An Alfred zu denken fiel Darius nicht schwer, als er sich schließlich von Theresa verabschiedete, um sich doch noch einmal den organisatorischen Details für die Konzertfahrt zu widmen.
Sie hatten noch eine Weile über dieses und jenes gesprochen, von diesem leidigen Thema waren sie noch zu einigen weiteren Gesprächsinhalten gekommen.
Irgendwann hatte Theresa fast beiläufig erwähnt, dass sie nun doch bald losmüsste und das war erst der Moment, in dem Darius siedend heiß wieder einfiel, dass heute doch das Vorsingen war, von dem sie schon vor einer ganzen Weile gesprochen hatte.
Er entschuldigte sich, dass er sie gerade an diesem wichtigen Tag mit seinem emotionalen Mist belastet hatte, doch sie winkte ab und meinte nur, es wäre schlimmer gewesen, wenn er es bei dem kryptischen Telefonat belassen hätte.
Darius schloss sie fest in seine Arme und wünschte ihr viel Erfolg.
Gerade jetzt, wo hier in der Pause zwischen dem Konzert und dem regulären Betrieb durch die Fahrt noch Flaute herrschte, war es wichtig, dass sie sich für ein paar Auftritte auch anderweitig orientieren konnte.
Und davon abgesehen, dass er sowieso immer fest an sie glaubte, würde es ihr sicherlich gut tun, wieder auf andere Gedanken zu kommen.
„Du schaffst das“, ermutigte er sie und küsste ihre Wange, „Ich zweifle nicht daran, dass sie dich mit Kusshand nehmen werden!“
Theresa lachte und rollte vielsagend mit den Augen, „Mir wäre es statt großer Worte um einiges lieber, wenn du mir versprechen würdest, im Fall einer Zusage zumindest einen der Auftritte zu besuchen!“
„Selbstverständlich“, sagte Darius schneller, als er sich überhaupt entsinnen konnte, für welchen Zeitraum er sich gerade verpflichtet hatte – und ob es mit den anderen Dingen seinem Terminkalender überhaupt kompatibel war.
Als er sich schließlich auf den Weg nach innen machte, schien er es schon wieder ganz passabel geschafft zu haben, die negativen Gedanken zur Seite zu schieben und sich von all den bedrückenden Empfindungen zu distanzieren.
Ein wenig flau war ihm noch im Magen, aber zumindest hielt sich der Schmerz in Grenzen.
Stattdessen hatte eine ganz andere Nervosität von ihm Besitz ergriffen.
Alfred. Er würde Alfred wiedersehen.
Zwar nur geschäftlich und mitnichten auf eben jene Art und Weise, wie dieser es sich explizit noch gewünscht hatte, doch schlug sein Herz beim bloßen Gedanken an ihn höher.
Im noch komplett leeren Probensaal angekommen, zog Darius den nächstbesten Stuhl zu sich ans Pult und ging noch einmal die Ausdrucke bezüglich der Übernachtungen durch, notierte sich ein paar zusätzliche Informationen, die er über sein Telefon im Internet noch in Erfahrung brachte, aber sein Blick glitt wieder und wieder zur Tür.
Es war zwar durchaus albern zu hoffen, dass Alfred viel zu früh erscheinen würde, wenn er doch normalerweise immer seine festen Zeiten durch die Bahn hatte und auch immer pünktlich kam, wenn er mit dem Auto gebracht wurde – aber so sehr er auch versuchte, sich mit seiner Organisation zu beschäftigen, mit jeder verstreichenden Minute sehnte sich Darius immer mehr nur nach Alfred.
Natürlich stand in den Sternen, wie die Sache heute ablaufen würde.
Womöglich würde es eine sehr seltsame Situation sein, vielleicht würden einander nur unangenehm peinlich berührte Blicke zuwerfen. Dass Alfred dabei am Ende souveräner war als er selbst, war für Darius auch zu erwarten.
