Es gab Momente im Leben von Alfred Wunderlich, in denen stellte er alles bisher Erlebte und bisher für wahr Erachtete komplett infrage.
Meist waren solche Situationen von furchtbaren Erlebnissen gekennzeichnet und es ging oft darum, dass seine ganze Welt in sich zusammenbrach, nachdem er sie mühsam wieder aufgebaut hatte. Ja, man konnte sogar behaupten, es war ihm schon so viel derart Schlechtes widerfahren, dass er recht geübt darin war, alle Scherben notdürftig wieder zusammenzusetzen und nur darauf zu warten, dass wieder alles ins Wanken geriet.
Diesmal war es jedoch ausnahmsweise nicht so.
Alfred brauchte einige Momente, in denen er wohl nur starrte und ein bisschen dümmlich vor sich hin grinste, bevor er überhaupt wieder in der Realität ankam.
Zwar war dieser Morgen – und vor allem der vergangene Abend! – auch nicht wirklich mit seiner vorgefassten Version seines Weltbildes vereinbar, doch diesmal war der Grund dafür erstaunlich wundervoll.
Geradezu unüblich freudig ließ Alfred geschehen, dass man ihn eines Besseren belehrte, dass eben auch noch schöne Dinge passierten, wunder-wunderschöne Momente im Leben, mit denen er absolut nicht mehr gerechnet hatte.
Als er schon geglaubt hatte, dass alles verloren war, als er schon gedacht hatte, dass es niemals mehr weitergehen konnte, hatte er ausnahmsweise nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern den entscheidenden Schritt gewagt - mit Erfolg. Mit so außergewöhnlich wunderbarem Erfolg, dass er es kaum fassen konnte.
Zugegeben war er von Zweifeln zerfressen zu Bett gegangen, hatte am Morgen noch einige Momente der liebevollen Sehnsucht genossen, ehe er sich wieder alles komplett zerdacht und über alle möglichen Hindernisse das Hirn zermartert hatte.
Und jetzt – jetzt konnte er nicht einmal die Worte verstehen, die diese ganz bestimmte, besonders wohlklingende Stimme im Beisein aller Musiker vorzubringen hatte. Er erinnerte sich wohl daran, die letzten Sitzungen ebenso wenig aufnahmefähig gewesen zu sein, doch diesmal waren die Umstände wohl das komplette Gegenteil.
In beiden Fällen hieß der Grund Darius Ottesen, vor zwei Tagen noch hatte er geglaubt, dieser Mann wollte ihn in seinen persönlichen Abgrund stürzen, gestern war er sich gar nicht mehr so sicher gewesen. Und heute wusste er, dass Darius einfach nur genauso unsicher war wie er selbst.
Genauso hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen und der bitteren Realität, in der eine Liebschaft zwischen ihnen niemals für gut befunden würde.
Aber sei es drum – Alfred wollte ja sowieso keine Liebschaft anzetteln. Er wollte keine heimliche Affäre, in der man sich hinter Vorhängen und in der Dunkelheit des nächtlichen Parks versteckte. Er wollte- er wollte so viel mehr, er wollte-
„-Wunderlich und Sundström. Ich dachte, es würde sich anbieten, die Zimmerverteilung nach der Sitzordnung im Orchester zu arrangieren.“
Zimmer? Was für Zimmer?
Scheinbar hatte Alfred durch seine Tagträumerei etwas Relevantes verpasst, denn Darius ließ gerade ein paar Notizblätter sinken, auf denen entweder eine Namensliste oder etwas dergleichen stand.
Worum ging es eigentlich? Alfred sah sich unauffällig um.
Jasper strahlte über das ganze Gesicht. Er wusste scheinbar, was hier gesprochen wurde. Einige andere blickten eher fragend oder verwirrt drein, allerdings nicht komplett so schockiert wie Alfred sich gerade fühlte.
