Manchmal wünschte sich der Herr Kapellmeister den urplötzlichen Verlust seines Gehörs sehnlichst herbei. Zum Beispiel in Gesellschaft von respektlosen Dilettanten, die wahllos Werke großer Komponisten mit Füßen traten.
Zum fünften Mal in Folge zuckte Darius bei exakt derselben falsch gespielten Stelle desselben eigentlich zutiefst wundervollen Stückes zusammen und sprach schließlich doch ein Machtwort.
„Danke, das reicht! Ich würde ja vorschlagen, du übst das jetzt solange, bis du es endlich kannst – aber ich muss gleich nochmal los, wir machen dann besser wann anders weiter“, sagte er, „Der Rest ist gar nicht übel, aber wenn ich noch einmal zu hören kriege, dass deine Hand einfach zu klein ist und du ja gar nichts dafür kannst, hat sich das sowieso erledigt!“
„Was, was, was? Nein!“, empörte sich Nina und sah ihn aus großen schockierten Augen an, „Ich will aber noch weitermachen! Bis ich es endlich kann – hast du selbst gesagt, solange bewege ich mich nicht vom Fleck.“
Darius sah hilfesuchend kurz zu Gabriel, der mit vor der Brust verschränkten Armen und einem fast gehässigen Grinsen neben dem Klavier an der Wand lehnte.
„Ihr müsst jetzt sicher ganz dringend nach Hause gehen, du musst doch bestimmt noch- ähm. Hausaufgaben machen, dir die Zähne putzen, deinen Hamster füttern oder sowas“, versuchte Darius vergeblich, mit Nina zu verhandeln, um irgendwie lebendig aus dieser Situation herauszukommen.
Sie rollte genervt mit den Augen, begann wortlos schon wieder auf dem Klavier zu klimpern und Darius warf ihrem Vater einen eindringlichen Blick zu.
„Ach“, Gabriel zuckte grinsend mit den Schultern, als würde er sich an seinem Leid geradezu ergötzen, „Wir haben Zeit! Alle Zeit der Welt, nur keine Eile.“
Darius erhob sich, um nach den nicht erhörten Worten schließlich mit Taten seinen Standpunkt klarzumachen.
„Aus. Schluss. Vorbei. Ende“, meinte er, „Kostenlose Klavierstunden finden erst nächste Woche und nach telefonischer Vereinbarung wieder statt.“
Nina sah todtraurig zu ihm auf und wirkte wie ein kleines Hündchen, das man ganz allein an einem Laternenpfahl festgebunden hatte.
„Aber-“, beschwerte sie sich herzzerreißend, „Aber!“
Gabriel lachte vergnügt, „Jetzt siehst du mal, wie das hier läuft, Onkel Darius!“
Der Angesprochene bedachte ihn mit einem bitterbösen Blick und wartete so geduldig wie möglich, dass Nina die kleinen klebrigen Finger von seinem geliebten Klavier nahm, ehe er die Tasten hastig und nicht ganz so sanft wie üblich aber trotzdem einigermaßen sorgfältig abwischte, bevor er den Deckel zuklappte.
Das sollte als Machtwort ausreichen.
Nina sah ihm verdrossen dabei zu und fragte ihm Löcher in den Bauch.
„Bin ich so eklig, dass du jetzt erst mal putzen musst? Warum nimmst du nicht gleich Desinfektionsmittel? Ist das schädlich für das Elfenbein- ist das überhaupt heutzutage noch Elfenbein und musste dafür ein Elefant sterben?“
„Mehrere“, sagte Darius ohne mit der Wimper zu zucken und sah sie durchdringend an, „Rechne mal aus, wie viele kleine tote Baby-Elefanten es für zweiundfünfzig Tasten braucht, wenn die Stoßzähne noch so winzig sind.“
Nina starrte vollkommen schockiert abwechselnd auf ihn und auf das Klavier.
Dann schnaufte sie erleichtert auf, weil er irgendwann doch entgegen aller guter Vorsätze lachen musste.