Als er schließlich guter Dinge war, dass zumindest organisatorisch alles Relevante erledigt war, reichte die Zeit noch gut, um wenigstens kurz bei Ferdinand im Büro vorbei zu schauen.
Darius spekulierte auf einen Kaffee, bereute diese Entscheidung aber schon beim Anblick seines mal wieder unleidlich gestimmten Schwagers.
„Was das alles wieder kosten wird!“, beschwerte er sich schon missmutig, als Darius ihm die groben Pläne mitteilte.
So entschuldigte er sich recht schnell wieder mit einem erfundenen Vorwand, der gefüllten Tasse in der Hand und dem Versprechen, sie später selbstverständlich wieder zurückzubringen.
Seine Tasche stand noch am Pult, als er es im Inneren des Gebäudes nicht mehr aushielt und sich auf den Weg nach draußen machte, hielt er schon Ausschau nach einer vertrauten Jacke. Zumindest solange bis ihm einfiel, dass diese noch zuhause an seiner eigenen Garderobe hing.
Selbstverständlich kam Alfred ohne Jacke, kurioserweise aber tatsächlich auch sicherlich mindestens zwei Bahnen früher als sonst um die Ecke gebogen.
Er hatte den Blick gesenkt und wirkte nicht nur müde, sondern komplett erschöpft, als hätte er die gesamte Nacht kein Auge zugetan.
Darius steckte schnell die Zigarette, die er sich hatte anzünden wollen, zurück in die Packung und ließ sie zusammen mit den Streichhölzern ungesehen in seiner Hosentasche verschwinden.
Als Alfred den Kopf hob und ihn entdeckte, legte sich ein zarter Rotschimmer, aber auch ein überglückliches Strahlen auf seine Züge.
Und mit einem Mal schienen alle Sorgen vergessen und alle vorher thematisierten Problematiken so klein. Nichts anderes war mehr wichtig, wenn Alfred ihn mit diesem Blick ansah.
Nichts war so wichtig wie Alfred.
„Guten Morgen, Maestro“, sagte dieser sanft.
Er wusste wohl nicht ganz, was er tun sollte und wohin mit seinen Händen, als vor Darius stehen blieb und sich kurz unauffällig umschaute.
Darius lächelte und musste sich beherrschen, ihm nicht um den Hals zu fallen.
„Guten Morgen, Alfred“, sagte er zärtlich.
Einige Momente standen sie einander einfach nur gegenüber und keiner von beiden getraute sich auch nur ein knappes Händeschütteln, obwohl Darius sich sicher war, dass er in Alfreds mit einem Mal wieder viel lebendiger wirkenden Augen dieselbe Sehnsucht ablesen konnte, die er selbst empfand.
Kurze Zeit sprach keiner von beiden ein Wort.
Dann nickte Darius mit dem Kopf in Richtung Tür und Alfred folgte ihm zögerlich nach innen.
„Möchtest du auch einen Kaffee trinken?“, fragte er schließlich und Alfred lachte kurz auf mit einem Blick auf die Tasse.
„Ich wusste gar nicht, dass es hier eine Alternative zu den Pappbechern aus dem Automaten gibt“, scherzte er, „Aber ich glaube, mit derartigen Privilegien würde ich mich bei meinen Kollegen eher unbeliebt machen!“
Darius lachte verlegen und als sie den Saal erreichten, standen sie beide etwas ratlos vor dem Pult und Alfred lächelte schief.
Nach einem kurzen Blick zur geschlossenen Tür, die jedoch jeden Moment aufgehen könnte, sollte noch jemand früher als erwartet eintreffen, sah er Darius in die Augen und meinte leise, „Diese Sache mit der Trennung von Arbeit und Privatleben ist schwieriger als ich dachte.“
Seine Lippen zuckten zu einem schiefen Lächeln und Darius hob zaghaft seine Hand, als er einen Schritt näher trat.
Unverrichteter Dinge ließ er sie sinken und nickte hastig.