„Die Kapazität des Klosters ist schon insgesamt auf etwa fünfzig Räume beschränkt, eine Einzelbelegung der vorhandenen Übernachtungsmöglichkeiten ist daher schon aus logistischer Sicht undenkbar“, Darius lief unruhig auf und ab, „Direktor Berentz‘ Einsprüche bezüglich der finanziellen Situation möchte ich nicht außer Acht lassen, aber wenn jemand sich partout gegen einen Unterbringung im Doppelzimmer aussprechen sollte, wäre es möglich, gegen persönlichen Aufpreis eine Ausnahme zu machen – natürlich nur solange die Kapazität des Ortes ausreicht, darum bitte ich genau jetzt um klare Handzeichen.“
Alfred sah sich verdutzt um und wollte sich gerade ganz unauffällig und leise an Jasper wenden, doch er kam gar nicht zu Wort, denn dieser nutzte es sofort aus, dass er sich zu ihm drehte.
„Wir beide sind in einem Zimmer“, flüsterte er aufgeregt, „Das wird bestimmt total cool – wie eine Pyjama-Party!“
Mit einem verlegenen Schmunzeln nickte Alfred nur unsicher, dann wagte er doch, sich vorsichtig an die Sache heranzutasten, „Du weißt sicherlich auch, wo wir übernachten werden?“
Jasper gluckste mit einem schiefen Grinsen und flüsterte zurück, „Na, hat er doch eben gesagt. Kloster Schöntal, das ist ein bekannter Tagungsort, sowohl für musikalische Zwecke nutzbar als auch eine verhältnismäßig praktische und günstige Übernachtungsmöglichkeit für große Gruppen!“
Alfred hob verwirrt eine Augenbraue.
„Mhm“, machte er, dann gab er sich einen Ruck, zu seiner Unzulänglichkeit zu stehen „Da muss mir wohl entgangen sein, wieso wir überhaupt in Schöntal übernachten wollen? Ist das nicht in Deutschland?“
Jasper sah ihn schockiert an.
„Alfred“, flüsterte er vorwurfsvoll, „Davon reden wir doch schon die ganzen letzten Tage! Hast du überhaupt mal eine einzige Sekunde zugehört?“
Etwas zerknirscht zuckte Alfred mit den Schultern, dann schüttelte er wahrheitsgemäß den Kopf.
„Nein“, seufzte er, „Nein, habe ich nicht.“
Im Nachhinein betrachtet ergab das wahrhaftig einen Sinn, wenn eine Fahrt nach Deutschland anstünde, ehe das Programm der regulären Saison wieder begann. Ja, jetzt konnte er gar nachvollziehen, weswegen an manchen Stellen das gesamte Orchester in Jubel ausgebrochen war und wieso Berentz öfter als sonst anwesend gewesen war.
„Es geht darum“, flüsterte Jasper, „Dass irgendjemand von den Anwesenden beim Konzert unseren Auftritt so gelungen fand, dass wir genau dasselbe noch einmal spielen sollen. In Deutschland. Vor ganz anderem Publikum. Das ist eine Chance, die sich Berentz nach der Sache mit Marquardt nicht entgehen lassen will und für uns bedeutet das-“
„Brauchen die Herren eine Extra-Einladung, bevor sie uns mitteilen, ob sie mit der Verteilung der Doppelzimmer einverstanden sind?“, mischte sich Darius mit schneidender Stimme in die Unterhaltung ein.
Alfred wurde rot, als er den Kopf hob und quasi an Darius‘ Blick erkennen konnte, wie schwer es ihm fiel, hier die Aufsichtsperson einer Horde schwer erziehbarer Kindergartenbälger zu spielen.
Hin und her gerissen zwischen seiner Position, in der er das gesamte Orchester im Überblick behalten musste, und der Tatsache, dass ihn wohl zu beiden der Schwatzenden eine doch etwas innigere Bindung als zum Rest hatte.
Alfred war komplett verwirrt und deutete mit einem fragenden Blick unauffällig auf sich selbst und dann auf Darius, doch Jasper quatschte fröhlich drauf los.
„Wir sind einverstanden“, sagte er bemüht, nicht allzu aufgeregt vor lauter Freude auf die sogenannte Pyjama-Party zu sein, die Alfred erst jetzt wieder einfiel. Mit hochrotem Kopf nickte er also und Darius notierte sich etwas.
„Dann hätten wir die Sache ja jetzt geklärt“, meinte er zufrieden und ordnete die Blätter in seinen Händen.