„Du bist doof!“, warf sie ihm vor und klang ihrer Tante damit erstaunlich ähnlich, „Ein Baby-Elefant hat noch gar keine Stoßzähne!“
Darius schmunzelte. Wo sie Recht hatte, hatte sie eben Recht – auch wenn sie eine unerträgliche kleine Besserwisserin war.
„Ich könnte es auch nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, auf den Überresten eines sinnlos dafür getöteten Tieres zu spielen. Tradition hin oder her, das ist einfach grausam“, tat er noch schnell seine Meinung kund, dann deutete diskret auf die Tür, „Die Fortsetzung folgt nächste Woche, ruf mich einfach an. Ich wünsche dir noch eine gute Fahrt, schöne Träume, gute Nacht, tschüss!“
„Aber-“, begann Nina wieder.
Diesmal schaltete sich jedoch Gabriel ein, weil es ihm wohl endlich auch zu bunt wurde, „Nichts aber. Wenn wir nicht erwünscht sind, gehen wir eben wieder.“
„Aber!“, beschwerte sich Nina und sah Darius wieder flehend an.
Dann hing sie auch schon wieder an ihm und hielt ihn in einem Klammergriff gepackt, „Onkel Darius mag mich doch! Und er ist ein guter Klavierlehrer!“
Gabriel stöhnte genervt auf. Scheinbar hatte er sich schon darauf eingestellt, dass sie wieder gehen würden, weil er keine Lust auf weitere Diskussionen hatte.
„Na, wenn du meinst“, Darius hingegen schenkte Nina ein schwaches Lächeln und versuchte sie halbwegs sanft abzuschütteln, „Wir sehen uns ja wieder, keine Sorge. Ich muss mich jetzt nur wirklich beeilen, Tante Theresa wartet sonst auf mich und ich muss mich vorher noch umziehen.“
Nina strahlte über das ganze Gesicht.
„Wo geht ihr hin?“, wollte sie wissen, „Darf ich mitkommen?“
Darius runzelte die Stirn über so viel Aufdringlichkeit.
„Ganz sicher nicht“, meinte er, „Sie wollte irgendetwas unter vier Augen besprechen, das ist also nur eine Sache zwischen uns- und außerdem muss man sich im Steirereck benehmen und gute Manieren an den Tag legen!“
Nina rollte mit den Augen und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen.
„Pff, dann halt nicht“, machte sie nur, „Klingt sowieso total langweilig.“
Es dauerte noch zehn Minuten, bis die beiden sich dann endlich zum Gehen entschieden und weitere fünfzehn, bis sie dann tatsächlich weg waren.
Entgegen des manchmal aufkommenden Gefühls der Einsamkeit, wenn er ansonsten allein hier drin saß, war er jetzt wirklich wahnsinnig froh, dass er nun endlich seine Ruhe hatte.
Zumindest noch für eine knappe Stunde, in der er sich ausgehfertig machen konnte, bevor er sich in die nächste Hölle begeben musste.
Eine Überraschung habe sie für ihn, hatte Theresa gesagt.
Sie meinte es sicherlich gut. Allerdings war ihm absolut nicht danach, sich fein herauszuputzen und sich auf den Weg zu machen – und noch weniger danach, in aller Öffentlichkeit in einem Restaurant voller exklusiver Leute zu sitzen, während er sich womöglich noch zu Theresas persönlicher Zufriedenheit durch irgendein überteuertes Fünf-Gänge-Menü quälen musste.
Das erste Mal seit Tagen schaute er nach dem Duschen länger als für die Beschäftigung mit seinen Haaren notwendig in den Spiegel und entschied, dass sein Anblick eine Zumutung für jedes Auge war.
Auf der Suche nach irgendeinem zumindest halbwegs passenden Outfit probierte er gefühlt den Großteil seiner gesamten Garderobe an, nur um jedes Stück danach wieder in den Kleiderschrank zu hängen.
