Anflug von Vernunft gegen Darius‘ Lippen, „Du- du wolltest doch-“
„Mhm“, machte Darius nur und küsste ihn wieder.
„Ich- nein, ich meine wir- Wir sollten nicht-“, hauchte Alfred und Darius versiegelte seine Lippen mit einem weiteren Kuss.
„Mhm“, machte er nur und vergrub seine Hand sanft in Alfreds Haar.
Es war nun Alfred, der nicht anders konnte, als sich ein wenig zu lösen, um in Darius‘ Augen zu sehen. Der Blick darin war verklärt, wirkte fast entrückt und ebenso von Tränen verschleiert wie sein eigener zuvor, doch keiner von beiden schaffte es, dass der Abstand lange genug für eine Erklärung währte.
Ihm selbst war mittlerweile unheimlich warm geworden, auch wenn ein kühler Lufthauch ein paar wirre Haarsträhnen in Darius‘ Gesicht wehte, die Alfred liebevoll zur Seite strich.
„Du-“, begann Alfred atemlos, „Du wolltest reden.“
Darius schüttelte hastig den Kopf und drängte sich sofort wieder näher an Alfred, um abermals nach seinen Lippen zu suchen.
Er küsste ihn so heiß und innig, dass Alfred einige Momente nicht mehr wusste, wo eigentlich oben und wo unten sein sollte. Kaum mehr sanft und zärtlich, sondern fast fordernd – und verzweifelt. Bei so gut wie jedem anderen Menschen hätte diese Taktik vielleicht sogar funktioniert.
Alfred jedoch spürte, wie sich alles schmerzhaft in ihm zusammenzog.
Zuerst noch ein kaum greifbares Gefühl von Unwohlsein, stieg plötzlich eine Welle von panischer Angst in ihm auf, die er nicht mehr ignorieren konnte. Für einen Moment wusste er nicht einmal, wovor er sich fürchtete.
Alfred spürte Darius‘ heißen Atem an seinem Hals und konnte sich mit einem Mal nicht mehr rühren. Es war eigentlich nicht unangenehm, im Gegenteil.
Es war doch alles, wonach er sich gesehnt hatte und selbst wenn er nun aus irgendeinem Grund entgegen der Tatsache, dass sie hier in der Öffentlichkeit waren, weitergehen würde, brauchte es sicherlich nur ein klares Wort von Alfred und er würde aufhören – aber nicht einmal das brachte er über die Lippen.
Was für ein riesengroßer Unsinn, sich so zu fühlen wie er es gerade tat.
Wenn er es schätzen müsste, wäre sich Alfred sicher, dass Darius momentan kaum mehr die Hälfte seines eigenen Körpergewichts auf die Waage brachte. Mühelos würde er sich zur Wehr setzen können, davon abgesehen, dass er doch gar nichts dagegen hatte, weil er ihn doch liebte und Darius bewies damit, dass er ihn liebte und sowieso hatte er diese Situation selbst herausgefordert und- und-
Alfred wurde beinahe schwarz vor Augen. Sein Herz raste, Panik übermannte ihn und er fühlte sich so elend, so unfassbar schwach- Es war nicht fair. Es war nicht fair, so zu fühlen, es gab keinen einzigen Grund dazu.
Aber er konnte nichts dagegen tun.