„Sobald ich nach der Reservierung eine feste Zusage für die Buchung habe, gebe ich Ihnen allen bescheid. Sie erhalten selbstverständlich noch einige Informationsblätter mit allen Details zum Ablauf“, erklärte er dann und lief zum Pult, um die Notizen darauf abzulegen.
Alfred hatte trotz allem guten Willen Mühe, sich darauf zu konzentrieren, was Darius sagte. Auf der einen Seite machte es ihm zu schaffen, dass er eine solch einschneidende Änderung der üblichen Pläne nicht einmal mitbekommen hatte – auf der anderen Seite aber konnte er sich gar nicht auf Darius‘ Worte konzentrieren.
Nicht, wenn sein Blick den schön geschwungenen Lippen galt, aus denen diese drangen. Nicht, wenn seine eigenen Lippen noch immer ein wenig kribbelten, weil sie die Berührungen von vor gar nicht allzu langer Zeit noch immer so vermissten.
Davon abgesehen, dass eine Konzertfahrt anstehen würde, was in Anbetracht der neuerlichen Umstände wohl Fluch und Segen zugleich sein würde, Alfred konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen.
Alles ging wild durcheinander. Zwischen durchaus vernünftigen Einwänden, dass er sich in die ganze Sache nicht so sehr reinsteigern sollte, kamen immer wieder noch die Erinnerungen an die letzte Nacht durch. Wieder hatte er derartig lebhaft geträumt, dass nach dem Aufwachen am nächsten Morgen gar ohne sein Wissen ein Stück von der Tapete an seiner eigenen Wand gefehlt hatte.
Und doch, jetzt sah er alles nicht mehr so eng, immerhin hatte Darius Ottesen nicht nur gesagt, sondern auch bewiesen, dass Alfred ihm wichtiger war als irgendwelche Zweifel.
Es könnte doch alles so schön sein.
Und es würde alles ebenso schön sein, es dauerte nur noch ein bisschen.
Sie brauchten vielleicht noch etwas Zeit, aber es würde alles gut werden, denn wenn sie es beide wollten, dann waren alle andere Dinge, die ihnen im Wege stehen würden, sicherlich ganz klein und nichtig.
Es gab nichts, was sie gemeinsam nicht schaffen würden - es gab nichts, was sie voneinander trennen konnte, sie gehörten zueinander, waren füreinander geschaffen und hatten einander nun endlich gefunden - es gab nichts, was sie davon abhalten könnte, irgendwann zusammen-
„Alfred?“, flüsterte Jasper und stupste ihn mit dem Ellenbogen an.
„Mhm?“, machte Alfred verwirrt und löste sich aus seinen bei näherem Betrachten doch leicht psychotisch anmutenden, von der rosaroten Brille der Frischverliebten vollkommen wirr gewordenen Gedanken.
Jasper lächelte schief, ehe er kopfschüttelnd raunte, „Du musst zuhören! Dann muss ich dir auch nicht nachher nochmal alles erklären.“
Alfred nickte hastig und besann sich darauf, zumindest noch ein paar Worte aufzuschnappen. Darius‘ Stimme klang wie Musik in seinen Ohren, es wäre schändlich, diesen Genuss zu verpassen, indem er sich den Kopf zerbrach über was sein könnte und was nicht- Alfred! Jetzt aber. Zuhören!
„Und wie bereits angedeutet“, Darius‘ Blick schweifte über die Reihen und blieb kurz an Alfreds Augen hängen, wobei ein betörendes kleines Lächeln seine Lippen umspielte, „Möchte ich jetzt noch bekannt geben, wie Direktor Berentz sich bezüglich des Anliegens geäußert hatte, das der Großteil des Orchesters gestern an ihn vorgebracht hatte.“
Kurz herrschte Totenstille und ein gespanntes Schweigen. Jasper hibbelte auf dem Stuhl herum.
Darius Ottesen mochte bisweilen zwar ein Pokerface haben, dann jedoch legte sich ein Lächeln auf seine Züge und er verkündigte:
„Wir fahren natürlich nicht erst ganz knapp zum Konzert hin und übernachten an eben diesem Abend, ehe wir wieder heimfahren. Wie bereits besprochen sieht der Plan aus wie folgt-“
Jubel unterbrach ihn so lautstark, dass Darius einen Moment lang Pause machte und schließlich mit hochrotem Kopf einige Male zum Weitersprechen ansetze, aber keine Chance hatte.