Zu groß, zu inoffiziell, zu groß, zu altmodisch, zu weit, zu groß, ausgewaschen, zu lässig, zu groß, zu weit, zerknittert - und seine liebste Jacke fehlte immer noch.
An der hintersten Ecke der Stange fiel ihm noch die peinlichst gut gepflegte, aber doch lächerlich schmal geschnittene Kombination in die Hände, die er zur Zeit kurz vor seinem Hochschulabschluss zu offiziellen Anlässen getragen hatte.
Er hatte einfach absolut nichts anzuziehen.
Es sei denn- Mit zittrigen Fingern machte er sich am Reißverschlus der Kleiderhülle zu schaffen. Es sei denn, das Zeug passte mittlerweile wieder.
Nein, Theresa würde ihn umbringen. Daran konnte er nicht einmal denken.
Sein Herz klopfte bis zum Hals vor Aufregung, als er die Kleidungsstücke aus der Hülle befreite und vorsichtig auf irgendwelche Falten oder Flecken überprüfte.
Aber Prinzipien hin und Warnungen her, er wollte es einfach wissen. Einfach nur für sich selbst, ohne dass es irgendjemand überhaupt bemerken würde.
Kurze Zeit später stand Darius vor dem großen Spiegel an der Garderobe und starrte einfach nur. Soweit er den Körper drehen und dabei den Kopf auf das Spiegelbild gerichtet lassen konnte, begutachtete er sich von allen Seiten.
Das durfte Theresa nie erfahren, war sein erster Gedanke.
Er war im Begriff, sich hastig umzuziehen und einfach den nächstbesten Anzug überzustreifen, als er doch inne hielt und sich selbst noch ein prüfend betrachtete.
Mit zittrigen Fingern richtete er seinen Scheitel, dann zuckten seine Lippen zu einem kleinen, zufriedenen Lächeln.
Eigentlich war dieses Outfit gar nichts besonderes. Eine schwarze Stoffhose, ein weißes Hemd und ein ärmellose schwarze Weste mit Knöpfen. Es hing nicht einmal durch die melancholischen Erinnerungen an die vergangene Zeit kurz vor seinem angestrebten Abschluss sein Herz daran.
Eine einfache schwarze Krawatte dazu, seine ganz alltäglichen Schuhe, fertig.
Im Grunde genommen waren die Klamotten nicht einmal teuer gewesen und hatten durch die schlichte Eleganz eigentlich sehr wenig Persönlichkeit.
Und doch war es weitaus mehr als die Kombination aus Kleidungsstücken.
Es war eine Herausforderung, deren ersten Schritt er genommen hatte, ohne es bislang aktiv zu bemerken. Und eine Motivation, sein Leben und sich selbst endlich wieder in den Griff zu bekommen.
Wie hatte Theresa damals gesagt, als sie ihm klargemacht hatte, dass sie dieses Outfit nie wieder an ihm sehen wollte? Kein erwachsener Mann sollte auch nur ansatzweise in diese Kleidergröße passen.
Sie musste es ja nicht wissen. Wenn er das allerdings vermeiden wollte, dann sollte er sich schleunigst wieder umziehen, denn er hatte er nicht mehr viel Zeit und während er hektisch schon die Knöpfe öffnete, hielt er doch wieder inne.
Ein fast trotziger Gedanke hatte Besitz von ihm ergriffen und versuchte ihm klarzumachen, dass es Theresa ja egal sein konnte, was er anziehen würde.
Diese komplett undankbare Art des Denkens wieder zu verwerfen, dauerte länger als gedacht und gerade aus diesem sehr ernüchternden Grund war es schließlich doch lediglich nur noch die Zeit, die Darius dazu brachte, in genau diesem Anzug notgedrungen das Haus zu verlassen.
Hin und her gerissen zwischen Scham und Stolz saß er in der Bahn und wandte sich unauffällig immer wieder zu den Fensterscheiben, in denen sich aufgrund der Lichtverhältnisse sein Abbild sehr gut ausmachen ließ.
Unglaublich albern war das, versuchte er sich klarzumachen.