„Du hast vollkommen recht“, stimmte er ihm zu.
Alfred sah ihn so tief und durchdringend an, dass Darius sich beinahe selbst vergaß. Aber das hier war verdammt nochmal der Probensaal und die zwischenmenschlichen Konsequenzen, hier in vertrauter Zweisamkeit erwischt zu werden, wollte er sich nicht einmal ausmalen.
Von dem Spott abgesehen, den in diesem Fall sicherlich vor allem Alfred über sich ergehen lassen musste, würde es unter Umständen noch viel weiter reichen.
Darius lief ein Schauer über den Rücken.
Und trotz dieser Gedanken war es nicht einmal komplett unangenehm, wenn Alfred ihn so ansah, wie er es gerade tat.
Darius konnte sich nicht davon abhalten, noch einen Schritt auf ihn zuzutreten.
Alfred ging instinktiv einen Schritt zurück, während jedoch seine Finger sanft über Darius‘ Hand streiften.
Immer wieder blickten sie sich um, aber die Tür bewegte sich nicht und auch waren vom Gang aus keine Schritte zu hören.
Wieder ein kleines Schrittchen in Alfreds Richtung, diesmal berechnender, denn Darius hatte schon erwartet, dass er wieder vorsichtshalber ein bisschen zurückweichen würde – und nun fand er sich verlegen mit dem Rücken zum Vorhang, hinter dem der Flügel mit dem altersschwachen Hocker stand.
„Was hast du vor?“, fragte Alfred, als Darius der sanften Berührung nachgab und seine Hand nahm, „Sagtest du nicht selbst, dass wir-“
Darius legte den Finger auf Alfreds Mund und ersetzte ihn kurzerhand durch seine Lippen. während er ihn mit sich hinter den Vorhang zog.
Mit einem leisen „Mhm“ legte Alfred seine Arme fest um ihn und schmolz geradezu gegen ihn in den zärtlichen Kuss.
Einige sanfte Berührungen ihrer Lippen später, löste sich Alfred atemlos.
„Wir wollten doch- ich meine, wir wollten eben nicht-“, hauchte er noch fast alarmiert, aber Darius vergrub die Hand in seinem Haar und zog ihn wieder zu sich in einen weiteren heißen Kuss.
„Ich habe dich vermisst“, seufzte er selig.
Alfreds Hände hielten sich zittrig an seinem Rücken fest und so sehr er auch protestierte, spürte man nichts von irgendeinem Widerwillen in der Art, wie er Darius weiterhin küsste und ebenfalls nicht von ihm ablassen konnte.
„Ganz schlechte Idee“, flüsterte er in den nächsten Kuss hinein.
Darius schmunzelte gegen seine Lippen.
„Furchtbar schlechte Idee“, wisperte Alfred, schaffte aber auch nicht, auf seine Worte irgendwelche anderen Taten folgen zu lassen.
Darius legte eine Hand in seinen Nacken und küsste ihn nur noch inniger.
Als sie es endlich schafften, sich wieder voneinander zu lösen, schnappten sie beide erst einmal einige Momente nur nach Luft.
Darius spürte die Hitze nicht nur in seinen Wangen, Alfred sah ihn mit glänzenden Augen an und mit einem leisen Seufzen küsste Darius noch einmal zart seine Lippen, dann seine Nasenspitze zu diesem weiteren kleinen Abschied.
Alfred räusperte sich und fuhr sich mit hochrotem Kopf durch die wilden Locken, die nun noch um einiges unordentlicher aussahen als sonst, als sie sich beide wieder durch den Vorhang auf die andere Seite schoben.
Sie blickten sich im leeren Saal hastig um, sahen sich einander dann wieder kurz an und mussten beide lachen.
„Du bist unmöglich!“, beschwerte sich Alfred leise, aber seine Stimme klang ebenso zärtlich wie sein Blick liebevoll war.