„Große Klasse, Maestro!“, rief Erwin und pfiff mit vier Fingern in seinem Mund, „Wir wussten doch, wir können auf Sie zählen!“
Darius wurde nur noch roter im Gesicht, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen und Alfred musste einfach nur selig lächeln.
Er freute sich für ihn, mittlerweile so angenommen worden zu sein, dass er schon nach kurzer Zeit nun vollends ein Teil dieses Orchesters war, den man sich nicht wieder wegdenken wollte.
„Wie-“, Darius räusperte sich und konnte endlich weitersprechen, „Wie bereits besprochen werden wir nun also heute die Fahrt zuende planen und unsere Materialien für die nächste Saison sammeln. Wir machen jetzt eine halbe Stunde Pause, in der ich das alles Restliche abkläre, dann verteile ich die Kopien der ausgearbeiteten Pläne und Sie dürfen nach der Besprechung nach Hause gehen, um sich auf die kommenden Tage vorzubereiten.“
Alfred lauschte mittlerweile aufmerksam und Jasper notierte sich scheinbar alles im Detail, so schnell wie sein Stift über das Papier huschte.
„Morgen ist frei, ich bitte jedoch den Tag zum Üben und Auffrischen der Partiturkenntnisse zu nutzen, denn ich möchte ungern bei null anfangen.“
Entgegen seiner klaren Ansagen wirkte Darius ein bisschen zerstreut und knetete die Hände ineinander, als würde er sich nach seiner Handcreme sehnen, es aber für unangebracht befinden, diese nun herauszuholen.
„Was Sie dann das verbleibende Wochenende über machen, ist mir egal. Ich möchte nur höflichst darum bitten, dass alle pünktlich und einsatzbereit Sonntag Abend um neun sich hier versammeln, damit wir nach einer kurzen Besprechung der bis dahin aktuellen Dinge den Reisebus beladen und beziehen können. Die tatsächliche Abfahrt ist gegen zweiundzwanzig Uhr geplant.“
Wieder gingen ein leises Raunen bis zu kurzen jubelnden Zurufe durch die Reihen. Die Stimmung schien ausgelassen und Jasper strahlte Alfred an.
„Wir kommen durch die Verzögerungen der gesetzlich vorgeschriebenen Pausen für den Busfahrer dann irgendwann Montag Vormittag an, beziehen die Zimmer und haben dann noch einige Tage Aufenthalt dort bis zum Konzert. Diese Zeit nutzen wir zum Auffrischen der regulären Saisonarbeit in einer wunderschönen Kulisse, mit fabelhafter Akustik. Dort werden wir unser Jahreskonzert nochmals geben und sobald wir wiederkommen, starten dann auch schon die Proben mit den Gesangssolisten.“
Als er schon geendet hatte, schien Darius doch noch etwas einzufallen und etwas nervös strich er sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Eine Sache noch-“, er blickte in viele aufmerksame Augenpaare.
Darius konnte nicht verbergen, dass er sich freute. Er strahlte über das ganze Gesicht und Alfred erwischte sich abermals bei dem Gedanken, wie unglaublich wunderschön er war.
„Wie ich vorhin erst erfahren habe und Ihnen nun stolz mitteilen darf – Es wird eine professionelle Aufnahme von diesem Konzert geben. Aufgezeichnet und festgehalten für die Ewigkeit- Sogar ein visueller Mitschnitt mit mehreren Kameraeinstellungen, wenn ich es richtig verstanden habe“, er lachte kurz auf, „Nichts was uns verunsichern sollte, aber ich dachte, ich erwähne es doch lieber noch als kleine Vorwarnung.“
Alfred war gedanklich und vor allem emotional schon wieder ganz woanders, aber im plötzlich rasant ausbrechenden Gemurmel sah Darius kurz auf die Uhr und wandte sich dann etwas lauter über den Geräuschpegel noch einmal an die Musiker:
„Wie ich höre, gibt es schon Gesprächsbedarf – wir sehen uns dann in einer halben Stunde nach der Pause!“