Aber dass dieser plötzliche Anflug von Vernunft auch wirklich in sein Bewusstsein drang, schaffte er nicht.
Er fühlte sich seltsam beschwingt und guter Dinge für die gesamte Zukunft, als hätte dieses kleine Detail sämtliche Zweifel ausgelöscht.
Nicht einmal die Verletzung am Knie nahm er gerade wahr, aber das lag vielleicht auch an den Schmerzmitteln.
Die Welt gehörte ihm.
Niemand würde ihn aufhalten, schon gar nicht er selbst. Sogar sein Körper und seine menschlichen Bedürfnisse mussten sich seinem Willen beugen.
Er konnte alles erreichen, was er wollte.
Zuversichtlich und voller Hoffnung, dass niemand auf der Erde ihm diesen kleinen Erfolg streitig machen konnte, versüßte er sich die restliche Zeit des Weges mit Chopin und Liszt.
Erst als er nach dem Umsteigen von der Haltestelle in Richtung Restaurant lief, fiel ihm wieder ein, dass er jetzt erst recht nicht mal im Traum daran dachte, ausgerechnet heute an diesem opulenten Fressgelage teilzunehmen.
Weshalb nochmal hatte er bei dieser Einladung überhaupt zugesagt?
Vielleicht würde er Theresa noch sponan umstimmen können – dazu musste er sie aber erst einmal finden.
Plötzlich überkamen ihn doch wieder Zweifel, ob er nicht zu weit ging, sich ihr in diesem Outfit zu präsentieren, nachdem sie ihm explizit klargemacht hatte, dass sie diesen Anzug niemals wieder an ihm sehen wollte.
Noch bevor er soweit gelaufen war, dass er überhaupt den Eingang sehen konnte, blieb Darius stehen und kramte sein Telefon heraus, um Theresa anzurufen. Es war erst kurz vor acht und er hätte eigentlich noch genügend Zeit für die wenigen hundert Meter, aber er würde wohl einfach absagen.
Er könnte behaupten, die Bahn verpasst zu haben. Er könnte ihr mitteilen, dass er wichtigeres zu tun hatte. Sie würde sich aufregen, womöglich würde sie bitter enttäuscht von ihm sein und wochenlang kein Wort mehr mit ihm sprechen, aber es war besser, als sich dieser Situation zu stellen.
Allerdings ging sie nicht ans Telefon, als er anrief und somit war er der festen Überzeugung, dass sie es bereits lautlos geschaltet hatte, weil sie längst schon an einem der Tische saß und auf ihn wartete.
„Ruf mich bitte an“, schrieb er in einer Nachricht an sie und wartete, bis sie diese gelesen hatte. Das tat sie sogar recht schnell, aber es kam keine Antwort und auch kein Rückruf. Sie würde sich ja bereits denken können, was er vorhatte – und ihn deswegen gekonnt ignorieren.
Er hätte viel früher absagen sollen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr.
In ihm zog sich alles schmerzhaft zusammen und als er endlich seinen Weg weiter fortsetzen konnte, war er schon wahrhaft untypisch spät dran.
Es fühlte sich an, als würde er sich zur eigenen Beerdigung begeben.
Erst als er fast angekommen war und von schon weitem eine wohlbekannte Person etwas verloren vor dem Eingang stehen sah, die sich scheinbar suchend umblickte, dämmerte ihm schließlich, wieso Theresa nicht ans Telefon ging.
Das konnte nicht ihr ernst sein.
Das konnte sie nicht wirklich gemacht haben.
Sie hatte vollkommen den Verstand verloren und es gab keinen Grund zur Vermutung, dass es sich hierbei um einen Zufall oder eine Verwechslung handelte.
Das hatte Theresa ja geschickt eingefädelt und Darius verfluchte sie still.
Vor der Tür stand Alfred Wunderlich in einem atemberaubend schicken Anzug, sah immer wieder auf seine Uhr und wirkte ganz verlassen.
Das war absolut kein Zufall.
Das war die Überraschung, von der sie gesprochen hatte.