Darius zuckte schmunzelnd mit den Schultern, „Ich sagte doch, dass ich schlecht darin bin, Berufliches und Privates auseinander zu halten!“
Einige Momente verflochten sich noch ihre Finger unauffällig ineinander, einige intensive Blicke tauschten sie noch aus.
Dann waren auf dem Gang Schritte zu hören und hastig lösten sie sich voneinander, wobei Darius zum Pult trat und Alfred ganz geschäftig in seinem Geigenkoffer kramte.
„Guten Morgen!“, meldete sich die erstaunlich fröhliche und gar nicht dünn und piepsig klingende Stimme von Jasper Sundström zu Wort.
Darius grüßte ihn und versuchte dabei professionell, gefasst und absolut nicht peinlich berührt zu wirken. Alfred wirkte weitaus souveräner, aber inwieweit das täuschen konnte, war Darius sich wiederum auch nicht sicher.
Jasper reichte ihm überaus höflich die Hand zur Begrüßung, dann wuselte er auch gleich zu seinem Platz weiter, um sich an Alfred zu wenden. Darius konnte gar nicht anfangen, das entstehende Gespräch zu belauschen, so laut rauschte das Blut in seinen Ohren.
Kurze Zeit nach Jasper trat dann auch Erwin Gebauer in den Raum, damit war es dann mit der Ruhe sowieso dahin.
„Erwin!“, rief Jasper freudig.
Gebauer lachte, „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen!“
Darius blätterte schmunzelnd in seinen Unterlagen, wünschte Gebauer ebenfalls einen guten Morgen und während nach und nach dann auch die übrigen Musiker eintrudelten, war für alles andere sowieso keine Zeit mehr.
Es war auch nicht weiter wichtig.
Darius verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran, dass er wohl wirklich mehr Glück als Verstand hatte, dass niemand früh genug eingetreten war, dass sie in die seltsame Situation gekommen wären, gemeinsam mit rot angelaufenen Gesichtern und ganz außer Atem hinter dem Vorhang aufzutauchen.
Irgendwie war es zutiefst unvernünftig und über alle Maßen unangebracht.
Nervenkitzel war normalerweise auch nichts, worauf er in seinem Leben besonderen Wert legte, doch in diesem Moment fühlte er sich so durch und durch glücklich, dass es auch nicht nur am Adrenalin liegen konnte.
Keine Angst, bei intimen Handlungen erwischt zu werden, könnte in ihm so viel Herzklopfen auslösen wie Alfred selbst es zu tun vermochte.
Es war vielleicht töricht, die Abmachung gleich am ersten Tag ein wenig zu biegen und zu dehnen, doch in diesem Moment fühlte Darius sich so lebendig und beschwingt, dass er daran keinen einzigen klaren Gedanken verschwendete.
Das einzige, was in seinem Bewusstsein überhaupt noch Belang hatte, war das hintergründige, immer noch etwas verlegene Lächeln der ganz besonderen Person, die auf dem ersten Stuhl saß.
Darius schaltete hastig sein Telefon aus, sah auf die Uhr und nickte sich selbst zu, um alle ablenkenden Gedanken nun doch loszulassen.
Aber während er schließlich die Türen zum Saal schloss, seine Unterlagen zur Hand nahm und sich räusperte, ruhte immer noch ein bisschen schüchtern und ganz verträumt der Blick von Alfred Wunderlich auf ihm.
Theresa hatte ihm ja explizit geraten, er sollte lieber an Alfred denken.
Und das tat er nun auch.
Ganz gleich, ob er nun sowieso in seiner Gegenwart war und ganz egal, dass sie zwar nur wenige Meter aber doch so viele Vorurteile in der Welt und die situationsbedingten Probleme voneinander trennten.
Woran sollte er denn sonst denken, als an Alfred? Alfred, dem er immer mehr und mehr mit Haut und Haaren verfallen war.
Einfach nur Alfred.
Sein Alfred.
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